11-12/2020 2020 – EIN VERLORENES JAHR? SEIT  1946 5,– Euro P.b.b. Abs.: Gesellschaft zur Herausgabe der Zeitschrift ZUKUNFT,  Kaiserebersdorferstrasse 305/3, 1110 Wien, MZ 14Z040222 M, Nr. 11-12/2020 Marx 2020 Birgit Gasser 2020 – Ein Rückblick Florian Rainer Solidarität der Sterblichen Erkan Osmanović „Die Neoliberalen haben jetzt mal Sendepause!“ Katharina Ranz


  EDITORIAL Das Jahr 2020 wird in der Retrospektive wohl als Corona-Jahr in Erinnerung bleiben. Durch die beiden Lockdowns  wurden annähernd alle Staatsbürger*innen und Institutionen  auf neue Verhältnisse zwischen privat und öffentlich, zwi-schen Nähe und Distanz oder zwischen analog und digital  verwiesen. Gleichzeitig steht – gleichsam hinter dem Virus  – eine der gravierendsten Wirtschaftskrisen der Menschheits- geschichte vor Augen, wodurch die grundlegende Instabi-lität unserer Wirtschaftsordnung erneut zur Debatte steht.  Deshalb hat die Redaktion der ZUKUNFT sich entschlossen  mit der Doppelausgabe 11 und 12/2020 dazu einzuladen, dieses mehr als schwierige Jahr zum Gegenstand der Analyse und Betrachtung zu machen. Dabei leitete uns die Frage, ob  wir bereits jetzt das Jahr 2020 als verlorenes Jahr bezeich- nen können. Es freut uns deshalb, dass eine bemerkenswerte  Zahl von Autor*innen auf unsere Themenvorgabe reagiert  hat und wir deshalb ein breit aufgestelltes Heft präsentieren können. Dies beginnt mit dem Artikel von Birgit Gasser, die das Jahr 2020 aus marxistischer Perspektive betrachtet und da-bei deutlich macht, wie die globalen Reaktionen auf die  COVID-19-Pandemie zeigen, dass die Unmöglichkeit eines  humanen, „sozialen“ Kapitalismus auf allen Ebenen eine Systemkritik hervortreibt. Diese Kritik ist schlussendlich ohne die Kapitalismuskritik Marxens nicht denkmöglich. Gasser widmet sich dabei dem Trickle-Down-Effekt ge-nauso wie der Verelendung im globalen Maßstab und zeigt u. a. wie die viel zu wenig anerkannte (unsichtbare) Arbeit  von Pfleger*innen zum Symptom einer Gesellschaft wird,  die in den letzten Jahrzehnten das öffentliche Eigentum  (und mithin auch das Gesundheitssystem) deregulierte und  privatisierte. Ganz in diesem Sinne fragt auch Benjamin Enzmann da- nach, ob wir mit der Corona-Krise den endgültigen Zusam-menbruch des neoliberalen Wirtschaftssystems vor Augen haben und mithin ans Ende seiner Geschichte gekommen  sind oder ob diese Krise nicht auch neue Formen der Soli-darität mit sich gebracht hat. Der Autor rekapituliert dabei  u. a. das Superwahljahr 2020 und die Black Lives Matter-Be- wegung und stellt – im Blick auf die Linke, die Sozialdemo- kratie und den demokratischen Sozialismus – eine kritische  Analyse des politischen Systems Österreichs angesichts der  Krise vor Augen. Dies führt zu der einfachen Frage, ob wir  einen Weg zu alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftsfor-men finden, um aus der gesellschaftlichen Erschütterung des  Jahres 2020 zu lernen. Angesichts von Home Office und Distance Learning steht  auch der Umstand im Raum, dass wir es mit einer tiefgreifen-den Bildungskrise zu tun hatten. Deshalb präsentieren wir mit dem Beitrag von Anton Tantner, der für die IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen tätig ist, eine eingehende Analyse der derzeitigen Probleme im Rahmen der österreichischen  Bildungslandschaft. Basis für diesen Beitrag ist eine Rede, die  der Autor anlässlich der Demonstration ADVENT, ADVENT, DIE  #BILDUNGBRENNT am 19. Dezember 2020 im Wiener Ressel- park gehalten hat, um erneut auf die mehr als schwierige Lage  von prekär Beschäftigten aufmerksam zu machen, die gerade  2020 nur schwer zu den klassischen Methoden des Kampfs um  soziale Verbesserung greifen konnten. 2020 – Ein verlorenes Jahr? ALESSANDRO BARBERI UND THOMAS BALLHAUSEN


 ZUKUNFT | 3    Auch Katharina Ranz rekapituliert in ihrem Beitrag das ver- lorene Jahr 2020 und analysiert dabei – angesichts der Lock-downs – die Auswirkungen auf das österreichische Bildungs- system. Dabei fragt sie im Blick auf die Wiener Koalition von  SPÖ und Neos nach der aktuellen Rolle des (Neo-)Libera- lismus in Zeiten der Krise. Der Beitrag macht dabei deut-lich, dass Home Office und Distance Learning uns vor neue Herausforderungen stellen und das Problem aufwerfen, wie unsere Gesellschaft nun mit der mangelnden Medienkom-petenz umgehen könnte. Dabei stehen die Problemlagen der  sozialen Ungleichheit vor allem angesichts des Digital Divide  vor Augen. Ganz in diesem Sinne hat sich der Bildungswissenschafter  Florian Rainer dann die Mühe gemacht, im Sinne einer Chronologie der Ereignisse das Jahr 2020 aus bildungspoliti- scher Perspektive zu rekapitulieren. So steht eine historische  Textur vor Augen, in der die Entwicklung der Pandemie  mehrfach mit (bildungs-)politischen Ereignissen korreliert  wird, um für die sozialen und ökonomischen Problemlagen  der Gegenwart zu sensibilisieren. Rainer ist es darum zu tun, die gravierenden Ungleichgewichte im Bildungssystem auf-zuzeigen. Diese Chronologie steht dabei vor dem Hinter-grund dessen, was gerade nicht passiert ist. Denn, wie der  Autor mehr als deutlich macht, es hätte auch anders sein  können. All diese Problemfelder der Bildungspolitik werden dann mit  dem Beitrag von Karim Hallal abgerundet, der mit seinem  Rückblick auf das (verlorene) Jahr 2020 zusammenfasst, wel- che Probleme sich durch die COVID-19-Pandemie für Studie-rende ergeben haben und nach wie vor ergeben. Denn wenn die Pandemie nicht nur die körperliche und geistige Gesund-heit massiv bedroht, sondern auch die wirtschaftliche Exis-tenz vieler Menschen zerstört hat, steht angesichts der uni- versitären Abläufe die Frage im Raum, ob wir aus der Krise  lernen  wollen und können. Hallal diskutiert dabei, wie etwa  Videokonferenzsysteme neue Formen der solidarischen Kom- munikation ermöglichten, es aber gleichzeitig zu problemati-schen Formen der sozialen Distanz kam. Die Psychoanalytikerin Ute Müller-Spieß legt dann mit ihrem prägnanten Essay Terrorist sein eine persönliche Annä-herung an die Psyche von Attentätern vor. Ausgehend von  den tragischen Ereignissen vom 2. November 2020 in Wien entwickelt sie eine philosophisch unterfütterte Durchleuch-tung der fatalen Verbindung von Ideologie und vermeintlich legitimiertem Gewaltakt, die sich klassischen Deutungsmus-tern zu entziehen scheint. Ihr Text arbeitet richtigerweise die  Notwendigkeit eines umfassenden Verstehens heraus, das glei- chermaßen die eigene Position bzw. (fachliche) Perspektive als auch die Kontexte von Gemeinschaft (z. B. Familie, Ge-sellschaft usw.) berücksichtigt und kritisch reflektiert. In seinem feinfühligen Beitrag Solidarität der Sterblichen führt  dann auch der Literaturwissenschaftler Erkan Osmanović  Informationen aus unterschiedlichsten Disziplinen über das Jahr 2020 zusammen. Seine bestechende Schlussfolgerung be- steht in der Notwendigkeit, Solidarität in ihrer Komplexität  neu zu perspektivieren: Angesichts von Klimawandel, Corona und den menschlichen Verlusten einer allgemeinen Krisen- stimmung ist es nur schlüssig, dass der Autor unter Rückgriff auf die Arbeiten von Constantin Castoriadis ein verstärktes  Bewusstsein für unser aller Fragilität im Denken einer inklu- siven Gemeinschaft einfordert. Die unbequeme Berücksichti-gung der eigenen Endlichkeit wird hier als Aufruf zur Verant- wortung für ein gelungeneres Miteinander lesbar. Im Gespräch zwischen Augusta Laar und  Thomas Ball- hausen  geht es um Gedichte über Planeten und Musik – und noch viel mehr. Laar, die als Autorin, Veranstalterin und DJ international arbeitet, erlaubt Einblicke in ihre medienüber-greifenden Recherche- und Arbeitsprozesse; sie berichtet nicht nur von den Herausforderungen für die Kunst- und  Kulturschaffenden, sondern auch von der Entwicklung mög-licher positiver Perspektiven. Textauszüge aus ihrer aktuellen  Veröffentlichung  Avec  Beat begleiten den Austausch, der die  im Corona-Jahr medial überaus prominenten Kategorien Pro-duktivität und Erfolg kritisch mitverhandelt. Laar erweist sich mit ihren Antworten und Ansätzen in der Analyse von 2020 einmal mehr als aufmerksame, sensible Künstlerin.


Anlässlich des 25. Todestages des deutschen Dramatikers    Heiner Müller berichtet die Theater- und Filmwissenschaftlerin  Hemma Prainsack in der Folge von ihrer unausgesetzten  Auseinandersetzung mit seinen Schriften. In einer Zusam- menschau aus dramatischen Arbeiten, Statements und nach-gelassenen Veröffentlichungen gelingt ihr die Nachzeichnung einer produktiven Lektüre, die ganz vorsätzlich mit Müller das  Krisenjahr 2020 durchleuchtet. Im Zentrum ihrer Ausführun- gen steht die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der  Pandemie auf Kunst, Kultur und Bildung sowie der Umstand,  dass Heiner Müllers Werk in der Lage ist, überraschend aktu-elle Antworten und Einsichten zu bieten. In ihrer exklusiv für die ZUKUNFT geschriebenen Erzählung  Abend mit Polly erkundet die Wiener Erfolgsautorin Daniela  Chana  in der Folge die Frage nach der literarischen Dar- stellbarkeit von Zeit und Zeitverläufen in Ausnahmesituati- onen. Wie auch schon in ihrem vielgelobten Gedichtband  Sagt die Dame spürt sie schonungslos, doch auch mit schrägem  Humor und Liebe zum nur vermeintlich vernachlässigbaren Detail, der Möglichkeit authentischer Begegnung zwischen Menschen nach. Ihr Text ist eine Auseinandersetzung mit Kommunikation angesichts limitierter Bewegungs- und Ent-faltungsmöglichkeiten, mit zu hinterfragenden Vorstellungen  von Normalität und weiblicher Identität. Einen herzlichen Dank wollen wir erneut an dieser Stelle  Dobroslav Houbenov aussprechen, der uns zum wieder- holten Male eine äußerst anregende Bildstrecke zur Verfü-gung gestellt hat. Die Serie Printing Times markiert vom Co- ver weg ein Spiel mit geometrischen Formen, die durch die  Bearbeitung von (beschädigten) Alltagsgegenständen ent- standen sind, wie der Künstler auch in einem kurzen Beitrag am Ende dieser Ausgabe erklärt. Den Abschluss macht dann  eine Rezension von Alessandro Barberi, der den politisch äußerst relevanten und 2020 erschienenen Roman Aufruhr  von Michael Scharang gelesen hat, um der Möglichkeit ei- ner österreichischen Revolution in der ZUKUNFT Raum zu geben. Alles in allem bieten sämtliche Beiträge dieser Doppelaus- gabe die Möglichkeit das Thema 2020 – Ein verlorenes Jahr? aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten, um auch im  Ausblick auf die ZUKUNFT verschiedene Problembereiche im  Umfeld der Politik diskutabel zu machen. Wir hoffen daher,  dass die Leser*innen der ZUKUNFT sich in der breiten Palette der hier präsentierten Beiträge wiederfinden und laden Sie auch herzlich dazu ein, uns im Jahr 2021 auf dem Weg in die  ZUKUNFT zu begleiten … ALESSANDRO BARBERI ist Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent.  Er lebt und arbeitet in Wien und Magdeburg.  Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte   online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/ THOMAS BALLHAUSEN lebt als Autor, Kulturwissenschaftler und Archivar in Wien und Salz- burg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig.


Inhalt IMPRESSUM Herausgeber: Gesellschaft zur Herausgabe der Zeitschrift »Zukunft«, 1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3 Verlag und Anzeigenannahme: VA Verlag GmbH, 1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3, office@vaverlag.at Chefredaktion: Caspar Einem, Ludwig Dvořak (geschäftsführend) Redaktion: Alessandro Barberi, Bernhard Bauer, Elisabeth Felbermair, Senad Lacevic, Philipp Oberhaidinger, Armin Puller, Thomas Riegler, Michael Rosecker, Jennifer Sommer, Artur Streimelweger, Anna Vukan Gastredakteur: Thomas Ballhausen Cover: Dobroslav Houbenov – Redprint 1, © Dobroslav Houbenov 6     Marx 2020    VON BIRGIT GASSER 10    Zwischen Zoom und Elend!    VON BENJAMIN ENZMANN 14    Gegen Prekarität –      für gute Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft     VON ANTON TANTNER 18    „Die Neoliberalen haben jetzt mal Sendepause!“    VON KATHARINA RANZ 20    2020 – Ein Rückblick aus      bildungspolitischer Perspektive     VON FLORIAN RAINER 26    Lockdown im Studium    VON KARIM HALLAL 28    Terrorist sein    VON UTE MÜLLER-SPIESS 32    Solidarität der Sterblichen    VON ERKAN OSMANOVIĆ 40    Gedichte über Planeten und Musik    VON AUGUSTA LAAR & THOMAS BALLHAUSEN 46    „Kunst ist eine Gefahr für das Bestehende“    VON HEMMA PRAINSACK 48    Abend mit Polly    VON DANIELA CHANA 52    Notizen zu  Printing Time     VON DOBROSLAV HOUBENOV 54    Michael Scharangs Aufruhr    VON ALESSANDRO BARBERI DOBROSLAV HOUBENOV – REDPRINT 1103 x 103 cm, 2015 © DOBROSLAV HOUBENOV


 6 | ZUKUNFT  BIRGIT GASSER  analysiert das Jahr 2020 aus marxistischer Perspektive und widmet sich dabei dem Trickle-Down-Effekt  genauso wie der kapitalistischen Verelendung und der viel zu wenig anerkannten (unsichtbaren) Arbeit von Pflegerinnen. Marx 2020 MARX 2020  VON BIRGIT GASSER I. EINLEITUNG Eine Seuche geht um auf der Welt – wie ein Gespenst  sucht es Nation um Nation heim. Das Gespenst des Corona-Virus. Schon die Finanzkrise rund um 2008 (und zahlreiche vor ihr) zeigten die Unmöglichkeit eines humanen, „sozialen“ Kapitalismus und bestätigten die Kritik der Marxschen Analy-se am vorherrschenden Wirtschaftssystem. Die Geschehnisse rund um COVID-19 zeigen dies noch einmal schneller, här-ter, zugespitzter. Denn im Laufe des Jahres 2020 war schnell ersichtlich,  dass die Pandemie und vor allem die wirtschaftlichen Folgen die üblichen Gruppen hart treffen: Geringverdienende, pre-kär Beschäftigte, Frauen, Migrant*innen, anderweitig gesell-schaftlich marginalisierte Personen. Da die fatalen Folgen ins-besondere für diese Gruppen so klar absehbar waren und auch in der Öffentlichkeit von Anfang an stark thematisiert wur-den, ist es umso verwunderlicher, dass von politischer Seite wenig und spät darauf reagiert wurde. Schnelle Hilfe gab es vor allem für Großkonzerne und die traditionellen österrei-chischen Lobbys wie den Tourismusverband – also für die, die bereits vor der Corona-Krise gegenüber der Durchschnittsbe-völkerung privilegiert waren. II.  TRICKLE-DOWN-EFFEKT, DEKADENZ UND  GLOBALE KONZERNE Dem zugrunde liegt bekannterweise die tiefe Überzeu- gung der Konservativen, dass durch den Trickle-Down-Ef-fekt der Wohlstand von oben auch auf den Pöbel herabreg-net. Was wir Linken schon lange wissen, ist nun auch in der konservativen Wirtschaftswissenschaft durchgesickert: der Trickle-Down-Effekt existiert im realen Leben nicht. So ver-öffentlichte die London School of Economics vor Kurzem eine  umfassende Studie, in der noch einmal deutlich bewiesen wird, wie sich Steuerbegünstigungen für Reiche auf den Rest der Bevölkerung auswirken: nämlich gar nicht. Trotzdem führt diese festsitzende Überzeugung dazu, dass  bereits im Frühjahr die ersten Mengen an Hilfsgelder bedin-gungslos an z. B. die AUA, Swarovski oder ATB ausgezahlt wur-den, während zahlreiche Kleinunternehmen und Arbeitskräfte monatelang in der Luft hingen. Auch auf darauffolgende Kün-digungswellen oder Abwanderungsvorhaben der mit Steu-ergeld geretteten Konzerne reagierte die k. u. k. Regierung (Kurz & Kogler) kaum. Die Kosten der Krise können also, wie in bisherigen Krisen auch, ungestraft auf die Arbeiter*innen abgewälzt werden, die nun zu Hunderttausenden in existen-ziellen Notlagen stecken, ihre Mieten kaum zahlen und ihre Familien nicht versorgen können. Parallel dazu kann man auf den Instagram-Accounts der Familie Swarovski mitfiebern, in welcher Villa und an welchem idyllischen Sandstrand sich der nun dritte Lockdown am besten überstehen lässt. Diese Zuspitzung der Ungerechtigkeit, der Verschlechte- rung von Arbeits- und Lebensbedingungen und der Massen-arbeitslosigkeit auf der einen und der Dekadenz und Turbo-akkumulation auf der anderen Seite hat sich bereits in den letzten Jahren und Jahrzehnten aufgebaut, die Pandemie be-schleunigt diese Dynamik noch zusätzlich. Bestes Beispiel für Turboakkumulation und Ungerechtigkeit ist sicherlich der Konzern Amazon. Bereits vorher marktbeherrschend bei den Konsumierenden im Westen, hat das Großunternehmen im Jahr 2020 rund 30 % höhere Profite als 2019 erzielt, allein im 3. Quartal waren das rund 96,15 Milliarden Euro. An den be-kanntermaßen unmenschlichen Arbeitsbedingungen hat sich nichts geändert und die Arbeitenden haben nach wie vor kei-nen Anteil am Profit. Durch steigende Arbeitslosigkeit steigt 


auch der Druck auf die Arbeitnehmer*innen, sich den Bedin-gungen bei Amazon weiterhin zu beugen, verständlicherwei-se möchte niemand während einer globalen Gesundheits- und Wirtschaftskrise arbeitslos sein. III.  KRISE, KAPITALISMUS UND VERELENDUNG Der  COVID-19Virus ist zwar neu, die Krisenhaftigkeit  von kapitalistischen Systemen allerdings nicht. Ob die Märkte nun aufgrund von realen Geschehnissen (z. B. einer Pandemie und deren Folgemaßnahmen) oder aufgrund von künstlich er-schaffenen Blasen (z. B. durch Immobilien- oder Rohstoffspe-kulationen) einbrechen, für marxistische Analytiker*innen ist diese Dynamik nichts Überraschendes und auch nichts, wo-ran der Kapitalismus zwingend zugrunde gehen muss. Denn schon die Überzeugung davon, in der besten aller mögli-chen Welten und dem gerechtesten aller Wirtschaftssysteme zu leben, hält die Entscheidungsträger*innen (die gleichzei-tig Nutznießer*innen dieses Systems sind) in diesem Kreis-lauf gefangen. Dabei ist die Verelendung infolge der aktuellen Krise ins- besondere in den USA greifbar: mit Ende des Jahres sind ca. 40 Millionen Menschen in unmittelbarer Gefahr, in die Ob-dachlosigkeit zu rutschen, da sie keine Miete oder Hypothe-ken mehr bezahlen können. Die Arbeitslosenquote ist zwar rückläufig, gleichzeitig sind die Prognosen für die nächsten Jahre düster, denn viele der wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zeigen sich erst mit der Zeit. Verelendung be-trifft nicht nur die wirtschaftlichen Verhältnisse der einzelnen Menschen, sondern auch den steigenden psychischen Druck in einer immer schneller werdenden Welt, schlechtere Le-bensbedingungen, steigende Lebenskosten bei stagnierenden Löhnen, sinkende soziale Mobilität und Regierungen, die die Verantwortung für ein gutes Leben mehr oder weniger aus-schließlich beim Individuum verorten.  Die Lebenserwartung ist in den USA bereits seit einigen  Jahren rückläufig, was nicht zuletzt an der schlechten medi-zinischen Versorgung vieler Menschen durch die Profitori-entierung von Gesundheitsleistungen liegt. Auch dabei sind dieselben, eingangs erwähnten Gruppen besonders hart be-troffen. Alle diese Tendenzen waren bereits vor 2020 deutlich vorhanden, auch hier hat die sogenannte Coronakrise beste-hende Dynamiken nur verstärkt. In diesem Zusammenhang hätte bereits vor Jahren der politische Wille das Elend der Be-troffenen aufheben können. IV.  PFLEGERINNEN, SKIPISTEN UND  TESTUNGEN Die medizinische Versorgung ist in Österreich zwar ver- gleichbar besser, jedoch wird auch diese seit Jahren durch die „Logik“ der Wirtschaftlichkeit und Ökonomisierung zer-mürbt. Von einer Pflegeoffensive und -reform wird stets nur geredet, gleichzeitig verlässt man sich weiterhin auf Pflege-rinnen (ja, Frauen) aus den Nachbarländern, die diese beruf-liche Belastung auch während einer Pandemie zu denselben schlechten Arbeitsbedingungen auf sich nehmen. Im Budget-voranschlag 2021 werden rund 100 Millionen bei den Spi-tälern eingespart, es gibt weder Geld für eine Ausbildungs-offensive oder auch nur den Hauch von ernstzunehmenden Lösungen, um den horrenden Notstand an medizinischen Fachpersonal aufzufangen. Weiters ist es nicht logisch argumentierbar, warum Skipis- ten eine dermaßen hohe Priorität für die österreichische Be-völkerung haben, dass diese im Gegensatz zu Gastronomie, Einzelhandel, Kulturstätten usw. während des 3. Lockdowns geöffnet wurden. Die Fetischisierung des Skis zum identi-tätsstiftenden Moment für die urösterreichische Seele mag wohl wichtiger sein als die wirtschaftliche Existenz zahllo-ser Kleinunternehmer*innen und Arbeiter*innen in den ge-schlossenen Branchen oder auch wichtiger als das Bedürfnis nach sozialen Kontakten (die abseits der Skipisten stark einge-schränkt waren). Ebenso seltsam mutet die Inszenierung der Testungen an,  „wir testen soviel es geht“ wurde zum Synonym für „wir ge-hen erfolgreich mit dieser Krise um“. Ungesagt blieb, dass Testen zwar wichtig und richtig ist, aber ein funktionierendes und gut finanziertes Gesundheitssystem nicht ersetzen kann und stets nur Momentaufnahmen und statistische Erkenntnis-se bringt.  Diese statistischen Erkenntnisse wurden monatelang bei  den fast schon täglichen Pressekonferenzen zur Schau ge-stellt. Ähnlich einer katholischen Prozession pilgerten die Journalist*innen, Expert*innen und allen voran die Regie-rungsmitglieder ins Bundeskanzleramt, um sich in der immer-gleichen Zeremonie die Litaneien über die neuesten Zahlen, geänderten Maßnahmen und die nächsten, „entscheidenden Wochen“ anzuhören.  Statt dem „Amen“ bleibt aber zum Schluss ein „Bleiben  Sie gesund!“.  ZUKUNFT | 7 


 8 | ZUKUNFT  MARX 2020  VON BIRGIT GASSER V. CONCLUSIO Von Verelendung, Turboakkumulation, Ökonomisie- rung und Fetischisierung bietet die Corona-Krise im Jahr 2020 also zahlreiche Beispiele für marxistische Analysen. Aber, wie wir wissen, kommt es nicht nur auf das Analy-sieren und Interpretieren der Welt an, sondern darauf sie zu verändern. BIRGIT GASSER ist Öffentlichkeitsarbeiterin bei der Stadt Wien,   Vorsitzende der Jungen Generation der SPÖ Hernals und   schwankt stets zwischen Zynismus und optimistischer Utopie.


 ZUKUNFT | 9  Dobroslav Houbenov –  Blackprint 2 130 x 28 cm, 2015 © Dobroslav Houbenov DOBROSLAV HOUBENOV


 10 | ZUKUNFT  Auch der Beitrag von  BENJAMIN ENZMANN  untersucht rückblickend die einschneidenden Ereignisse des Jahres  2020 und betont, dass die österreichische Linke nur dann eine Chance hat, wenn sie sich im Blick auf die ZUKUNFT organisiert. Zwischen Zoom und  Elend!  ZWISCHEN ZOOM UND ELEND!  VON BENJAMIN ENZMANN I. EINLEITUNG 2020 – Ein Jahr der „neuen Normalität“. Zurückblickend  scheint die Welt, welche noch frei von der Pandemie war, sehr fern … eine für viele Menschen entrückte Vergangen-heit, ein Ort, der nur zu gut seine Abgründe verbergen konn-te. Als ab März 2020 unser gewohntes Leben unterbrochen und angehalten wurde, begannen bereits Diskussionen über die politischen und gesellschaftlichen Folgen der Pandemie. Ein nationaler Schulterschluss? Das Ende unserer Art Poli-tik zu gestalten? Der endgültige Zusammenbruch des neoli-beralen Wirtschaftssystems? Diese Liste ließe sich ins Endlo-se weiterführen. Die anfängliche Hoffnung auf eine sich neuformierende  Solidargemeinschaft scheint angesichts der derzeitigen Situa-tion geradezu absurd, auch eine Abkehr von reinem Profit-denken oder gar einem lauten Ruf nach einer wirtschaftlichen Neuordnung sind nur noch weiter in die Ferne gerückt. Da-bei wäre gerade ein kollektives Erinnerungsgeschehen und das Sichtbarwerden der sozialen und wirtschaftlich weit ausein-andergehenden Schere doch Nährboden für einen gemeinsa-men, progressiven Veränderungswillen. II.  DIE SEHEPUNKTE DES CHLADENIUS UND  DAS JAHR 2020 Eine Antwort auf das Nichtentstehen einer neuen Ge- sellschaftsbewegung, die solidarisch, sozialistisch und kul-turell geprägt ist, könnte die Geschichtstheorie von Johann Martin Chladenius (1710–1759) bieten. In seinem Werk Ein-leitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schrif- ten postuliert er die Idee der „Sehepunkte“. Ein geschicht-liches Ereignis wird durch die Rezipient*innen immer aus einem subjektiven Sehepunkt wahrgenommen. Dieser darf aber nicht als rein topografischer Punkt verstanden werden, sondern vielmehr als eine Darstellung seines aktuellen sozi-alen „Seins“. Das Ideal stellt dabei die „unparteiische“ bzw. „wahre Erzählung“ dar, eine Darstellung „der Sache“, die auf vorsätzliche Verdrehung bzw. Verdunkelung verzich-tet. Für eine solche Erzählung müssen alle Quellen berück-sichtigt werden und diese „auch so geordnet und verbunden sein, dass nicht durch die Zusammenfügung irrige Vorstel-lungen veranlasst werden“. Mit diesem Ansatz blicken wir nun auf die Welt und Ös- terreich im vergangen Jahr 2020 zurück. Dehnen wir hierfür die Sehepunkte auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und politischen Gruppierungen aus. Wir alle mö-gen zwar von der Pandemie betroffen sein, doch die Rezepti-on der Ereignisse ist eine komplett andere. III.  SEHEPUNKT: WAHL(EN) UND BLACK LIVES  MATTER Den ersten Sehepunkt bietet das weltweite Superwahljahr  2020. Neben der für uns so wichtigen Wien-Wahl, tobt(e) ein verbissener Kampf um das Weiße Haus. Gleichzeitig bil-deten sich enorme gesellschaftliche Dynamiken, der von den USA ausgehenden, mittlerweile weltweiten Black-Lives-Matters-Bewegung (BLM) stehen die rechtsextremen und verschwö-rungstheoretischen Bewegungen gegen die Pandemie-Politik gegenüber.


 ZUKUNFT | 11  Welche Wichtigkeit die BLM-Bewegung als Kampfansage  an den institutionalisierten Rassismus gegenüber People of Co-lour auch in Österreich hat, zeigte die große BLM-Demonstra-tion in Wien im Juni 2020. Eine der Hauptorganisatorinnen war Mireille Ngosso, der im Herbst der sensationelle Ein-zug in den Wiener Landtag und Gemeinderat gelingen sollte. Diese Demonstration trotz Pandemie, wurde vor allem auch von jungen Leuten unterstützt und brachte mehr als 50.000 Menschen auf die Straße. Doch nach dem zivilgesellschaftli-chen, solidarischen Aufschrei und Aufzeigen der Lebensrea-litäten von People of Colour entstand der Eindruck – der Sehe-punkt – der politischen Linken, dass die Arbeit getan und die moralische Pflicht erfüllt sei. Eine Momentaufnahme ersetzt leider kein permanentes, geschlossenes Auftreten gegen Poli-zeigewalt und staatliche Willkür. IV.  SEHEPUNKT: DIE BÜRGERLICHEN UND DIE RECHTSEXTREMEN Auf der anderen Seite zeigen sich wiederum erschrecken- de Tendenzen im bürgerlichen Lager: Die Pandemie und ihre Folgen dienen als neues Zugpferd für rechtsextreme Grup-pierungen, Parteien und Regierungen. Gerade in Österreich erleben wir, wie die FPÖ sich als „impfkritische“ und „mei-nungsschützende“ Bürger*innenbewegung eine neue Da-seinsberechtigung schafft. Demgegenüber findet sich eine tür-kise Kurz-Partei, welche ihren brutalen neoliberalen Kurs mit grünem Antlitz fortsetzt, damit weiterhin bewusst die Gesell-schaft spaltet und einzig auf die eigene Klientel konzentriert ist. Die Umfragen bestätigen bedauerlicherweise diesen Kurs noch. Nach der Theorie der Sehepunkte wirkt dies nicht unlo- gisch: Viele, die dem Kurz-Zug seit 2017 folgen, fühlen sich noch abgeholt von den PR-Strateg*innen der Volkspartei und sehen in ihrem momentanen Habitus auch keine Alternati-ve. Noch wandern nur wenige wieder in das rechtsesoterische Lager der FPÖ ab. Doch die Zeit wird hier dem Sehepunkt der FPÖ in die Hände spielen. Die enttäuschten Wähler*innen be-kommen eine neuaufgesetzte Sündenpolitik, wo neben anti-semitischen Soros-Parolen und Xenophobie nun auch rechts-esoterisches Gedankengut prominent präsentiert wird. Dieser gefährliche Mix, es fällt schwer all diese Verirrungen als ein-heitliche Ideologie zu fassen, ist momentan der gordische Knoten der Linken in Österreich. V.  SEHEPUNKT: DIE SOZIALDEMOKRATIE, DIE LINKE UND DER SOZIALISMUS Denn aus dem sozialdemokratischen Sehepunkt heraus ist  wenig Erfreuliches passiert. Zwar konnte die Wien-Wahl mit einem grandiosen Ergebnis gewonnen werden, doch täuscht dieser Sieg über den momentanen Zustand der Partei hinweg. Wie die Rechten sich wieder zu sammeln beginnen, so un-eins steht die Linke da. Einerseits erwacht die Sozialdemokra-tie nicht aus Ihrem Schlaf und andererseits gelingt es nicht, die zersplitterte Linke zu einen. Die Pandemie ist/wäre auch die Möglichkeit für einen Neubeginn der sozialistischen Bewe-gung im Land. Durch Lockdowns und dem vorläufigen Ende unseres bekannten Konsumlebens wäre die Zeit überreif für eine Diskussion zu alternativen Wirtschaftssystemen und Ih-rer Umsetzung. Doch weder die Sozialdemokratie noch die Linke schaf- fen es, eine notwendige Systemkritik nachhaltig in die Gesell-schaft zu tragen. Der sozialdemokratische Sehepunkt wird da-durch von immer weniger Menschen in diesem Land geteilt. Beispielhaft hierfür sind die Kampagnen der Bundes-SPÖ zu den Corona-Hilfen, welche in der Öffentlichkeit nicht wahr-genommen wurden. Obwohl mit Pamela Rendi-Wagner eine fundierte Fachmedizinerin an der Spitze steht, konnte die Partei im Diskurs zur Pandemie-Politik kaum Akzente setzen. Es wird eine der entscheidenden Fragen des Jahres 2021 wer-den: Quo vadis, SPÖ? VI.  SEHEPUNKT: THERE IS AN ALTERNATIVE … (AFTER THE CRISIS) Der nun beginnende Verteilungskampf wird nicht nur Ös- terreich erschüttern, sondern auch weltweit das Elend und die Ungerechtigkeit manifestieren. Dagegen aufzutreten und deutliche politische Alternativen zu formulieren, wird die es-senzielle Aufgabe der Linken sein. Dabei wird Vieles darauf ankommen, ob eine gesellschaftspolitische Alternative zu un-serem Konsumdasein entworfen werden kann. Ist die Zeit der gesundheitlichen Krise erst vorbei, wird  die der wirtschaftlichen und sozialen erst wirklich beginnen. Die Impfung wird uns nicht die Welt von früher zurückbrin-gen, sondern wir werden in der harten Realität des „neuen“ Neoliberalismus und/als Neofeudalismus landen. Und es wird angesichts lokaler und globaler Macht- und Ressourcenkämp-fe notwendiger denn je sein, gemeinsam für eine „neue Zeit“ kämpfen.


 12 | ZUKUNFT  ZWISCHEN ZOOM UND ELEND!  VON BENJAMIN ENZMANN VII. CONCLUSIO Die hier in den Raum gestellten Sehepunkte nach Chlade- nius können uns hier als Werkzeug zum Verständnis von rech-ten Wähler*innen dienen und helfen, damit ein neues linkes Gesellschaftsnarrativ zu schaffen. Die anfangs erwähnte „wah-re Erzählung“ lässt sich nur transportieren, wenn sie verständ-lich die Widersprüche der breit gestreuten verdrehenden, aus Herrscherperspektive gelieferten Erzählungen aufzeigt und die verwirrenden rechtsesoterischen Erzählungen als sol-che entlarvt. Die verschwörungstheoretischen Fragen finden in den sozialen Medien nur Antworten in Form von wirren meist rechtsextremen Narrativen. Dem müssen die wirklichen Fragen und Antworten unserer Zeit entschieden entgegenge-halten werden. Dieser Text stellt insofern eine Einladung dar, sich mit Chladenius’ Konzept der Sehepunkte näher auseinan-derzusetzen, um andere Lebensrealitäten besser verstehen zu können. Denn es muss endlich ein Schlüssel gefunden wer-den, der einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs im Rahmen einer demokratischen Öffentlichkeit ermöglicht. In diesem Sinne ein Vorsatz für 2021: Organisiert Euch! BENJAMIN ENZMANN   ist Student der Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität  Wien, Funktionär der SPÖ Wien und in der SPÖ Döbling aktiv. Literatur: Chladenius, Johann Martin (1969): Einleitung zur richtigen Auslegung vernünf-tiger Reden und Schriften. Mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer, Düsseldorf: Stern-Verlag Janssen.Griesebner, Andrea (2019): Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einfüh-rung, Wien: Löcker.


 ZUKUNFT | 13   ZUKUNFT | 13  DOBROSLAV HOUBENOV Dobroslav Houbenov – Red- and Blackprint 178 x 39 cm, 2015 © Dobroslav Houbenov


 14 | ZUKUNFT  I. EINLEITUNG Ich spreche hier für die IG LektorInnen und Wissensar- beiterInnen, für einen Verein, der seit 1996 unter widrigen Bedingungen versucht, der in Prekarität gehaltenen Mehrheit der an den österreichischen Universitäten forschenden und lehrenden Personen eine Stimme zu geben. Unserer Einschätzung nach ist die geplante Änderung des  Universitätsgesetzes keine Katastrophe. Es ist vielmehr die Fortsetzung der Katastrophe, ihre Verschärfung und Zuspit-zung. Als Historiker und mittlerweile Zeitzeuge möchte ich festhalten, dass die geplante Änderung den seit Jahrzehnten eingeschlagenen Weg der Entdemokratisierung der österrei-chischen Universitäten und der Einschränkung eines selbstbe-stimmten Studiums fortsetzt; wer sich von der aktuellen Re-gierungskoalition anderes erhofft hat – ich persönlich zähle nicht dazu – wurde bitter enttäuscht. Seit dem Sparpaket von 1987 verschlechtern sich für Stu- dierende die Rahmenbedingungen ihres Studiums, als weite-re Etappen nenne ich nur das Sparpaket von 1996 sowie die Einführung des sogenannten Bolognaprozesses und die da-mit einhergehenden Zumutungen für Studierende. Jede die-ser Verschlechterungen war auch von massiven Protesten be-gleitet; grob gesprochen wird das Audimax der Uni Wien alle zehn Jahre besetzt, die dabei gemachten Erfahrungen des Wi-derstands, der Solidarität und des politischen Handelns prägen  die meisten Akteur*innen für Jahrzehnte. Die Demoparole von letzter Woche – „Sigi, besetz ma Audimax?“ – hält die-ses Wissen auf eine besonders charmante Weise wach. Welche Form die Audimaxbesetzung von 2020 und 2021 unter den Bedingungen einer Pandemie annehmen kann, das wird die jetzige Protestbewegung hoffentlich beantworten. Zweiter historischer Rückblick: Was die Möglichkeit    demokratischer Mitbestimmung an den österreichischen Uni-versitäten anbelangt, so war es das Universitätsorganisationsge-setz (UOG) 1993, mit dem die ersten Schritte der Entdemokrati-sierung eingeleitet wurden – eine ehemalige ÖH-Aktivistin und ehemalige Universitätsrätin, die Schriftstellerin Marlene Stre-eruwitz, hat dafür weit drastischere Worte gefunden. Das jetzt gültige Universitätsgesetz von 2002 hat diese Entdemokratisie-rung radikalisiert. Darin wurde festgeschrieben, dass in dem einen Organ der Universitätsleitung, das durch Wahl bestimmt wird, nämlich dem Senat, radikale Ungleichheit herrscht. Beispiel Uni Wien: Knapp 500 Professor*innen haben  mehr als doppelt so viel Einflussmöglichkeit, doppelt so-viel Stimmen wie 6400 wissenschaftlich Angestellte; 500 Professor*innen haben auch mehr als doppelt so viel Stim-men wie 89.000 Studierende. Und da erwähne ich schon fast gar nicht die 3300 Angehörigen des allgemeinen Personals, gegenüber denen den 500 Professor*innen neunmal mehr an Stimmen zugestanden wird. Die Mitbestimmungsmöglichkei- GEGEN PREKARITÄT – FÜR GUTE ARBEITSVERHÄLTNISSE IN DER WISSENSCHAFT  VON ANTON TANTNER Die Redaktion der ZUKUNFT freut sich, den Redebeitrag von  ANTON TANTNER  (IG LektorInnen und Wissensarbeite- rInnen) zur Demonstration ADVENT, ADVENT, DIE #BILDUNGBRENNT vom 19. Dezember 2020 im Wiener Resselpark für ihre Leser*innen abdrucken zu dürfen … Gegen Prekarität – für  gute Arbeitsverhältnisse  in der Wissenschaft


 ZUKUNFT | 15  ten dieses ohnehin schon kaum demokratisch zu nennenden Senats, – da war ja der Reichsrat der verflossenen Habsbur-germonarchie fast noch demokratischer, wobei der Kampf um das allgemeine, freie und gleiche Wahlrecht bis heute aktu-ell ist, siehe die 30 % vom Wahlrecht ausgeschlossenen Per-sonen bei der letzten Wien-Wahl, das nur nebstbei – diese Mitbestimmungsrechte werden nun noch weiter beschnitten, mit dem Argument, dass doch allfällige Reformrektor*innen nicht an der Ausübung einer zweiten Amtszeit gehindert wer-den sollen; es mag eine optisch kleine, nochmalige Einschrän-kung der Demokratie an den Universitäten sein, es handelt sich aber um ein politisches Vorgehen seitens der Regieren-den, das als klassische Salamitaktik einzustufen ist. Es werden weitere Einschränkungen der Demokratie folgen, wenn wir uns nicht dagegen zu Wehr setzen! © IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen II.  DER „109ER“ – BEFREIT UNS VON DEN  KETTEN! Jetzt aber zu der Änderung, die für die große Mehrheit  der an den Universitäten Beschäftigten von geradezu existen-zieller Bedeutung, wenn nicht Bedrohung ist, die im Entwurf festgeschriebene Beschränkung der Dauer befristeter Arbeits-verhältnisse, das Ende der Möglichkeit, die Kettenvertragsre-gelung zu umgehen; um im Jargon der Paragraphen zu spre-chen, es geht um den „109er“. Ich selber bin wie erwähnt Historiker, habilitiert an der Universität Wien und gehöre seit einem Jahr zu den 60 entfristeten Lehrbeauftragten, die das „Privileg“ genießen, für vier Semesterwochenstunden Lehre unbefristet an der Universität Wien angestellt zu sein. Die Mehrheit der an der Universität Wien tätigen Leh- renden und Forschenden genießt dieses bescheidene Pri-vileg nicht: Von den knapp 7000 Personen, die an der Uni Wien wissenschaftlich tätig sind, sind je nach Berechnung bis  zu 85 % befristet angestellt, als Assistent*innen, als Prä- und Postdocs, als Drittmittelbeschäftigte, als Lehrbeauftragte. Die-se je nach Berechnung 1800 bis 2500 Lektor*innen, die mal von Studienjahr zu Studienjahr, mal von Semester zu Semes-ter darum zittern müssen, ihren Lehrauftrag zugesprochen zu bekommen, bestreiten 40 % der Lehre, in manchen Fächern bis zu 2/3. Es war nicht der freie oder gar gute Wille des Mi-nisteriums oder der Universitäten, an dem derzeit herrschen-den, schlechten Zustand etwas zu ändern, es hat ein Urteil des Europäischen Gerichtshof gebraucht, um hier eine Änderung notwendig zu machen. Die nun vorgeschlagene Änderung macht alle, denen viel- leicht schon recht bald das Ende ihrer Beschäftigungsmöglich-keit an ihrer Uni droht, zurecht besorgt, panisch oder empört darüber, dass ihre bisherigen Leistungen so geringgeschätzt werden. Dass ihnen vonseiten des Ministeriums keine Pers-pektiven angeboten werden, wie sie Ihre langjährig erworbe-nen Fähigkeiten an ihrer Universität weiter einsetzen können, wenn denn die nun festgeschriebenen sechs oder acht Jah-re der Beschäftigung verstrichen sind. Vollkommen nachvoll-ziehbarer Weise wird dies als drohendes Arbeitsverbot wahr-genommen, als ein nochmal verschärfter Zwang zur Mobilität unabhängig von den jeweiligen Erfordernissen an zu leisten-der Sorgearbeit. Universitäre Fächer, die nur wenig instituti-onelle Verankerung haben – dazu zählt auch die feministische Lehre und Forschung sowie die hier tätigen prekären Lehren-den – sind dadurch besonders gefährdet. Was wir hier fordern, sind sofortige und verbindliche Re- gelungen für die Entfristung der betroffenen Kolleg*innen. Es kann nicht sein, dass diese vom Gutdünken, vielleicht von der Willkür der einzelnen Universitätsleitungen abhängig sind, es braucht klare Anreize, vielleicht auch Druck gegenüber den Universitätsleitungen, das untragbare Missverhältnis zwischen befristet und unbefristet Angestellten zu ändern. Es ist nicht die Aufgabe von uns Prekären, sich die Köpfe der hochbe-zahlten Ministerialbeamt*innen, Politiker*innen und Univer-sitätsleitungen zu zerbrechen, wie dies geschehen kann. Ge-nau dazu werden wir aber im Moment aufgerufen: Wir als prekär Beschäftigte sollen die Versäumnisse der letzten Jahr-zehnte Universitätspolitik zurechtbügeln, wir sollen Vorschlä-ge machen, wie denn das „Gfrett“ mit den Arbeitsverhältnis-sen an den Universitäten gelöst werden kann. Nun, ich mache einen solchen Vorschlag: Wenn es schon  nicht möglich ist, gute Arbeitsverhältnisse durch das Univer-


 16 | ZUKUNFT  sitätsgesetz zu garantieren – Warum eigentlich nicht? … klei-ne unbedarfte, unschuldige Frage?  –, wenn das schon nicht möglich ist, warum nicht das Instrument der Leistungsverein-barungen verwenden? Wenn das Ministerium Geldauszahlun-gen an die Universitäten an die Bedingung knüpfen kann, dass es einen bestimmten Anteil an prüfungsaktiven Studierenden gibt, dann kann es doch die Auszahlung auch an die Bedin-gung knüpfen, dass es an der jeweiligen Universität einen zu bestimmenden Mindestanteil an unbefristet Beschäftigten un-ter dem wissenschaftlichen Personal gibt – 80 %, wie wäre das, statt jetzt 15 oder 20 %? Soweit mein konstruktiver Verbesserungsvorschlag, ver- knüpft mit meiner ganz naiven Frage, warum das denn nicht möglich ist? Und, sollte es nicht am Unwillen, sondern am Unwissen mancher Universitätsleitungen liegen, solche un-befristeten Arbeitsverträge abzuschließen, so fordern wir eine aktive Informationspolitik seitens des Wissenschaftsministe-riums, die den Universitäten klarmacht, dass es schon jetzt, ohne Gesetzesänderungen möglich ist, Lehrende und auch Forschende unbefristet anzustellen, als Lehrbeauftragte und als sogenannte Senior Scientists; wir von der IG LektorIn-nen geben hier den jeweiligen Unirektoraten gerne Nachhilfe im Universitätsgesetz und im Kollektivvertrag, bevorzugt mit Honorierung des dabei entstehenden Aufwands. Ich möchte zum Schluss aber klarstellen, dass wir wissen,  dass es wissenschaftliche Lebensentwürfe gibt, die mit den üb-lichen Instrumenten des Arbeitsrechts nur schwer unterstützt werden können; vor allem aber wissen wir, dass es nicht unser einziges Ziel sein kann, eine schlechte Lage durch eine weni-ger schlechte Lage zu lindern, zu ersetzen. III.  PERSPEKTIVEN FÜR DIE ZUKUNFT Was wir brauchen und was wir fordern, ist eine grundsätz- liche Trendwende: Wir brauchen eine Universitätsorganisation, die demokra- tische Zustände an den österreichischen Universitäten her-stellt: Ob dies geschieht durch eine sogenannte Drittelparität zwischen Professor*innen, Mittelbau und Studierenden oder besser noch durch ein sogenanntes Faculty-Modell, das die Kurien überwindet und bei dem jede Stimme der Lehrenden und Forschenden gleich viel zählt, ungeachtet der Stelle, die die Person gerade in der universitären Laufbahn einnimmt – das wäre zu diskutieren. Darüber hinaus brauchen wir Personalmodelle, die gute  Arbeitsverhältnisse garantieren: Schlechte Arbeitsverhältnisse, wie sie derzeit herrschen,  schädigen die Gesundheit der Lehrenden und Forschenden. Sollte dies als Argument nicht ausreichen – und wer inter-essiert sich schon für Gesundheit inmitten einer Pandemie, wo die Regierenden klar gemacht haben, dass Ihnen das fi-nanzielle Wohlergehen ihrer Geldgeber*innen und Adler-runden wichtiger ist als die soziale und gesundheitliche Lage der Mehrheit der Bevölkerung – sollte dies also als Argument nicht ausreichen: Schlechte Arbeitsverhältnisse schädigen auch die Quali- tät der Wissenschaft, da langfristige oder riskante Forschungs-vorhaben durch die andauernde Prekarität beinahe unmög-lich gemacht werden, weil die permanente Unsicherheit und die zeitvergeudende Teilnahme an der Drittmittellotterie nicht etwa Höchstleistungen und Kreativität fördern – wie das manch unselige Vizerektorin der Vergangenheit behauptete –, sondern diesen entgegenarbeiten, wenn nicht gar letzten En-des vernichten. In Deutschland, wo die Arbeitsverhältnisse an den Uni- versitäten noch schlimmer sind als in Österreich, hat unse-re Schwesterorganisation NGAWiss, das Netzwerk für Gute Ar-beit in der Wissenschaft zuletzt Personalmodelle entwickelt, die Alternativen zur jetzigen, untragbaren Situation aufzei-gen. Solche alternativen Personalmodelle brauchen wir auch in Österreich als Zwischenschritt zum Aufbau einer Universi-tät, die gute Bedingungen für die an ihr Arbeitenden und Stu-dierenden garantiert. Für die Entwicklung solcher Personalmodelle laden wir  auch die in Gewerkschaften und in der Arbeiterkammer täti-gen Expert*innen dazu ein mitzuarbeiten; wir freuen uns da-rüber hinaus über jede und jeden gerade unter den prekären Lehrenden und Forschenden, der und die bereit ist, an einem solchen Prozess mitzuwirken. IV.  CONCLUSIO: WIR WISSEN … Wir von der IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen –  und damit komme ich zum Schluss –, wir wissen, dass wir kaum mit Unterstützung durch die derzeit herrschende Wis-senschaftspolitik rechnen können;  GEGEN PREKARITÄT – FÜR GUTE ARBEITSVERHÄLTNISSE IN DER WISSENSCHAFT  VON ANTON TANTNER


 ZUKUNFT | 17  •  wir wissen, dass wir, dass unsere in Prekarität gehaltenen  Kolleg*innen nur schwer zu den klassischen Methoden des Kampfs um soziale Verbesserung greifen können; •  wir wissen, dass unter den derzeit herrschenden Verhält- nissen und im Speziellen für die zwei Regierungsparteien Glückspielkonzerne wie die Novomatic und die in der schon genannten Adlerrunde versammelten Tiroler Touris-mus-, Ski- und Seilbahnkonzerne als systemrelevant gelten, •  wir wissen, dass die Mehrheit der Bevölkerung und insbe- sondere die im Gesundheitsbereich, in den Schulen und an den Universitäten Arbeitenden nur insoweit von Systemre-levanz sind, als sie den Reichtum der genannten Konzerne sichern und vermehren. Zur Überwindung dieser Zustände kann auch das an den  Universitäten produzierte Wissen seinen Beitrag leisten; wir von der IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen werden uns weiter für die Verbesserung unserer Arbeitsbedingungen einsetzen, mit konkreten Vorschlägen zur Linderung der Ka-tastrophe und mit Forderungen, die darüber hinaus gehen. Damit dieses Vorhaben erfolgreich sein kann, braucht es  allerdings mehr als uns von der IG LektorInnen, die wir seit 1996 aktiv sind:    •  Es braucht einen Organisierungsprozess der prekären  WissensarbeiterInnen;  •  es braucht eine Diskussion, unter welchen Bedingungen  wir arbeiten, forschen und lehren wollen; •  und vor allem: es braucht Kräfte, die die in dieser Diskussi- on entwickelten Wünsche und Forderungen Realität wer-den lassen.  Online-Präsenz der IG LektorInnen und WissensarbeiterIn- nen: https://www.ig-elf.at/ (letzter Zugriff: 10.01.2021). ANTON TANTNER  ist Vorstandsmitglied der IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen  und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Weitere Infos online unter:  http://tantner.net/ Twitter: @adresscomtoir 


 18 | ZUKUNFT  I. EINLEITUNG Mitnichten – Herr Kogler. Der Neoliberalismus hat wei- te Teile unserer Gesellschaft erreicht. Wie sehr diese Bewe-gung in Vorstoß begriffen ist, zeigen auch einzelne Beispie-le, die während des langen anstrengenden Jahres 2020 bekannt wurden. Denn schon im Jänner 2020 haben sich die Türkisen, mithin auch die ehemalige Volkspartei, und die Grünen auf ein Koalitionsprogramm geeinigt, das einigen liberal Denken-den die Hoffnung ins Gesicht schrieb, man könne mit Argu-menten den harten Kurs des Bundeskanzlers Kurz verändern. II.  APRÈS-SKI UND LOCKDOWNS Die Regierungsarbeit wurde sehr schnell von der sich  rasch ausbreitenden COVID-19-Pandemie überschattet. Be-reits Ende Februar, also mitten in der Schi- und übrigens auch Karnevalsaison, gab es Diskussionen, ob die Schilifte geschlos-sen und die Saison vorzeitig beendet werden sollte. Während man in Österreich noch dem Wintersport und dem beliebten Après-Ski nachgehen konnte, wurden dementgegen in Italien die Karnevalsumzüge am Rosenmontag und Faschingsdiens-tag abgesagt. Die ersten Informationen über Abstandhalten, später als Social Distancing bezeichnet, und Todeszahlen in Absoluten wurden veröffentlicht. Auf Vergleichswerte zu an-deren statistischen Daten wurde in der Berichterstattung indes verzichtet. Da die gesetzten Maßnahmen keinerlei Wirkun-gen gezeigt haben, wurde mit wenigen Tagen Vorlaufzeit der erste von mittlerweile drei Lockdowns verhängt. Geschäfte, Kaffeehäuser, Herbergsbetriebe, Bildungsinsti- tutionen, Sport- und Kulturstätten, kurz alles, was nicht zur kritischen Infrastruktur gehört, musste für 50 Tage die Pfor-ten schließen. Die in aller Eile verfassten Gesetzestexte und Verordnungen mussten Schritt für Schritt überarbeitet wer- den. Die Maßnahmen wurden scheinbar im Gleichschritt verschärft. So wurde die Aussage getätigt „Koste es, was es wolle“, ohne das eigene Budget im Griff oder die weiteren Auswirkungen im Blick zu haben. Bereits eine Woche später wurden wir mit Gesichtsmasken vertraut gemacht, die uns bis heute nicht nur in Innenräumen, sondern auch im Freigelän-de und teilweise sogar im Sport begleiten. III. MEDIENKOMPETENZ? Die Regierung hatte zu diesem Zeitpunkt weder eine  Vorstellung, wie hoch die Belastung für das Spitalwesen ist, noch hatte sie sich mit Vorkehrungen für den Schutz jener Personen beschäftigt, die trotz aller Vorsicht mit anderen Per-sonen in Kontakt kommen. Wir haben Begriffe wie Home Office und Distance Learning kennengelernt. Leider haben sich die Volksvertreter*innen der Regierungsparteien auch in diesen Bereichen nicht überlegt, wie damit umgegangen wer-den kann. Für das Distance Learning fehlten bis vor kurzem noch Endgeräte, welche die Wiedergabe des Unterrichtsma-terials ermöglichen sollten. Auch die dafür notwendige Me-dienkompetenz schien nicht vorhanden zu sein. Familien, die mehrere Kinder, in vielleicht noch unterschiedlichen Schulty-pen haben, stießen dabei rasch an ihre Grenzen. Sie waren be-sonders vom Digital Divide betroffen.  Die Aussetzer, welche die Konzentration im Unterricht  oft unverschuldet unterbrechen, sind oftmals der schlechten Übertragungsqualität geschuldet. Viele Schüler*innen haben rasch bemerkt, welches Lehrpersonal in der Lage ist, den Un-terricht an die digitale Übertragung anzupassen, in welchem Fach das nicht oder kaum möglich ist und welche Lehrer*in kein Interesse hat, „sich das anzutun“. Für einen Bildungsmi-nister, der die Digitalisierung der Schule als wichtigsten Punkt  „DIE NEOLIBERALEN HABEN JETZT MAL SENDEPAUSE!“  VON KATHARINA RANZ „Die Neoliberalen haben  jetzt mal Sendepause!“ KATHARINA RANZ  rekapituliert in ihrem Beitrag das verlorene Jahr 2020 und analysiert dabei auch angesichts der Lock- downs die Auswirkungen auf das österreichische Bildungssystem.


seiner Arbeit setzt, muss die Rückschau auf 2020 also negativ ausfallen. Nur sehr schleppend konnte die anfängliche Über-forderung ob der Kurzfristigkeit einer Professionalität wei-chen. Viele Unterrichtseinheiten wirken nach wie vor pro-visorisch, was einerseits der Hoffnung auf die Rückkehr zur „Normalität“ geschuldet ist, andererseits aber auf fehlendes Handwerkszeug hinweist. IV.  VON OFFENEN SCHULEN Home Office und Distance Learning sind so unvereinbar,  wie sie einander bedingen. Für konzentriertes Lernen und Ar-beiten benötigen die Familien viel mehr Platz, der ihnen ob der hohen Mietpreise oft einfach nicht zur Verfügung steht. Selbst im kommunalen Wohnbau haben die Familien nicht ausreichend Raum, weil Familien mit zwei Kindern lange nur drei Wohnräume zur Verfügung gestellt wurden. Können be-treuungspflichte Kinder keinen physischen Unterricht besu-chen, muss zumindest ein Elternteil eine Lösung mit dem Ar-beitgeber finden. Wie sehr die Betroffenen hier allein gelassen werden, zeigten im Rahmen des zweiten Lockdowns die Aus-sagen von Bildungsminister Heinz Faßmann und anderen Re-gierungsmitgliedern, die Schulen seien geöffnet, man könne arbeiten gehen. Die Bedenken, die Kinder und Jugendliche in die Schulen zu schicken, wurden bestenfalls ignoriert. Das Ende des Distance Learnings ist im dritten Lockdown  nicht einmal in der letzten Ferienwoche bekannt. So wider-sprechen sich Faßmann und Klubobmann August Wöginger, wann genau die Schulen für den Unterricht wieder geöffnet werden sollen. Während die Regierung die Infektionszah-len genau beobachtet, will der Bildungsminister die Schulen so früh wie möglich öffnen. Eine eigene Testreihe für Schu-len wäre möglich, allerdings überwiegt nun die Arbeit an der Durchimpfung der Bevölkerung, welche die Regierung erst nach großem Protest forciert. V.  EIN FRAGILES SYSTEM Ähnlich interessante Wege geht bereits der zuständige  Wiener Stadtrat für Bildung, Jugend, Integration und Trans-parenz, Christoph Wiederkehr. Im Oktober 2020 wurde die Politik der SPÖ bestätigt, jedoch war schon vor der Wahl er-kennbar, dass eine Koalition mit dem bisherigen Partner nicht möglich ist. Aus persönlichen Differenzen und politischer „Vernunft“ wurde die Fortschrittskoalition mit den Neos ver-einbart. In der Zusammenarbeit mit einem wissenschaftlich  ausgewogenen Bundesminister und einem sozialdemokrati-schen Bildungsdirektor wird ein pinker Bildungsstadtrat wohl auch eine kluge Politik betreiben. Als Antwort auf ein sicheres Unterrichtskonzept wurden bisher Kaffeehäuser als fliegende Lernräume im Zentrum Wiens angeboten. Für Schüler*innen in den dicht besiedelten Bezirken gibt es bisher aber kein An-gebot. Wenig Zustimmung finden die fliegenden Klassenzim-mer in nicht benutzten Hotels, da das Lehrpersonal nicht an-gemessen aufgestockt wurde. Zum Jahreswechsel haben viele 2020 mit dem mittlerwei- le geflügelten Wort „Schleich di, Du Oaschloch“ verabschie-det und hoffen, geleitet durch die Nachrichten zur Impfung gegen das Virus, das uns letztes Jahr gefangen genommen hat, auf eine bessere Zukunft. Selbst wenn die Streitigkeiten um die Impfstrategie beseitigt werden können, werden wir aber noch lange an den Folgen dieser Krise zu arbeiten haben. Die Erfahrungen aus dem letzten Jahr haben uns aber gezeigt, wie fragil unser politisches System ist. VI. CONCLUSIO Der Freiheit, selbst wählen zu können, und so die  Schmied*in des eigenen Glücks zu sein, laufen sowohl die Einschränkungen im Lockdown, aber auch alle vermeintli-chen Wahlmöglichkeiten, die wegen anderweitigen Abhän-gigkeiten nicht möglich sind, zuwider. Erst wenn wir das erkennen, werden wir begreifen, dass die Neoliberalen ge-rade unter diesen schwierigen Bedingungen wahrlich keine  Sendepause haben! KATHARINA RANZ  ist Logistikerin, Bezirksrätin und seit Jänner 2021   Vorsitzende der Margaretner Bildung der SPÖ.  ZUKUNFT | 19 


 20 | ZUKUNFT  2020 – EIN RÜCKBLICK AUS BILDUNGSPOLITISCHER PERSPEKTIVE  VON FLORIAN RAINER 2020 – Ein Rückblick  aus bildungspolitischer  Perspektive Der Rückblick auf das durch Corona gezeichnete Jahr 2020 wird von  FLORIAN RAINER  im Rahmen seines Beitrags vor  allem hinsichtlich der österreichischen Bildungspolitik vor Augen geführt. So steht uns allen auch eine bedenkliche Chrono-logie der Ereignisse vor Augen … I. EINLEITUNG Das vergangene Jahr wird als ein sorgenvolles Jahr in Erin- nerung bleiben. Es umklammert einen Zeitraum, in dem sich vielzählige Ereignisse verdichtet haben und innerhalb dessen „kapitalistische Krisen scheinbar nicht ökonomische Formen annehmen“ (Chuang-Blog 2020 – Social Contagion. Microbiolo-gical Class War in China). Die Coronakrise veränderte das üb-lich Verdächtige, nämlich die gewohnten Routinen der Nor-malität, sodass bereits vorhandene Problemstellungen verstärkt zum Vorschein kamen und kommen. Es bedurfte einer schnellen, aktualisierten Organisation  des Alltags, der Schule, der Arbeit sowie des Wohnraums – bisherige Ordnungen des Erlebens und Handelns mussten neu aufgefangen werden. Die ohnehin von Normalitätsvorstellun-gen „entgrenzten“ (Andresen 2016) jungen Menschen stehen dadurch vor enormen Herausforderungen. Und diese sind in unmittelbarem Zusammenhang mit fließenden Übergängen zwischen den Lebensbereichen (Freizeit, Bildung, Arbeit) so-wie einer wachsenden Ungleichheit von Möglichkeitsräumen und Lebenschancen zu sehen. Zugleich war die mediale Verstärkung der umfassenden  Veränderungen und Dynamiken für das menschliche Mitein-ander intensiv, weil stets präsent. Der Überschuss an Informa-tionen brachte Unübersichtlichkeit. Die Kommunikation von politischen Entscheidungen erschwerte die sinnstiftende Ord-nung und Orientierung, während die sozialen Interaktionen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen auf digitalem Niveau improvisiert wurden. Die Bedingungen im Aufwachsen der nachfolgenden Ge- nerationen mussten gestaltet und neu geordnet werden. Das Bildungspolitische musste sich mit der neuen Realität in Di-alog bringen. Dabei zeigten sich sowohl Gesten des Zuhö-rens als auch des Weghörens, sowie Freiräume in der Gestal-tung von Bildungsangeboten, aber auch Engführungen in den Möglichkeiten. Die Frage nach dem Wann? von Bildung er-drückte die Frage Wie? Bildung gestaltet werden soll. Deshalb folgt nun eine Textur des Jahres 2020 aus bil- dungspolitischer Perspektive. Die Chronologie der Ereignis-se steht dabei vor dem Hintergrund dessen, was gerade nicht passiert ist. Sprich: Es hätte auch anders sein können. II. CHRONOLOGIE DER EREIGNISSE 31. Dezember 2019 – Die World Health Organization wird  über „Fälle von Lungenentzündung mit unbekannter Ursa-che“ (WHO) in der Volksrepublik China informiert. 07. Jänner 2020 – Die Ursache wird als 2019-nCoV identi- fiziert, ein neuartiger Coronavirus. Die offizielle Bezeichnung wird COVID-19. 07. Jänner – Für 1.136.501 Schüler*innen (vgl. STATISTIK  AUSTRIA, alle Schultypen) beginnt nach den Winterferien wie-der der Schulalltag. 10. Februar – Die Empfehlungen des UN-Kinderrechts- ausschusses zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention der 


 ZUKUNFT | 21  Vereinten Nationen werden veröffentlicht. Die Harmonisie-rung des Jugendschutzes wird positiv erwähnt, jedoch werden zahlreiche Mängel (z. B. Klimaschutz, Chancenindex, Inklusi-on, Kopftuchverbot, der Umgang mit unbegleiteten minder-jährigen Flüchtlingen) festgestellt, wie das Fehlen eines struk-turierten Programms der Regierung im Allgemeinen. „Der Mythos, in Österreich sei alles in Ordnung, hält nicht“, sagt Hel-mut Sax vom Ludwig Boltzmann-Institut für Menschenrechte.  25. Februar – Vielzählige Fälle von COVID-19 werden  weltweit und erstmals in Österreich verzeichnet. Die Diskus-sionen um gesellschaftliche Vorbeugung sind längst im Gange. Systemrelevanz etabliert sich als diskursiver Begriff. 08. März – Die Initiative Aufstand der Alleinerziehenden  weist auf die Anerkennung und ökonomische Absicherung al-ler Familienformen hin, denn in der Krise halten Frauen die Gesellschaft am Laufen. Es sind mehr als 75 % Frauen (vgl. AMS, Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherungs-träger), die im Supermarkt, im Gesundheits- und Sozialwesen arbeiten sowie über 97 % Frauen, die in Kindertagesheimen (Krippen, Kindergärten, Horte, etc) beschäftigt sind, also sys-temrelevante Berufe ausüben (vgl. STATISTIK AUSTRIA, Kinder-tagesheimstatistik 19/20).  11. März – Die WHO erklärt den COVID-19-Ausbruch  zur Pandemie. Es werden weltweite, gleichzeitige Fälle der  Viruserkrankung verzeichnet.  16. März – Der erste Lockdown tritt in Kraft. Versamm- lungen werden untersagt und es gilt ein Mindestabstand von einem Meter. In Wien werden Parks, Sport- und Spielplätze gesperrt. Auch Jugendzentren sind geschlossen. Alle Schul-stufen werden angewiesen auf „Unterricht light“ (BMBWF) sowie auf Fernbetrieb umzustellen. Vorerst bis zu den Osterferien. 25. März – Die „Rückkehr zur Normalität“ (Salzburger  Nachrichten) wird diskutiert. Die Schulschließungen wer-den jedoch auch noch nach den Osterferien bestehen bleiben. Eine erste Reflexion zeigt, dass digitale Endgeräte fehlen so-wie digitale Infrastrukturen zur gemeinsamen Verständigung. Distance Learning im „neuen Klassenzimmer“ (BMBWF) geht so-wohl mit beengten Raumverhältnissen als auch mit unter-schiedlichen Ressourcen (Zeit, Sprache, schulisches Wissen, technischer Support) der familiären Unterstützung einher. Ei-nige Schüler*innen werden in dieser ersten „Überbrückungspha-se“ (BMBWF) gar nicht erreicht.  25. März – Die Matura wird um zwei Wochen verscho- ben. Die Aktion der kritischen Schüler_innen (AKS) fordert eine Beurteilung der Abschlussklasse – eine Matura ohne isolier-te Abschlussprüfung. Die Schülerunion (SU) spricht sich für die Abhaltung der Matura mit Abstrichen aus. Zwiespältig wird im Fortgang demnach die Aussage von der Bundesschülervertre-tung (BSV) „denn wir wollen nicht der Jahrgang sein, dem vorgehalten wird, die Matura geschenkt bekommen zu haben“ aufgenommen. 10. April – „Durch das krisenbedingte Schließen von Schulen  findet eine „Privatisierung“ der Lernleistung in einem bislang unge-kannten Ausmaß statt und es passiert in einem quasi-natürlichen Ex-periment das Gegenteil von dem, was mit Ganztagsschulen erreicht werden sollte“, konstatiert Mario Steiner vom Institut für Höhere Studien. 14. April – Die Osterferien sind vorüber und die Schu- len bleiben im Fernlehrmodus bis 18. Mai. Danach folgt ein Schichtbetrieb zur „Verdünnung“ (BMBWF) des Schulbetriebs (Hälfte der Schüler*innen Montag bis Mittwoch in der Klas-se, andere Hälfte Donnerstag und Freitag; die Woche darauf umgekehrt) plus Hygieneauflagen. 17. April – Der Kinder- und Jugendnotruf Rat auf Draht  erhielt seit Beginn der Krise ein Drittel mehr Anrufe. Die großen Themen sind Ungewissheit, Überforderung mit E-Learning und Familienkonflikte. 04. Mai – Der Präsenzunterricht für Maturaklassen be- ginnt. Die Maturant*innen erhalten drei Wochen lang geziel-te Vorbereitung an den Schulen. Die schriftliche Matura selbst beginnt am 25. Mai. 18. Mai –  „Mir war das Öffnen der Schulen ein großes An- liegen, damit es nicht zu einem Humankapitalverlust von hohem Ausmaß kommt“, sagt Bildungsminister Heinz Faßmann im Ö1-Morgenjournal. 19. Mai – 10.000 Chancen, so heißt die Jobbörse, die  als Vorbild für ähnliche Recruiting-Veranstaltungen in die-sem Jahr digital durchgeführt wird. 80 Unternehmen verge-ben von 08:00 bis 18:00 Uhr mehr als 2000 Jobs über die Plattform. Die digitale Jobbörse als vermeintliche Antwort auf die Arbeitsmarktkrise – „je länger sie arbeitslos sind, des-to mehr sinken ihre Chancen am Arbeitsmarkt“ (Initiator Bern-hard Ehrlich).


 22 | ZUKUNFT  2020 – EIN RÜCKBLICK AUS BILDUNGSPOLITISCHER PERSPEKTIVE  VON FLORIAN RAINER 04. Juni – Die Ermordung George Floyds in den USA  durch die Polizei und die Kritik an systematischem und struk-turellem Rassismus hat weltweit zu organisiertem Protest ge-führt. Über 50.000 – vor allem junge – Menschen demons-trieren in Wien. „Wir sehen, dass Polizeigewalt, Rassismus und racial profiling auch in Österreich an der Tagesordnung stehen.“ (De-moaufruf #BLACKLIVESMATTER) 28. Juni – Die Kündigungen während des ersten Lock- downs im Frühjahr hat junge Menschen prozentuell am stärksten getroffen. In Österreich sind Ende Juni 45.317 un-ter 25-Jährige ohne Lohnarbeit, das sind um 80,5 % mehr als im Vorjahr (vgl. AMS. Spezialthema 06/20). Über 22.000 sind in AMS-Schulungseinrichtungen. Zudem finden viele Jugend-liche (7.673) keine Lehrstelle, das sind fast 2.000 mehr als im Juni des Vorjahres. Einerseits sind weniger junge Menschen in Ausbildungsbetrieben, andererseits stehen auch weniger offe-ne Lehrstellen zur Verfügung.  30. Juni – „300.000 Kinder oder jedes fünfte Kind in Öster- reich ist von Armut bedroht oder lebt in Armut.“ Die Österreichische Liga für Kinder- und Jugendgesundheit hält eine Online-Presse-konferenz ab und zeigt auf: „Kinder aus bildungsfernen Famili-en verlieren den Anschluss an die Schule. Jugendliche bekommen keine Lehrstellen. Die Gewalt hat zugenommen.“ Zugleich zeigen Da-ten von Europol, dass Fälle von Kindesmissbrauch und kin-derpornografischem Material signifikant ansteigen. 08. Juli – Die Jugendarbeit in Feldkirch verliert ihre Un- abhängigkeit. Nach 76 Jahren wird das älteste Jugendhaus Vorarlbergs in die Stadtpolitik integriert. Das bedeutet einen Verlust der Autonomie sowie eine fehlende Einbindung der Jugendlichen. „Es wird über die Köpfe von denen hinweg entschie-den, die es angeht. Das sind zuallererst die Jugendlichen, aber auch die Jugendarbeiterinnen, die als Profis auf ihrem Gebiet eine Menge Fach-wissen über die Lebenswelt vieler Jugendlichen in Feldkirch haben.“ (Laura Fetz, Jugendstadträtin Feldkirch) 10. Juli – Allen Lehrlingen der Abschlussklassen wird er- möglicht bis zu diesem Datum diese zu absolvieren. Wird die letzte Klasse der Berufsschule positiv abgeschlossen entfällt die theoretische Prüfung für die Lehrabschlussprüfung und wird für diese angerechnet. 17. August – Generation Haram – Warum Schule lernen  muss, allen eine Stimme zu geben. Ein Buch von Melisa Erkurt über Beobachtungen, Gedanken und Sorgen von Wiener  Schüler*innen erscheint. Was läuft schief für Kinder mit Mi-grationserfahrung im Schulsystem und warum? Was erfahren muslimische Schüler*innen in der Schule? Wie müsste Schu-le sein, damit sie allen Kindern Zugehörigkeit vermittelt und Chancen gibt? Eine völlig andere Antwort auf Susanne Wie-singers Buch Kulturkampf im Klassenzimmer. 18. August – „Reißt euch zusammen und übernehmt Ver- antwortung!“ – Das twittert Gesundheitsminister Rudolf An-schober. Die Volkspartei schließt sich den Aussagen unreflek-tiert an. Der Appell richtet sich vor allem und pauschal an Jugendliche. Diskussionen um Kinder und Jugendliche als Superspreader, Urlaubende und im Park Verweilende mit er-höhtem Sozialkontakt bestimmen kurzzeitig den öffentlichen Diskurs. 30. August – Babyelefant, Systemrelevanz, Coronaparty,  Querdenken. Die Sprache verändert sich mit den Umständen. Das Coronavirus hat zu vielen neuen Wortschöpfungen ge-führt, die helfen jene Sachverhalte zu beschreiben, die unse-ren Alltag verändern. Manche Wörter kommen hinzu, man-che bleiben, viele gehen. Und wahrscheinlich ändern auch viele Wörter ihre Bedeutung im Laufe der Zeit. 08. September – Die jährliche OECD-Studie Education at a  Glance wird veröffentlicht. Ein sich wiederholendes Bild wird gezeichnet: Bildungschancen stehen in Relation zu sozioöko-nomischen Faktoren wie Herkunft, Alltagssprache und Ein-kommen der jeweiligen Familie. 13. September – Die im Juli begonnenen Schulferi- en enden in Kärnten, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol und Vorarlberg und die Schüler*innen kehren wieder nach 15 Tagen im Klassenzimmer sowie 40 Tagen Distance Learning – von Mitte März bis Anfang Juli – zurück in ihre Schulen (vgl. Arbeit & Wirtschaft Blog).  14. September – Pädagog*innen fordern die Abschaf- fung von Deutschförderklassen und starten eine „Petition für gemeinsames Lernen und Schulautonomie statt systematische Ausgren-zung von Kindern“. Die Kritik orientiert sich einerseits am au-ßerordentlichen Status der Schüler*innen in separaten Klassen und andererseits am MIKA-D-Test (umstrittenes Testverfahren für Deutschkompetenz), welcher bestanden werden muss, um in die 1. Klasse Volksschule zu kommen. Die Schüler*innen sind dann bereits 7 oder 8 Jahre alt.


 ZUKUNFT | 23  18. September – In knapp 800 Dörfern und Kleinstädten  in Österreich fanden Demonstrationen für den Klimaschutz statt. Die Proteste wurden von der seitens der Jugend getrage-nen Bewegung Fridays for Future organisiert. 27. September – 786 Menschen sind bereits mit positi- ver COVID-19-Testung verstorben. Am 31. Dezember 2020 werden es 6.222 Menschen sein. Das bringt Betroffenheit und Trauer, Stille und Ohnmacht hervor. Ein tiefer emotionaler Einschnitt in das Leben vieler Angehöriger. 11. Oktober – Bei den Landtags- und Gemeinderatswah- len in Wien sind über 30 % der in Wien lebenden Menschen nicht wahlberechtigt, darunter 72.000 Jugendliche (STATISTIK AUSTRIA, Jugendliche zwischen 16–24 Jahre). „Die Kosten für die österreichische Staatsbürgerschaft sind einfach zu hoch. Ich finde es sollten alle, die schon lange hier leben oder sogar hier geboren sind, wäh-len dürfen.“ (Natalia, 19 Jahre, Jugendzentrum Wien) 15. Oktober – Die in Deutschland durchgeführte CO- PSY-Studie zeigt, „dass die Herausforderungen der Pandemie Lebens-qualität und psychisches Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen verringern sowie das Risiko für psychische Auffälligkeiten erhöhen.“ Die Kontaktbeschränkungen belasten 71 % der Kinder und Jugendlichen. 27 % berichten, dass sie sich häufiger streiten und 37 % der Eltern gaben an, dass die Streitigkeiten mit ihren Kindern öfters eskalierten. „Bei 39 % der Kinder und Jugendli-chen verschlechterte sich das Verhältnis zu den Freunden durch die ein-geschränkten persönlichen Kontakte, was fast alle Befragten belastete.“ 19. Oktober – „Wir müssen immer wieder lüften, und manch- mal ist es kalt, weil die ganze Zeit das Fenster offen ist“; „deshalb ist mir oft kalt“; „ich bekomme auch öfters von der Lehrerin eine Decke“; „wenn es so richtig kalt wird, dürfen wir von unten die Jacken aus der Garderobe holen und anziehen“; „es ist wirklich eisig manchmal“ – Das erzählen Schüler*innen aus der Steiermark, die durch das COVID-19-bedingte Lüften frieren (vgl. steiermark.orf.at). 02. November – Terroranschlag im ersten Wiener  Gemeindebezirk. 03. November – Der zweite Lockdown tritt in Kraft.  Oberstufen und Universitäten werden wiederum auf Distance Learning umgestellt, Kindergärten und Pflichtschulen bleiben geöffnet für Familien mit Bedarf. Schüler*innen, die zuhause bleiben können sollen zuhause bleiben. Diese Formulierung führt zu dilemmatischen Situationen bei den Familien. 06. November – Der Zusammenhang von Schulschlie- ßungen und Bildungsungleichheiten wird durch eine El-ternbefragung der Arbeiterkammer (vgl. Corona Sonder-befragung,  AK-Schulkostenstudie) erhoben und zeigt, dass Lernschwierigkeiten „überproportional häufig bei Kindern aus ar-mutsgefährdeten Familien“ auftreten sowie bei Kindern aus Fa-milien, „deren Eltern über maximal Pflichtschulabschluss verfügen.“ Unabhängig von der sozialen Stellung der Eltern und unab-hängig vom Schultyp zeigt sich, dass sich die psychische Ge-sundheit (Nervosität, Gereiztheit, Verängstigung) bei einem Drittel der Schüler*innen subjektiv verschlechtert hat. 25. November – Die Bundesjugendvertretung (BJV) fordert  zum Tag gegen Gewalt an Frauen Sofortmaßnahmen: „Jede fünfte Frau ist ab ihrem 15. Lebensjahr körperlicher und/oder sexuali-sierter Gewalt ausgesetzt. Nach dem ersten Lockdown hat sich in grö-ßeren Städten Österreichs die Zahl der gemeldeten Fälle von häuslicher Gewalt um 26 Prozent erhöht – die Dunkelziffer wird noch höher ge-schätzt. Gerade während den bestehenden und künftigen Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen braucht es dringend mehr Notbetreuungs-plätze und Beratungsangebote für Frauen und Kinder.“ 01. Dezember – Eine neue Universitätsgesetzes-No- velle liegt am Tisch. Die Änderungen zur Begutachtung be-treffen sowohl das Studienrecht als auch das Organisations-wesen. Die Österreichische Hochschüler*innenschaft und auch die IG-Lektor*innen sehen die Novelle kritisch, das Rektorat und der  Universitätsrat  der Universität Wien begrüßen sie hinge-gen. Diskussionspunkte sind unter anderen: Mindeststudien-leistung, Reduktion der Mindestanzahl an Prüfungsterminen, Einführung einer Gesamtnote; Beschränkung der Dauer be-fristeter Arbeitsverhältnisse, Kompetenzerweiterung des Rek-torates im Bereich der curricularen Gestaltung. 10. Dezember – Die Jugendwörter des Jahres 2020 sind  „Boomer“ und „lost“. Die Begründung der GOED (Gesellschaft für Österreichisches Deutsch) lautet, dass „Ok, Boomer“ von Jugendlichen verwendet wird um „in zwei Worten ihre Sicht im derzeitigen Generationenkonflikt auszudrücken“. „Lost“ bezeich-net hingegen „ein-sich-nicht-Auskennen […] bzw. unentschlosse-nes Verhalten“ und reflektiert damit auf die „Befindlichkeit vieler junger Menschen“ im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext. 10. Dezember – Fast alle Jugendlichen haben bereits  Übergriffe im Netz erfahren. Das „Hass-im-Netz-Bekämpfungs-Gesetz“ (BMJ) soll es Betroffenen ermöglichen, sich rasch und kostengünstig gegen Hasspostings zu wehren. Ein Passus lau-


 24 | ZUKUNFT  2020 – EIN RÜCKBLICK AUS BILDUNGSPOLITISCHER PERSPEKTIVE  VON FLORIAN RAINER tet, dass Internetdienste verpflichtet werden, rechtswidrige Inhalte binnen 24 Stunden zu löschen. Jedoch ist das Gesetz noch unwirksam, da viele Firmensitze von führenden Inter-netdiensten nicht in Österreich sind. 26. Dezember – Der dritte Lockdown tritt in Kraft. Ab  18. Jänner, vielleicht ab 24. Jänner soll der Präsenzunterricht wieder aufgenommen werden. 31. Dezember – Das Jahr schlummert ohne Silvesterfei- ern zu Ende. Und darin steckt die leise Hoffnung, dass es an-ders wird. Bedeutend anders. FLORIAN RAINER   ist Universitätsassistent im Arbeitsbereich Medienpädagogik am   Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. Er arbeitet zu   Fragen der Digitalisierung und ihren Auswirkungen auf philosophische,  kulturelle und gesellschaftliche Realitäten und Erlebensformen.   Mail: florian.rainer@univie.ac.at Literatur:Andresen, Sabine (2016): Normierte Kindheit – Kritische Anfragen an die Kind-heitsforschung, in: Becker, Ulrike/Friedrichs, Henrike/von Gross, Friederike/Kai-ser, Sabine (Hg.): Ent-Grenztes Heranwachsen, Wiesbaden: Springer VS, 17–30.Chuang-Blog (2020): Social Contagion. Microbiological Class War in China. Übersetzung: Jan Ole Arps, online unter: http://chuangcn.org/2020/02/social-contagion/ (letzter Zugriff: 06.01.2020).


 ZUKUNFT | 25  DOBROSLAV HOUBENOV Dobroslav Houbenov – Red- and Blackprint 2103 x 160 cm, 2015 © Dobroslav Houbenov


 26 | ZUKUNFT  LOCKDOWN IM STUDIUM  VON KARIM HALLAL Lockdown im Studium Der Beitrag von  KARIM HALLAL  liefert einen Rückblick auf das (verlorene) Jahr 2020 und fasst die Konsequenzen der  COVID-19-Pandemie für die Lebenswelt der Studierenden zusammen. I. EINLEITUNG 2020 war – gelinde gesagt – ein sehr ungewöhnliches Jahr.  Wir befinden uns nach wie vor in einer Pandemie, die nicht nur die körperliche und geistige Gesundheit massiv bedroht, sondern auch die wirtschaftliche Existenz vieler Menschen zerstört hat. Im folgenden Beitrag soll deshalb kursorisch auf die Schwierigkeiten verwiesen werden, die durch die Coro-na-Maßnahmen für die Universität und den üblichen Ablauf des Studiums entstanden sind. II.  ERSTE MASSNAHMEN Am 27. Februar 2020 hat die Universität Wien einen  Newsletter mit Informationen zum Coronavirus und zu ers-ten Maßnahmen zur Minimierung der Ansteckungsgefahr ausgesendet. Diese beinhalteten u. a. verstärkte Reinigung der universitären Räumlichkeiten und die Installation von Desin-fektionsspendern. Es wurde auf die Telefonnummer 1450 des öffentlichen Gesundheitsdienstes der Stadt Wien hingewie-sen, den man über diese Hotline bei Symptomen wie Fieber, Husten, Kurzatmigkeit oder Atembeschwerden kontaktieren sollte. In diesem Zusammenhang wurde auch auf die Empfeh-lung der österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernäh-rungssicherheit GmbH (ages) verwiesen: „•  Waschen Sie Ihre Hände mehrmals täglich mit Wasser und  Seife oder einem alkoholhaltigen Desinfektionsmittel. •   Bedecken Sie Mund und Nase mit einem Papiertaschen- tuch (nicht mit den Händen), wenn Sie husten oder niesen. •   Vermeiden Sie direkten Kontakt zu kranken Menschen“  (ages 2020) Zu diesem Zeitpunkt war den meisten Beteiligten der  Ernst der Situation keineswegs bewusst. Die Maßnahmen brachten aufs Erste keine Einschränkungen mit sich und ha-ben auch an der Universität das Studium nicht behindert. Doch bereits am 02. März 2020 wurde ein neues Informa-tionsblatt zur COVID-19-Situation veröffentlicht. In diesem Schreiben wurde u. a. darauf hingewiesen, dass die Regeln der Anwesenheitspflicht im Rahmen der ersten Einheit ei-ner prüfungsimmanenten Lehrveranstaltung wie gewohnt Be-stand haben und dass unentschuldigtes Fehlen zur Abmel-dung führt. Ausnahmen wurden nur aus folgenden Gründen gemacht:  „Alle Angehörigen der Universität, die typische Sympto- me der Erkrankung an sich feststellen oder sich in einem Ge-biet mit COVID-19-Erkrankungsfällen (Reisewarnungen des Außenministeriums) aufgehalten haben oder Kontakt mit da-ran Erkrankten hatten, sind aufgefordert, nicht an die Univer-sität Wien zu kommen. Dies gilt auch für Besucher*innen, Gäste etc.“ (Universität Wien 2020) III.  DISTANCE LEARNING? Sollten Studierende also bei der ersten Sitzung nicht er- scheinen können, wäre dies der LV-Leitung direkt mitzutei-len. Bei Abwesenheit sollte aufgrund der Situation kulant vor-gegangen werden. Anhand dieser Information können wir rückblickend erkennen, dass sich die Situation grundlegend verändert hatte und die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung nunmehr gegeben war. Aber auch zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine drastischen Einschränkungen für das Studium. Etwa eine Woche nach dieser Mitteilung, am 10. März 2020, gab die Universität Wien bekannt, dass der Studienbetrieb mit dem 11. März auf Distance Learning umgestellt werden musste:


 ZUKUNFT | 27  „An der Universität Wien werden von Mittwoch,  11.03.2020, bis voraussichtlich einschließlich Freitag, 03.04.2020, keine Lehrveranstaltungen/Prüfungen mit phy-sischer Präsenz abgehalten. Der Unterricht wird auf ‚home-learning‘ (insb. unter Benützung von E-Learning) umge-stellt.“ (Universität Wien 2020) IV. LOCKDOWN(S) Damit blieben von diesem Zeitpunkt an alle Räumlich- keiten der Universität geschlossen. Am 11. März verkündete dann die Regierung in einer Pressekonferenz die Schließung der Schulen und Universitäten, was für Bildungspolitik und Bildungsinstitutionen eine ernste Herausforderung darstellte. Auch Bibliotheken konnten nicht mehr wie gewohnt benutzt werden. Ab diesem Zeitpunkt wurde das Weiterkommen im Studium für viele Student*innen sehr erschwert. Nicht zu-letzt deshalb, weil angesichts des Digital Divide die sozialen Ungleichheiten mehr als deutlich wurden, da der Zugang zu Bildung – noch stärker als zuvor – von der digitalen Ausstat-tung in den Familien abhängig wurde. Prüfungen wurden abgesagt und verschoben. Lehrveranstaltungen mussten nun online abgehalten werden, wodurch teilweise die Möglich-keit für sozialen Austausch und Diskurs verloren ging. Auch die Lehrenden mussten sich umstellen, wobei für viele das E-Learning komplettes Neuland war. Dadurch wurde es beson-ders schwer, im Masterseminar mit den Kommiliton*innen von Angesicht zu Angesicht zu diskutieren und Ratschläge auszutauschen. Die physische Möglichkeit, sich nach einer Lehrveranstal- tung zu treffen, um das Gehörte und Erlebte zu wiederholen und zu besprechen sind indes ein äußerst wichtiger Aspekt des Studiums, der durch die Maßnahmen verloren gegangen ist. Dabei wurden die Universitätsangehörigen vor allem von der Schließung der Bibliotheken hart getroffen, da es nun kei-ne Möglichkeit mehr gab, Bücher zu bestellen und abzuho-len. Dies hatte zur Folge, dass die Zusammenstellung und das Lesen von Forschungsliteratur schwierig wurde und z. B. die notwendigen Vorbereitungen für Masterarbeiten behindert und eingeschränkt wurden. Dabei handelte es sich um Maß-nahmen, die nicht durchgängig nachvollziehbar waren, da sich sehr viele Abschlüsse verzögerten und Bücher teuer ge-kauft werden mussten. Für Student*innen, die wenig Geld zu Verfügung hatten, war – und ist – diese Beschränkung finan-ziell besonders belastend. V. SCHLUSS Hinsichtlich des Schwerpunkts dieser Ausgabe der ZU- KUNFT kann mithin betont werden, dass zumindest die erste Hälfte des Jahres 2020 für Student*innen ein verlorene Zeit war. Dennoch ist es bemerkenswert, dass Distance und Home Learning nach einem Semester der Umstellung auch so man-che Verbesserung und Erleichterung gebracht haben, da die Universität direkt auf die neuen Kommunikations- und Infor-mationstechnologien reagieren musste und angewiesen war. So eröffneten z. B. die Videokonferenzsysteme auch neue Formen der solidarischen Kommunikation, so wie auch man-che Prüfungen durch diesen „digitalen“ Modus leichter zu absolvieren waren. Zu hoffen bleibt – in allen Wortbedeutun-gen – dass wir nicht nur in, sondern vor allem aus dieser Kri-se lernen. KARIM HALLAL  studiert im Masterstudium Geschichtswissenschaften an der   Universität Wien und arbeitet derzeit an seiner Masterarbeit.   Als Bezirksrat ist er für die SPÖ-Margareten aktiv. Literatur:ages (2020): Empfehlung der österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernäh-rungssicherheit GmbH, online unter: https://tinyurl.com/yynow497 (06.012021)Universität Wien (2020): Mitteilung vom 10. März 2020, online unter: https://tiny-url.com/yywv88xk letzter Zugriff: 07.01.2021)


 28 | ZUKUNFT  TERRORIST SEIN  VON UTE MÜLLER-SPIESS I. EINLEITUNG Gibt man bei Google den Begriff „Terrorist“ ein, be- kommt man eine Fülle von mehr oder weniger wissenschaft-lichen Diskursen über Terrorismus, jedoch nur einige weni-ge Einträge über den Durchführenden, den Terroristen. Wer führt den Terrorismus durch, wer bricht mit dem Realen ein, in wessen Dienst? Welcher schwarze Gott leitet ihn? Medial ist zu lesen: Er mordete und verletzte sie, die Opfer, einzig aus Gründen ihrer Religion und ihrer Herkunft. Ist das so? Ohne Erkenntnis über den Täter bleibt Hilflosigkeit und  Polarisierung. Medial ist weiters zu lesen: Nach der Tat kennt den Terroristen jeder, niemand die Opfer. Stimmt das? Wei-ter: Der Täter wurde innerhalb von neun Minuten „ausge-schaltet“, „neutralisiert“. Wer kann da behaupten, er kenne den Täter und dessen intime Beweggründe? Und: Die Poli-zei hat in dieser Nacht einen hervorragenden Job gemacht. So steht es und es steht außer Diskussion, dass es auch so war. Was übrig bleibt, ist das Gefühl, nicht alles zu wissen. Der Terrorist, ein Mörder als Selbstmörder. Bei Søren  Kierkegaard ist nachzulesen: „Nicht einmal ein Selbstmör-der macht es jetzt in [seiner] Desperation mit sich ab, son-dern er überlegt [in der Regel], diesen Schritt so lange und so umständlich, bis er von Verständigkeit erstickt wird, so dass man daran sogar Zweifel hegen könnte, ob er wirklich ein Selbstmörder genannt werden darf, insoweit es doch vor al-lem der Verstand war, der ihm das Leben nahm“ (Kierkeg-aard 1846/1914: o. S.). Nun, welche Eigenschaften sind für den Terroristen einzigartig und essenziell? Nicht alle Aggressi-onsformen sind subsumierbar, selbst wenn sie auch zu unserer allgemeinen Verunsicherung beitragen. Terrorismus ist immer ideologisch bestimmt. Die jewei- lige Ideologie rechtfertigt die verübte Gewalt. Motive wie schlechte soziale und wirtschaftliche Umstände oder psychi-sche Störungen können zwar eine Rolle spielen, sind aber bei der Definitionslegung des Terroristen und Erklärung des Ak-tes, des „acting outs“ niemals von ausreichender Relevanz. Es ist Tatsache, dass Terrorismus und Ideologie fest verknüpft sind. Aber wie entwickelt sich darin die individuelle Motiva-tion? Wie kann die Psyche des terroristisch Aktiven damit in Verbindung gebracht werden? Welche seelische Abweichung oder Nichtabweichung wird uns nun beschäftigen? II.  DIE PSYCHOANALYTISCHE ZERRISSENHEIT Als Psychoanalytiker sind wir zerrissen zwischen (tiefer)  Abscheu solchen sozialen Schreckenstaten gegenüber und einer therapeutisch-analytischen Haltung, die uns tagtäglich beeinflusst. Oft werden mir Nachsicht, Toleranz und zu viel verständnisvolle Einstellung vorgeworfen. Jedoch kurzsich-tig gedacht. Den Terroristen als Opfer seiner Umstände zu sehen, wird niemals ausreichen. Diese psychologische Ein-stellung und Toleranz gegenüber Kriminalität würde in die-sem Fall sogar eine potenzielle Behandlung des Terroristen negativ beeinflussen. Die psychoanalytische Haltung birgt immer, seit Freud, das Wissen eines psychischen Kontinu-ums. Damit verwischen sich die Grenzen zwischen bewusst und unbewusst, zwischen phantasierten Taten und deren po-tenziellen Verwirklichung, zwischen Phantasie und Realität, zwischen normal und nicht normal. So ist beim Psychoana-lytiker und dem der Psychoanalyse verwandten, kundigen Menschen die strikte Unterscheidung zwischen Gut und Böse unterminiert. Terrorist sein In ihrem sehr persönlichen Text unternimmt die Psychoanalytikerin  UTE MÜLLER-SPIESS  den Versuch, die Psyche von  Terroristen jenseits von deren Verurteilung zu verstehen. Eine Reflexion angesichts des Anschlags vom 2. November 2020 in Wien.


 ZUKUNFT | 29  Zu einfach wäre es, den Terroristen als eine psychische  Aberration zu diagnostizieren. Vor dem Hintergrund des Wissens über menschliche Spaltungsmechanismen, z. B. pro-jektiver Identifizierung, laufen sogar Fachleute Gefahr, den Terroristen aus fehlgeleiteter Motivation zu verurteilen, da der Vorwurf, eigene Mordgelüste entlastend in den Terroris-ten zu projizieren, stets in den Augen des Gegenübers vermu-tet werden kann. Es wird leichter, wenn wir unsere Diskussi-on damit beginnen, dass wir den Terrorismus auf das Schärfste ablehnen, die Psyche des Terroristen jedoch – sei es auch lei-denschaftlich wie ich – hinterfragen wollen. Wir sind auf der Suche zu identifizieren, was den Terroristen zum Terroristen macht. Jugendliche beschäftigt nach dem Selbstmord eines an-deren häufig die Frage, „Könnte ich das auch?“ Keine Ant-wort ist in diesem Fall die beste: „Ich weiß es nicht“. Die er-leichternde Antwort, die den Unterschied zum Selbstmörder hervorhebt, muss ausfallen. Der ungarische Neurologe und Psychoanalytiker Sándor  Ferenczi beschreibt in der elastischen Therapie und Nachnäh-rung – ein treffend schöner Begriff – die Sprachverwirrung, die pathogenetische Wirkung und den Terrorismus leiden-der Mütter – eine Verbindung die Ferenczi erstmals in einem Vortrag 1932 erwähnt – und deren Auswirkung auf das sich schnell mit dem phantasierten Angreifer (der Mutter) identifi-zierende Kind. Das Kind, das viel zu früh in die Verteidigung der Mutter rutscht (vgl. Ferenczi 1967). Terrorismus sagt hier etwas über die Auslöschung der Existenz des Anderen aus, über jene Missachtung gegenüber den realen Bedürfnissen des Anderen, des Kindes der leidenschaftlich leidenden Mutter. Das Kind ergibt sich schnell in eine Art Auflösung seines Ei-gen und macht sich zum missbrauchten Handlanger der ma-sochistisch terrorisierenden Mutter.  III.  VON DER UNREIFE Auch Donald Winnicott spricht von einer Entwick- lung zur Delinquenz des Jugendlichen bei früher Deprivati-on: „Im Verlaufe des Entwicklungsprozesses der Pubertät und des Jugendalters gibt es immer irgendwo tief im Unbewuss-ten die Phantasie vom Tod irgendeines Menschen“ (Winni-cott 1971/2015: 164). Tod und eigener Sieg sind mit jedem Reifungsprozess und mit dem Eintritt des Erwachsenenal-ters verbunden. Das ist nicht nur eine Schwierigkeit für El-tern, sondern auch für jenen Jugendlichen, der voller Scheu vor Mord und Sieg, die zum Reifungsprozess gehört, zu uns in die Praxis kommt. Diese unbewusste Problematik kann als  Selbstmordimpuls, als tatsächlicher Suizid, aber bereits als im weitesten Sinn Mordslust (Anm. der Autorin: Erweiterung) verstanden werden. Damit sind wir beim Thema der Unreife des Jugendli- chen. Ein Kind, das zu früh die Verantwortung der Eltern tra-gen muss, wird seine Welt des Spiels, seine Spontanität und Kreativität nicht ausreichend erfahren können. Wenn Eltern genau in dieser Zeit, aus welchen Gründen auch immer, psy-chisch oder real bedingt verschwinden, in dieser Zeit, in der die Phantasie von Mord und Sieg den Jugendlichen leiten, danken sie in dem Augenblick ab, wo die Mörder kommen (vgl. ebd.: 165). Rebellion hat keinen Sinn mehr. Der Jugend-liche verfängt sich in seinen eigenen Schlingen, er muss Dik-tator werden und sich zur Wehr setzen, um nicht selbst getö-tet zu werden (vgl. ebd.). Hier gefährdet sich die Gesellschaft bereits, wenn sie die unbewusste Motivation ignoriert. Unrei-fe ist das Kennzeichen und die Kostbarkeit des Jugendlichen. Das Material aus der täglichen psychoanalytischen Praxis  könnte hier von Nutzen sein, über das Verständnis dieser Un-reife auch deren potenzielle Gefahr zu berücksichtigen. Jede Übereilung auf dem Weg zur Reife bringt eine falsche Reife, selbst wenn der Jugendliche sie verlangt und behauptet. Wenn wir uns also nicht beeilen (müssen), können wir sein Rin-gen als das Aufregendste, das das Leben bietet, auffassen. Sei-ne Vorstellungen von der idealen Gesellschaft sind herausfor-dernd, richtig und faszinierend. IV.  CONCLUSIO: DAS LEBEN UND DER TOD Auch die des Terroristen. Natürlich. Enthoben der äuße- ren Signifikanten wie Kultur und Religion erlebt der jugend-liche Terrorist (die meisten sind zwischen 18 und 25 Jahre alt) natürlich die gleichen Zeiten der Reifung und Unreife. Ide-alismus ist eine der Abfolgen. In unlösbarer Verknüpfung mit Terrorismus. Der jugendliche Terrorist besitzt wie jeder ande-re Jugendliche einen plötzlich in Brand gesetzten Idealismus. Keine Desillusionierung kann seine idealen Pläne schmälern. Deren Umsetzung kann nicht sein Problem sein, denkt der noch in der Phantasie lebende Jugendliche. Das ist die Ver-antwortung der Elternfiguren, weiß er. Der Terrorist jedoch ist wiederum deren Handlanger geworden, wie zu Zeiten der Kindheit, als er sich mit den Angreifern der Mutter, der El-ternfiguren identifizieren musste, um seinem Dilemma zu entrinnen. „Allahu Akbar“ rufen sie. Im Dienste unseres Got-tes, der Eltern und meines Gottes. Viel wichtiger, der der El-


 30 | ZUKUNFT  TERRORIST SEIN  VON UTE MÜLLER-SPIESS tern, für deren Glück ich morde und mich selbst morde. Seine Elternfiguren wollen und brauchen ungeachtet der äußeren Signifikanten ihre Kultur und Religion, um ein identes Le-ben leben zu können, um ausreichend zufrieden zu sein. Nur deren Glück bedeutet Sicherheit für mich als ihr Kind, einen sicheren Raum, um meinen Wunsch nach kindlichem Spiel nachholen zu können. In der unbewussten Phantasiewelt geht es nun um alles, um Leben und Tod. . UTE MÜLLER-SPIESS  ist Psychoanalytikerin und Fachärztin für Psychiatrie. Sie ist Mitglied  in der Wiener psychoanalytischen und internationalen psychoanalytischen  Vereinigung. Ihr Anliegen liegt in einer sozialdemokratischen   Positionierung und somit auch in der Verbindung von psychoanalytischen  und politischen Diskursen. Kontakt: mue-spi@aon.at Literatur:Ferenczi, Sándor (1967): Sprachverwirrung zwischen Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Leidenschaft und der Zärtlichkeit, in: Psyche 21, 256–265.Kierkegaard, Søren (1846/1914): Kritik der Gegenwart, Innsbruck: Brenner Verlag.Winnicott, Donald (1971/2015): Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart: Klett-Cotta


 ZUKUNFT | 31  DOBROSLAV HOUBENOV Dobroslav Houbenov – Blackprint 1144 x 100 cm, 2015 © Dobroslav Houbenov


 32 | ZUKUNFT  SOLIDARITÄT DER STERBLICHEN  VON ERKAN OSMANOVIĆ Solidarität der Sterblichen Mit viel Feingefühl zeichnet der Literaturwissenschaftler  ERKAN OSMANOVIĆ  das Jahr 2020 nach und verknüpft in  seiner Analyse Fakten aus unterschiedlichsten Wissensbereichen: Sein Essay ist ein Plädoyer für die Notwendigkeit einer echten, alle Lebensformen inkludierenden Solidarität unter besonderer Einrechnung unserer eigenen Sterblichkeit. I. EINLEITUNG Am 31. Dezember 2019 meldeten chinesische Behörden  offiziell eine neue Krankheit. Die Gesundheitskommission der Stadt Wuhan sprach von einer viralen Lungenentzündung. Ein unbekannter Virus in China: nur eine Schlagzeile – dach-ten viele. Eine Übertragung von Mensch zu Mensch? Aus-geschlossen. Der Erreger verbreite sich über die ganze Welt. Plötzlich war von infizierten Urlaubern in Ischgl die Rede. Die ersten Fälle an COVID-19 erkrankten Personen werden in Österreich gemeldet. Es folgten Mundnasenschutz, Dis-tanzregeln, Ausgangsbeschränkungen und geschlossene Gren-zen in Europa. Der Alltag verwandelte sich in eine neue Nor-malität. Die Menschen sprachen nicht mehr über das Wetter, sondern über den Lockdown: Schulen und Universitäten machten dicht. Betriebe schickten ihre Mitarbeiter*innen, wenn es ging, ins Home Office. Die meisten Geschäfte schlos-sen. Der erste Lockdown führte zu fehlenden Einnahmen und Produktionsausfällen. Fast alle Branchen waren betroffen: Der Tourismus, die Gastronomie und die Kulturszene waren die größten Verlierer der Pandemie. Konzerthallen, Theater, Mu-sikclubs, Kinos – geschlossen. Plötzlich waren viele in der Kulturszene arbeitslos. Flüge wurden gestrichen, Reiseunter-nehmen fürchteten die Pleite, tausende Menschen wurden in die Kurzarbeit geschickt. Restaurants, Lokale und Cafés wa-ren ebenfalls für Wochen geschlossen. Mit Soforthilfen soll-ten Unternehmen, Kleinbetriebe und Freiberufler*innen un-terstützt werden.  Über Nacht wurden alle zu Virolog*innen. Die Schlag- zeilen voll mit denselben Begriffen: Lockdown, Quaran-täne, Risikogebiete, Kontaktbeschränkung, systemrelevant, Corona-App. Die Maske wurde zum Accessoire des Jahres.  Die Menschen wurden sich ihrer Leiblichkeit und Sterblich-keit bewusst. Man merkte plötzlich, man ist ein biologisches Wesen. Ein Stück Natur, das nach einem Virusbefall nicht einfach wieder hochgefahren werden kann. Die Bilder von überfüllten Leichenhallen in Italien, den USA und Frankreich werden zum visuellen Topos der Fernsehsender. Es ist die Rede von zu vielen Erkrankten, zu wenig Intensivbetten und von Christian Drosten. Der Direktor des Instituts für Virolo-gie an der Charité in Berlin wird zum gefragtesten Experten im Corona-Jahr. Er bekommt einen eigenen Podcast: Seine Stimme wird zum täglichen Begleiter. Nicht nur Angela Mer-kel, sondern auch die österreichische Regierung sucht seinen und den Rat vieler weiterer Wissenschaftler*innen. Die Corona-Krise beschert den Regierungsparteien ein  Umfrage-Hoch. Wären Ende März 2020 Nationalratswahlen gewesen, hätte die ÖVP mit 43 Prozent und die Grünen 19 Pro-zent rechnen können. Das ging aus einer für die Tageszeitung Der Standard durchgeführten Umfrage des Linzer Market-Ins-tituts hervor. Auch die bundesdeutsche Große Koalition, aus CDU/CSU und SPD, findet sich in einem Langzeit-Hoch. Die österreichische Regierung genießt hohe Zustimmungswerte und bespielt das Land mit wöchentlichen Pressekonferenzen. Der Großteil der Menschen hält sich an die Regelungen, doch es gibt auch diejenige, die auf ihre Freiheit und die Eigenver-antwortlichkeit pochen. Ihre Zahl steigt, aber sie bleiben die Minderheit. Allerdings verirren sich einige in Verschwörungs-gedanken. Viele kämpfen mit der Einsamkeit, andere mit der Zweisamkeit auf engem Raum, wieder andere mit der Ver-einbarkeit von Kinderbetreuung und Home Office. Die Co-rona-Pandemie brachte – und bringt leider weiterhin – viel Schmerz und Leid. Doch machte der Virus nicht auch noch was anderes mit den Menschen? Begannen wir nicht mehr 


 ZUKUNFT | 33  Rücksicht zu nehmen und uns gegenseitig beizustehen? War nicht wieder die Rede von Solidarität und Zusammenhalt?  II.  EINE NEUE SOLIDARITÄT 2020 war das Jahr der Solidarität. Im März rufen die meis- ten Regierungen der Welt zu Solidarität auf. Die Mehrheit der Bevölkerung folgt den Aufrufen. Schließlich hat die Pan-demie Ungleichheiten in der Schule, im Beruf und im Ge-sundheitswesen nicht nur sichtbarer gemacht, sondern auch verstärkt. Von einem Tag auf den anderen standen viele vor dem beruflichen und finanziellen Aus. Die Bertelsmann Stiftung veröffentlichte Mitte August die  repräsentative Studie Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutsch-land 2020. Die Autoren Thorsten Brand, Robert Follmer und Kai Unzicker befragten verschiedene Personen einmal im Fe-bruar bzw. März und erneut im Mai bzw. Juni zu Hilfsbereit-schaft und Zusammenhalt. Im Februar – als es in Deutschland nur wenige Infizierte gab – stimmten noch vier von zehn der Aussage zu: „Die Leute kümmern sich nicht um ihre Mit-menschen.“ Im Mai und Juni waren es nur mehr Zwei von Zehn. Ein Drittel der Befragten sah inmitten der Krise einen größeren Zusammenhalt. Nur ein Zehntel meinte, der Zu-sammenhalt habe während der Pandemie gelitten. Etwa ein Drittel erklärte, dass es Menschen in der Nachbarschaft unter-stützt habe – in der Altersgruppe der 25- bis 39-Jährigen war es sogar die Hälfte. Dabei gilt, dass es soziale Gruppen gibt, die den Zusam- menhalt als schwächer empfinden. In der Studie heißt es dazu: „Wer allein lebt oder alleinerziehend ist, wer einen Migrati-onshintergrund hat oder nur über geringes Einkommen ver-fügt, empfindet den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Gesellschaft als schwächer. Dies gilt auch für Menschen, die über Einschränkungen in ihrem Alltag, zum Beispiel durch körperliche Behinderung oder Erkrankung, berichten. Ein niedrigeres Bildungsniveau geht auch mit geringerem Zusam-menhaltsempfinden einher. Darüber hinaus lässt sich feststel-len, dass im Mittel die Anhänger bestimmter Parteien, näm-lich  CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, SPD und FDP, eher einen starken Zusammenhalt erleben als die Anhänger der Partei Die Linke oder politisch Ungebundene. Von einem be-sonders geringen Zusammenhalt berichten die Anhänger der AfD.“ Eine Krise sei ein Realitätscheck für den gesellschaft-lichen Zusammenhalt, erklärt Kai Unzicker, gegenüber der deutschen Wochenzeitung Die Zeit und ergänzt, in der Coro- na-Pandemie habe sich gezeigt, welch solidarische Grundhal-tung die Menschen in Deutschland haben. In Österreich hat sich das Team der Forschungsgruppe  Zeitgenössische Solidaritätsstudien der Universität Wien seit April 2020 dem gesellschaftlichen Zusammenhalt gewidmet. In ih-rer Studie Solidarität in Zeiten der Pandemie – Was machen Men-schen und warum? befragen die Forscher*innen Menschen in Österreich über ihren Umgang mit den Einschränkungen und Herausforderungen. Während im April noch viele den Maßnahmen der Regierungen zustimmten, auch wenn eini-ge von ihnen an der Effektivität und Rechtskonformität der Regelungen zweifelten, „waren sie überzeugt, dass es wich-tig sei, einen eigenen Beitrag zur Pandemie-Bekämpfung zu leisten und insbesondere auch andere Menschen nicht in Ge-fahr zu bringen. Insgesamt erlebten wir in diesen Interviews einen eher hoffnungsvollen Diskurs, ein Gefühl des Miteinan-ders und des Zusammenhalts.“ Bei der zweiten Interviewpha-se im Oktober 2002 zeigte sich, dass die Menschen die neue-ren Maßnahmen der Regierung weder nachvollziehen noch verstehen konnten. Doch obwohl den Teilnehmer*innen der Befragung weder Sinn noch Zweck vieler Maßnahmen ein-leuchten, hielt sich eine Mehrheit daran. Der Grund? Res-pekt und Solidarität: „Selbst jene, die nicht uneingeschränkt von der Wirksamkeit aller Maßnahmen überzeugt sind, hal-ten sich primär aus Respekt vor anderen daran. Vor allem das Tragen eines Mund-Nase-Schutzes sowie das Einhalten von Mindestabständen gelten hier als Zeichen des Respekts ge-genüber anderen. Auf die genaue Einhaltung der oben ge-nannten Maßnahmen wird vor allem in der Nähe von Perso-nen die Risikogruppen angehören geachtet.“  Und auch ein Blick in die Google Trends zeigt, die Men- schen haben seit dem Ausbruch der Pandemie immer öfter nach Solidarität, häufig in Kombination mit „Corona“, ge-sucht. Trotz der Corona-Müdigkeit will eine Mehrheit der Menschen in Österreich und Deutschland solidarisch leben und empfindet auch einen starken Zusammenhalt. Solidarität ist also wieder ein Thema geworden. Denken wir zurück an den ersten Lockdown wird klar warum: Der Bewegungsradius der meisten Menschen hatte sich verkleinert und so wurden etwa die Bäckerei ums Eck, der gegenüberliegende Imbiss-stand oder die Greißlerin nebenan wichtiger für uns. Die Ge-schäfte und Lokale in der eigenen Wohngegend haben eini-ge zum ersten Mal wahrgenommen und kennengelernt. Viele machten aus der Not eine Tugend und lernten ihre Nachbar-schaft besser kennen. Nachbar*innen brachten und bringen 


 34 | ZUKUNFT  SOLIDARITÄT DER STERBLICHEN  VON ERKAN OSMANOVIĆ immer noch Einkäufe für ältere Hausbewohner*innen mit, organisieren Lernhilfen oder unterstützen sich gegenseitig bei der Kinderbetreuung. Die Krise lässt viele Menschen solidari-scher handeln, aber ist sie auch ein Wendepunkt? III.  WIR SIND STERBLICH Der niederländische Historiker Rutger Bregman ist sich  sicher, dass Menschen zum Guten neigen – auch wenn der Mensch gern als böse betrachtet werde. Dies habe er wäh-rend der Recherche zu seinem Buch Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit bestätigt bekommen. So begegnete er etwa im Jahre 2017 einigen Männern, die als Jugendliche in den 1960er Jahren auf der unbewohnten Insel ’Ata im Südpa-zifik gestrandet waren. Sie hatten dort monatelang auf Ret-tung warten müssen und nur dank enger Kooperation hätten sie überlebt. Daher glaubt er auch, dass viele Menschen in der Corona-Krise dazulernen, weil sie Solidarität hautnah erle-ben. Schließlich haben Milliarden ihre Art zu leben geändert, um das Leben der Anderen und das eigene zu schützen. „Der Tod ist nichts, was uns vereinzelt und individualisiert, son-dern etwas, was uns verbindet, was wir miteinander teilen“, erklärt der Philosoph Thomas Macho in einem Interview mit Der Standard vom 31. Dezember 2020. Mit Blick auf die Coro-na-Pandemie meint er, diese werde unser Mobilitätsverhalten verändern. Außerdem könne diese Erfahrung zu einem Wen-depunkt für unser Zusammenleben werden und unseren Blick auf die Mensch-Natur-Beziehung ändern. Da erscheint es geradezu schicksalshaft, dass in diesem Jahr  Louise Glück mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeich-net wurde. Die Gedichte der in New York geborenen Lyrike-rin fragen nach der Beziehung zwischen Natur und Mensch, aber auch nach unserer Vergänglichkeit – die uns mit der Na-tur verbindet. So versetzt sich Glück in ihrem Gedichtband  Wilde Iris im gleichnamigen Gedicht etwa in eine Pflanze, die sich ihrer Sterblichkeit bewusst wird:  Am Ende meines Lebensfand sich eine Pforte. Hört mir zu: an das, was ihr Tod nennt,erinnere ich mich. Über mir Geräusche, schwankende Kiefernzweige.Dann nichts. Die schwache Sonneflirrte über der trockenen Fläche. Es ist furchtbar, als Bewusstseinzu überleben,begraben in der dunklen Erde. Dann war es vorbei: was ihr fürchtet,eine Seele zu sein und nicht sprechenzu können, nahm ein jähes Ende, die harte Erdegab etwas nach. Und was ich für Vögel hielt,huschte durch niedriges Gebüsch. Euch, die ihr euch nicht erinnertan den Übergang aus der anderen Welt,sage ich, ich konnte wieder sprechen: was immerzurückkehrt aus dem Vergessen, kehrt zurück,um eine Stimme zu finden:aus der Mitte meines Lebens sprangeine hohe Fontäne, tiefblaueSchatten auf Meeresazur. Bereits der griechisch-französische Philosoph und Psycho- analytiker Cornelius Castoriadis sah in der Sterblichkeit des Menschen den Ausgangspunkt des politischen Imaginären des antiken Griechenlands. So schreibt er in seinem Aufsatz Das griechische und das moderne politische Imaginäre: „Für die Griechen ist das Wesentliche die Sterblichkeit. Ich kenne keine ande-re Sprache, in der das Wort sterblich die Bedeutung mensch-lich und menschlich die Bedeutung sterblich hat. Zwar findet man in der französischen Dichtung ab dem 17. Jahrhundert den Ausdruck ,die Sterblichen‘, doch ist er bloße Bildungs-reminiszenz und entspringt nicht dem Geist der Sprache,  d. h. der Gesellschaft selbst. Hingegen sind die Menschen für die Griechen thnêtoi, Sterbliche; Menschsein bedeutet genau das. Daher die häufig, in der Tragödie und anderswo, anzu-treffende Mahnung, thnêtoi phronein, denken wie ein Sterbli-cher: Bedenke, dass du sterblich bist.“ Diese Gemeinschaft der Sterblichen ist es auch die Thomas Macho beschwört, wenn er auf eine neue Form der Solidarität hofft: „Wir teilen unsere Sterblichkeit und Verletzlichkeit mit allen Lebewesen auf die-sem Planeten. Vielleicht könnte sich aus dieser Erfahrung ein utopisches Gemeinschaftsgefühl entwickeln.“ Doch wie kann die Solidarität der Sterblichen, mit der Sehnsucht nach Über-leben in Einklang gebracht werden? IV.  WAS IST MIT DEM KLIMA? Niemand kann sagen, wie sich die Corona-Pandemie im  Bewusstsein der Menschen verankern wird. Die Impfdosen 


 ZUKUNFT | 35  finden in den nächsten Wochen und Monaten ihren Weg zu den Menschen – egal, ob dezentral oder flächendeckend. Für die einen ist die Pandemie Stillstand oder sogar Langeweile, für immer mehr Menschen jedoch bedeutet sie Leid, Unsi-cherheit und Angst. Erscheint es geschmacklos in dem Na-turereignis Corona auch eine Chance zu sehen? Könnte nicht genau jetzt der Zeitpunkt sein, über unsere Zukunft nach-zudenken? Der Staat greift im Moment viel mehr in unser Leben und die Wirtschaft ein, als wir für denkbar gehalten hätten. Doch sollte er das auch tun? Könnte der Staat in der Zukunft Milliardenkredite und Zuschüsse an Klimaauflagen knüpfen? Müssten wir uns nicht auch gegenüber der Natur solidarischer verhalten? Seit die WEltwirtschaft durch die Lockdowns zum Erlie- gen gekommen ist, müssen und können Millionen von Men-schen nicht mehr mit dem Auto zur Arbeit fahren oder das Flugzeug als Transportmittel nutzen. Der neueste Bericht des Global Carbon Projekts, ein Zusammenschluss von 86 internationalen Klimaforscher*innen, vermeldet: fossile CO2-Emissionen sanken 2020 um 7 % im globalen Schnitt. Gleichzeitig scheint es, als hätte es die Klimakrise nie gege-ben. Die Jugendlichen von Fridays for Future stecken zu Hau-se fest. Statt Großdemonstrationen auf die Beine zu stellen, organisieren sie nun Podcasts und Webinare. Die UN-Klima-konferenz 2020 musste infolge der COVID-19-Pandemie auf den November 2021 verschoben werden. Zwar hat der Vi-rus die Klimakrise nicht aus der Wirklichkeit geschoben, al-lerdings aus den Schlagzeilen der Talkshows und Tageszei-tungen – damit auch aus dem Bewusstsein der Menschen. In der aktuellen Situation ist das verständlich: Die Sterberate bleibt weltweit auf einem hohen Niveau und die Infektions-zahlen galoppieren davon. Doch irgendwann endet die Pan-demie. Und dann? Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen fragt  in seinem gleichnamigen Buch: Wann hören wir auf, uns et-was vorzumachen? Dort heißt es, wir würden die Klimakrise nicht mehr kontrollieren, die Katastrophe nicht verhindern können. All unsere Bemühungen, etwa das Pariser Abkom-men, das Zwei-Grad-Ziel, Fridays for Future – all das kom-me zu spät. Aber aufgeben sollen wir nicht. Nein. Wir sol-len uns darauf besinnen, was uns im Leben wichtig ist. Den Klimawandel aufzuhalten, sei nicht mehr möglich, erklärt Franzen, jetzt sei die Zeit, sich auf die Folgen vorzuberei-ten: Überschwemmungen, Waldsterben und mehr flüchten-de Menschen. Es gilt unsere Gesellschaften und Demokratien  zu wappnen. Das sieht der deutsche Soziologe Harald Welzer ganz anders. Denn für ihn sind Corona und Klima zwei art-verwandte Krisen. Der Unterschied? Man sehe die Toten des Virus schneller. Während die Klimakrise diejenigen treffen werde, die heute noch jung sind. Im deutschen Magazin stern vom 6. April 2020 erklärt er, der Umgang mit dem Corona-Virus sei eine Lerngeschichte des zivilisatorischen Fortschrit-tes. Da man in vielen Ländern einen solidarischen Umgang mit der Pandemie erlebe, gebe es die Chance, dass die Ge-sellschaft diese Erfahrungen künftig auf die Klimakrise über-tragen werde. Leider verrät er nicht, wie das genau funktio-nieren könnte. V.  LIEBE ZUM VERBOT Am 19. August 2020 sprach die deutsche Talkshow-Mo- deratorin Sandra Maischberger mit dem Philosophen und Pu-blizisten Richard David Precht über Corona und die Klima-krise. Während der Corona-Krise hätten Regierungen rund um den Erdball in einigen Bereichen mit ihren Maßnahmen überreagiert. Doch da es in der jüngsten Vergangenheit kein vergleichbares Szenario als Orientierungshilfe gegeben hat-te, wäre das in der Natur der Sache gelegen. Doch er sah sich durch die Ereignisse auch in einer Diagnose vom letz-ten Jahr bestätigt. Er hatte behauptet, dass Menschen, wenn es um ihre elementaren Sicherheitsinteressen gehe, Verbo-te lieben würden. Damals hagelte es Kritik für Precht. Doch lässt man die letzten Monate Revue passieren, muss man ihm zustimmen. Denn ein Großteil der Bevölkerung Österreichs und Deutschlands fühlte sich unter den erteilten Einschrän-kungen – vor allem während des ersten Lockdowns – sicher und befolgte daher die Maßnahmen. Bei Corona, so Precht, werde von Auszeit und Stillstand gesprochen, doch beim Kli-ma brauche es einen Abbruch. So müsse es bei der Klimakri-se um Verbote gehen. Dass die Menschen weniger Angst vor dem Klimawandel als vor Corona hätten, liege daran, dass die Klimakrise nicht so unmittelbar sei. Die Coronakrise könne man mit finanziellem Aufwand in den Griff bekommen, da-gegen verlange die Klimakrise Verbote bestimmter Geschäfts-modelle, wie etwa Kreuzfahrten oder SUVs. Schließlich bedür-fe es politischer Entscheidungen, die etwa auch Forderungen der  Fridays for Future-Bewegung ernst nehmen, um Verbote durchzuführen. Als Sandra Maischberger ihn daraufhin frag-te: „Sie sind radikal, nicht?“ entgegnet Precht, dass es nicht radikal sei, es gelte einfach nur ernsthafte vernünftige Politik zu machen, und nicht die Augen zu verschließen: „Mit einem Wort, was ich hier fordere, ist Realpolitik.“ 


 36 | ZUKUNFT  SOLIDARITÄT DER STERBLICHEN  VON ERKAN OSMANOVIĆ Für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft gilt es zu  kämpfen. Könnte nicht genau das eine Lehre aus dem letz-ten Jahr sein? Allerdings bedeutet das in der Zukunft nicht nur unseren Nachbar*innen zu helfen, sondern auch Tiere, Pflanzen, das Klima zu schützen: Das wäre echte Realpolitik –  Thnêtoi phronein!  ERKAN OSMANOVIĆ ist Veranstaltungsorganisator, Literaturwissenschaftler und   Hochschullehrer. Er lebt und arbeitet in Wien und Brno. Zuletzt u. a.:   „Wer man gewesen war. Untersuchungen zum Suizid in der   österreichischen Literatur des 20. Jahrhundert anhand  von ausgewählten Werken“ (2018). Literatur:Bregman, Rutger (2020): Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Aus dem Niederländischen von Ulrich Faure und Gerd Busse, Hamburg: Rowohlt.Brand, Thorsten/Follmer, Robert/Unzicker, Kai (2020): Gesellschaftlicher Zusam-menhalt in Deutschland 2020. Eine Herausforderung für uns alle. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsstudie, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.Castoriadis, Cornelius (2011): Das griechische und das moderne politische Imaginä-re, in: Philosophie, Demokratie, Poiesis. Ausgewählte Schriften. Band 4. Hg. von Michael Half brodt & Harald Wolf, Frankfurt am Main: Verlag Edition AV, 93–121.Forschungsgruppe ,Zeitgenössische Solidaritätsstudien‘ (2020): Solidarität in Zeiten einer Pandemie – Was machen Menschen und warum?, online unter: https://tiny-url.com/y4hc8c2d (letzter Zugriff 05.01.2121) Franzen, Jonathan (2020): Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können, Hamburg: Rowohlt.Glück, Louise (2020): Wilde Iris, München: Luchterhand. Precht, Richard David (2020): [Im Gespräch], maischberger. die woche, 19.08.2020, ARD, online unter: https//tinyurl.com/yyz4apes (letzter Zugriff 05.01.2021)


 ZUKUNFT | 37  Dobroslav Houbenov –  Red- and Blackprint 4 200 x 50 cm, 2015 © Dobroslav Houbenov DOBROSLAV HOUBENOV


 38 | ZUKUNFT  Dobroslav Houbenov – Red- and Blackprint 3103 x 160 cm, 2015 © Dobroslav Houbenov


 ZUKUNFT | 39  DOBROSLAV HOUBENOV


 40 | ZUKUNFT  GEDICHTE ÜBER PLANETEN UND MUSIK  VON AUGUSTA LAAR & THOMAS BALLHAUSEN 0. In Augusta Laars neuem Lyrikband „knallt“ die sprich- wörtliche Party „(bis die augen hören)“: Ganz gemäß den strategischen Lesehilfen von „rmx“ oder „feat.“ legt sie mit Avec Beat ein Buch als literarisches „mixtape“ vor. Die Refe-renzen reichen dabei nicht nur von Kurt Cobain bis Marshall McLuhan, von Elvis Presley bis John Cale – immer wieder greift Laar auch auf Segmente eigener Texte zurück. Im An-sinnen die Tanzbarkeit von Lyrik erfahrbar zu machen wird Autor*innenschaft als DJ-Praxis realisiert. Das aufgerufene „Schallplattenauflegen“ erlaubt das (Neu-)Erzählen mit gege-benem, ja gefundenem Material. Die Quellen werden zitiert, verändert, verschaltet; Laar macht die Seiten dieses schmalen Bändchens als Räume begreifbar, als dance floors auf denen sich die Gedichte drängen. Über Grenzen von Genres und Sinner-fahrungen hinweg wird in Avec Beat Sehnsucht zelebriert, auf die riskante, nächtliche Weisheit des Körperlichen vertraut: „einmal nur tanzen/auf deinem bildschirm“. Augusta Laars wunderbares Buch ist nicht nur der perfekte Lesestoff gegen die Tristesse und Zumutungen der Gegenwart, es ist vielmehr auch ein perfektes Beispiel für die Lebendigkeit und Vielge-staltigkeit deutschsprachiger Lyrik.  I. Thomas Ballhausen: Du hast mit Avec Beat einen neuen  Lyrikband vorgelegt, der im Corona-Jahr 2020 erschienen ist – und eines meiner literarischen Gegengifte zur Krise war. Wie haben sich die Arbeiten an dem Band gestaltet? Augusta Laar: Ich habe schon ein Jahr vor Corona mit  dem Band angefangen und Texte bearbeitet und zusammen-gestellt. Aber besonders die Zeit von Herbst 2019 bis Mai 2020 war der Arbeit an Avec Beat gewidmet. Der Titel war  von Anfang an da, ich hatte dieses gleichnamige Gedicht als Start- und Anhaltspunkt gewählt und habe dann sowohl neue Texte darauf zu geschrieben, wie auch ältere neu bearbeitet. Da ich dieses schöne Projekt vor mir hatte, habe ich den ers-ten Lockdown 2020 gut nutzen können, um den Band auszu-arbeiten und fertigzustellen, die Überarbeitungen zu gestalten und mich mit den Zeichnungen auseinanderzusetzen. Ursprünglich war das Buch auf das frühere Black Ink-For- mat ausgerichtet, mit einem Gedicht pro Seite. Der Verlag hatte sich aber Anfang 2020 entschlossen mit meinem Band eine neue Lyrikreihe zu starten, mit einem neuen Hochfor-mat, aber mit weniger Seiten als das ursprünglich geplante Buch. Dadurch haben sich die Texte verändert, neue Bezü-ge wurden notwendig, oder ergaben sich einfach von selbst. Ab dem Frühjahr hatte ja kein Club mehr geöffnet, ich  konnte daher auch nicht mehr als DJ arbeiten. Ich habe dann eben (noch) mehr Musik zu Hause gehört, meine Platten-sammlung aufgestockt und verstärkt nach Musik im Netz ge-forscht. In meiner Vorstellung passen die Texte zu bestimm-ter Musik oder können dazu gelesen werden. Oder es ergibt sich allein durch die Titel, Untertitel und Verweise ein eige-ner Soundtrack, eine Bewegung. In den späten 1950er Jah-ren bzw. Mitte der 1960er Jahre gab es die Easy Listening Se-rie Music to … : Music to watch girls by, Music to listen to records by, Music to drive by, Music to break a lease, Music to read James Bond by u. v. m. Diese und ähnliche Platten(-titel) haben dann eine Arbeitsweise mit echter und fiktiver Musik im Kopf in Gang gesetzt und die Texte nachhaltig be-einflusst, verändert und zueinander in Beziehung gesetzt. Ich hatte ja vorab ein Remix-Bändchen meiner eigenen Texte ge-plant, habe dann nach dem Angebot für die Veröffentlichung das Konzept erweitert und neue Texte integriert. Das erwei- Gedichte über Planeten  und Musik Autorin  AUGUSTA LAAR  im Gespräch mit  THOMAS BALLHAUSEN  über künstlerische Herausforderungen in Zeiten  von Corona, medienübergreifende Schreibprozesse und die unerschöpflichen Möglichkeiten von Pop – Textproben inklusive.


 ZUKUNFT | 41  terte Konzept hat mir die Auswahl auch leicht gemacht, da ich ein Hintergrundrauschen, einen Grundbeat für die Texte gestalten konnte. MU’ZI:K M (deep house mix) die hölle dieheilige fahrtvon innennach innensprengkörper und ohrenabgeschnitten die party knallt abwärtsaufwärtsgefräßigmit der gitarre den kopf abgetrennt(bis die augenhören) II. T.B.: In welcher Form schreibt sich die Gegenwart – auch,  aber eben nicht nur als Herausforderung – in Deine Texte ein? A.L.: Die erste Entstehungszeit des Bandes war zunächst  noch in 2019. Dann gab es die erste Phase Corona in 2020 mit Lockdown, eher eine Zeit des Innehaltens, der Neu-gier und auch eine in merkwürdiger Hinsicht abenteuerliche Zeit. Wir lebten plötzlich in der Szenerie eines etwas abge-standenen Science-Fiction-Films, das war durchaus anregend. Inzwischen haben wir 2020 hinter uns, längst den zweiten Lockdown, der dritte wird bereits prognostiziert, und wir le-ben den Corona-Alltag. Jarvis Cocker moderierte zuletzt eine Sonntagssendung bei BBC 6 Music mit dem Motto „to bring back the boringness into Sundays“ – den Sonntagen ihre Lan-geweile zurückgeben. So fühlt sich momentan der Alltag mit Corona an, die Langeweile ist wieder da, permanenter Sonn-tag in der Provinz: niemanden treffen oder wenn, dann nur vereinzelt im Freien, kein Kino, kein Café, kein Theater, kein Konzert, keine Auftritte, weder als Dichterin noch als Musi-kerin usw., die Tage ziehen sich hin. Und ich kann der Lan- geweile durchaus etwas abgewinnen, die Zeit dehnt sich, sie vergeht nicht so schnell, der Schlaf- und Wachrhythmus än-dern sich. Die Gegenwart bin ich, sie spiegelt sich aber auch für mich in der Musik und den Alben, die ich hörte und höre und zu meinen Texten in Bezug setze. Dadurch vibriert für mich die Gegenwart in jedem Text, selbst wenn es Musik aus einer Vor-Corona-Zeit ist, denn Pop-Musik oder Jazz oder Elektronik ist sowohl Spiegel wie auch Vorbote der Zeit. INSTRUKTION # 1kaufe ein gebrauchtes Saturn V-triebwerkBei Amazon Warehouse Deals(welcome back) und genieße die schwerkraft III. T.B.: Du scheust, was ich sehr wichtig und sympathisch  finde, in Deinen Arbeiten nicht davor zurück, Referenzen aus unterschiedlichsten Ebenen zu integrieren. Wie sieht Deine Recherche- bzw. Dein Schreibprozess aus? Wie verhält sich Avec Beat dahingehend zu früheren Arbeiten, etwa Deinem Gedichtband Planet 9? A.L.: Ich führe ein permanentes Notizbuch, in dem ich  Gedankensplitter oder Kurz-Notate festhalte, auch Songtitel, Zitate aus Kunst, Wissenschaft, Musik, Filmen oder Sprach-spiele, gefundene Wörter, Zeichnungen, alles was mir inter-essant vorkommt. Es gibt mehrere dieser kleinen Hefte, die ich mit mir trage, mal das eine oder andere, manches dar-in wird nie verwertet, anderes findet Einzug in meine Tex-te. Dann lasse ich mich inspirieren von Intuition zu Intuition, surfe mal da mal dort und finde Wörter oder Szenen, die mich interessieren. Das kann man als eine einzige große Collage se-hen, insofern auch ein Akt der bildenden Kunst. Ich arbeite nun zum zweiten Mal mit einem Titel als Anfangspunkt ei-nes Buchs. Bei Planet 9 fiel mir dieser Titel quasi zu, eine Zei-tungsnotiz: 2016 finden Astronomen Hinweise auf die Exis-tenz eines möglichen neunten Planeten im Sonnensystem, das hat mich total fasziniert. Es gibt einen neuen Planeten aber wir können ihn nicht sehen, weil er zu weit weg ist, die Ast-ronomen schlossen nur anhand der Bewegungen von Objek-ten im Kuipergürtel auf die Existenz von Planet 9. Also es gibt ihn, es gibt ihn aber auch nicht. Planet 9 als Astro-Phantom, als poetisches Pop-Phänomen, das hat mich begeistert. Ich habe dann mit dem Titelgedicht begonnen, mit genau dieser Fragestellung, und die restlichen circa fünfzig Gedichte nach 


 42 | ZUKUNFT  und nach dazu entworfen. Es kamen dann ergänzend jeweils zehn Instruktionen und einige Fragmente dazu, die den Zy-klus strukturieren und Zäsuren bilden, anstelle von Kapiteln. PLANET 9 ist vielleicht kein planetoder er ist es doch – ursachedes dinosaurier sterbens undauf Twitter: nein Planet 9wird die erde nicht zerstörendanke der nachfrage – the worst film of all time: Plan 9from Outer Space unspeakablehorrors paralyze the living andresurrect the dead Bela LugosiVampira Lyle Talbot producedby Edward D. Wood Jr. - es tut uns leid ein fehler istaufgetreten die spitzen endender ellipsen zeigen alle in diegleiche richtung der planetigsteder planeten ist vielleicht keinplanet oder er ist es doch Die Referenzen zur Pop-Kultur suche ich oft bewusst  aus, oft genug fallen sie mir aber auch einfach zu. Ich sehe mich selbst als innerhalb der Pop-Kultur sozialisiert und von ihr geprägt. Pop-mäßig bin ich als Teenager mit Led Zep-pelin in der Hitparade aufgewacht, die mein kleines Radio zum Wummern brachten, Popmusik war das erste das anders war als alles was ich kannte, Pop sprach direkt zu mir und den Menschen um mich herum. Musik war ein Weltentwurf. Auf einer Party hörte ich mit 17 eine frühe Platte von John McLaughlin und diese Musik wirkte zutiefst körperlich auf mich. Großartige Erfahrungen, die mich bis heute prägen. Ganz anders als Eltern oder Schule, es ließ mich lebendig füh-len. Zum Pop gehören auch nicht nur Musik, sondern auch Film, Mode oder die Art zu leben, eine bestimmte Haltung eben. Auch ein Café in Venedig, das nach dreihundert Jahren schließen muss, ist für mich Pop. IV. T.B.: Schon der Titel von Avec Beat macht deutlich, dass  Musik und ihre Kontexte für diesen Band von wesentlicher Bedeutung sind. Welche Formen von Musik, Musikalität oder auch Club-Kultur sind da in den Band eingegangen? A.L.: Für mich war der Umgang und die Beschäftigung  mit Musik und Musiker*innen immer der richtige Weg, der mich bereichert und mir Freude gemacht hat. Für Avec Beat habe ich u. a. neue Platten (von 2020) gehört und u. a. Al-bum- oder Songtitel ausgesucht, die für meine Texte pass-ten, oder mich inspirierten, meine Texte umzugestalten, oder meinen Flow als DJ beleuchten, als Untertitel oder dynami-sche Bezeichnungen wie z. B. deep house mix oder  a cappella rmx, oder Titel, Zitate, Bruchstücke davon, die selbst schon gemixed sind oder die ich miteinander kreuze. Es gibt Hin-weise auf Bands, die es nicht mehr gibt oder einen safety dance mix. Zitate gibt es als Intro zum Band von Nick Cave (mei-nem Lehrer an der Schule für Dichtung Wien) und der von mir verehrten Kim Gordon (ex-Sonic Youth). In meiner Ar-beit als DJ mixe ich gesprochene Sprache mit Elektronik und Filmmusik, aber auch mit Jazz, Dub und Trip-Hop. Diese Art des Mischens geht auch ein in meine Texte. SCHALLPLATTENAUFLEGEN(midnight dance mix) einer wirft die scheibender zweite will tanzen dreisind am klo die halbe weltvergisst den nachtisch dieblutsbrüder warten schonauf den liebesdienst an dertreppe hejho die schallplattenwaren gut sie schmecktensüß wie sahne & zimt V. T.B.: Du bist nicht nur eine sehr aktive Autorin, son- dern auch bildende Künstlerin, Musikerin und Veranstalterin. Wie hat sich 2020 hier auf Deine vielfältigen Aktivitäten aus-gewirkt? Welche erste Bilanz würdest Du da ziehen, wie ist Dein Ausblick für das kommende Jahr? GEDICHTE ÜBER PLANETEN UND MUSIK  VON AUGUSTA LAAR & THOMAS BALLHAUSEN


 ZUKUNFT | 43  A.L.: Mein Buch Avec Beat ist im September 2020 er- schienen. Mein größtes Projekt, das 5. Schamrock-Festival der Dichterinnen konnte ich im Oktober 2020 in München zusammen mit meinem Mann Kalle Aldis als hybride Veran-staltung sehr erfolgreich durchführen, das war großartig. Wir hatten Glück, kurz vor dem Lockdown konnten fünfzig inter-nationale Dichterinnen und Musikerinnen bei uns auftreten, live, im Streaming oder per Video. Die Filme dieser Perfor-mances sind in Kürze auf unserer Webseite www.schamrock.org zu sehen. Nur der Festival-Teil in Wien musste auf 2021 verschoben werden. Anderes wie Salons, Auflegen in Clubs, Lesungen, Konzerte, Ausstellungen usw. müssen ebenfalls ver-schoben werden, einige auf unbestimmte Zeit. Vor allem un-ser Filmfestival female presence muss vorerst ausfallen. Einiges davon wird 2021 stattfinden können, anderes wohl nicht. Ja, es gibt Verluste, aber 2020 ist nicht das schlimmste Jahr  in meinem Leben, und ich bin optimistisch, dass es wieder bessere Zeiten für uns Künstler*innen und Veranstalter*innen geben wird. Es bilden sich auch durch die Online-Möglich-keiten neue Formen, neue Kooperationen, vielleicht sogar eine neue Solidarität. Online-Formate müssen keine Notlö-sungen sein, sondern können zu brauchbaren Ergänzungen werden, als zukünftig selbstverständlicher Teil unserer Veran-staltungen. Wir bleiben dran. Und ich habe große Lust wie-der neue Gedichte über Planeten und Musik zu schreiben.   AUGUSTA LAAR  ist Künstlerin, Autorin und Musikerin, lebt in München und Wien. Seit  2009 Leiterin der Lesereihe der Schamrock-Salons und seit 2012 des   internationalen Schamrock-Festivals der Dichterinnen in München und  Wien. Sie ist Teil des Elektroakustik-Duos Kunst oder Unfall mit   Kalle Aldis Laar. Zusammen veranstalten sie auch das Schamrock-  Filmfestival  female presence und den Kunst oder Unfall Salon.   Weitere Informationen unter www.poeticarts.de THOMAS BALLHAUSEN  lebt als Autor, Kulturwissenschaftler und Archivar in Wien und   Salzburg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator  tätig. Demnächst erscheint sein neues Buch  Transient. Lyric Essay   (Edition Melos). AUGUSTA LAAR  AVEC BEAT. KURZFORMEN,   MISCHUNGEN, LOOPS Scheuring: Black Ink  40 Seiten | € 8 ISBN: 978-3-930654-42-0 Erscheinungstermin: September 2020


 44 | ZUKUNFT  Dobroslav Houbenov – Blackprint 3 120 x 120 cm, 2015 © Dobroslav Houbenov


 ZUKUNFT | 45  DOBROSLAV HOUBENOV


 46 | ZUKUNFT  „KUNST IST EINE GEFAHR FÜR DAS BESTEHENDE“  VON HEMMA PRAINSACK I.  „GESCHICHTE GEHT IMMER AUF UMWEGEN“ Vor 25 Jahren starb Heiner Müller, der für mich wichtigs- te deutsche Dramatiker und Denker, der in der zweiten Hälf-te des 20. Jahrhunderts gewirkt und seiner Zeit weit voraus gedacht hat. Kaum ein Autor vermochte es, mit derartiger Genauigkeit (geschichtliche) Zusammenhänge in Zeit und Raum, die über die Spanne von Lebenszeiten hinaus wirken, in eine so präzise Sprachform zu bringen. Da gibt es nichts Zufälliges, das Durchdachte ist bei Müller zentral. Seit mehr als fünfzehn Jahren ist er mit seinen Schriften nicht nur ein Wegbeleiter, sondern vielmehr ein verlässlicher Wegweiser – insbesondere ist er das auch in einer Gegenwart, die zeitgleich Beschleunigung und Bremsung mit sich gebracht hat. Es ist, als würde die Geschichte die Interpretation und Aktualisie-rung von Müllers Arbeiten leisten. Auch anhand der eben er-schienenen Publikation Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung (vgl. Strehlow 2021) kann man sich da-von überzeugen. Geleitet wurde Heiner Müller von einem Zwang, schrei- ben zu müssen, anschreiben zu müssen gegen die Wirklich-keit. Seine Stücke handeln von Herkunft und Klasse, Armut und Elend, Bevölkerungsexplosion, ökologischen Katastro-phen und vom Kapitalismus, von welchem man zurzeit nur Verweigerung lernen könne. Er nimmt Anleihen bei antiken Mythen oder fragmentiert literarische Vorlagen, erzählt über das „Echo einer früheren Geschichte eine neue Geschich-te“ (vgl. Kluge o. J.). Zwei Motive durchziehen sein Werk: menschliche Arbeit und die mythische Idee des Verrats, der überall lauert. Auch sie prägen sein Mitdenken der Vergan-genheit als Grundbedingung für Sein und eine Auseinander-setzung mit der Wirklichkeit. In der Mühlheimer Rede 1979 merkt er dazu an: „Meine Hoffnung ist eine Welt, in der Stü-cke wie Germania Tod in Berlin nicht mehr geschrieben werden  können, weil die Wirklichkeit das Material dafür nicht mehr bereithält“ (Müller 2008a: 220). II.  „BEDEUTUNG VON LANDSCHAFT“ In seiner Arbeit interessiert sich Heiner Müller immer  auch für den Gegenblick, also die andere, außereuropäische Perspektive. 1975 bereist er erstmals Amerika, es folgen meh-rere längere Aufenthalte. Während seiner USA-Reisen machte Müller eine für ihn ganz wesentliche Grunderfahrung: Er ent-deckte die Bedeutung von Landschaft und der räumlichen Di-mension für sich. Im vergangenen Jahr ist Der amerikanische Le-viathan. Ein Lexikon erschienen. Darin fasst Herausgeber Frank M. Raddatz die Müllerschen Stellungnahmen über Amerika zusammen und lässt dabei einen Gegenblick auf Europa sicht-bar werden (vgl. z. B. Müller 2020: 76). Seine Beobachtungen wirken heute, nicht zuletzt angesichts des Sturms von Trump-Anhänger*innen auf das US-Kapitol in Washington D.C., selt-sam aktuell. Wenn seine Gedanken und Überlegungen auch aus dem vergangenen Jahrhundert sind, so scheinen sich vie-le seiner Beobachtungen erst im Nachhinein zu erschließen.  „Kunst ist eine Gefahr  für das Bestehende“ Für  HEMMA PRAINSACK  sind die Schriften Heiner Müllers stets präsent und relevant. Angesichts des Ausnahmejahrs  2020 reflektiert sie mit Müllers Arbeiten die Auswirkungen der Pandemie auf Kultur und Bildung. HEINER-MÜLLER-BÜSTE  am Martin-Luther-Gymnasium  Frankenberg © Wikimedia Commons  (author: Marcuwe)


 ZUKUNFT | 47  Auch zu diesem Punkt hat Müller eine überraschende Ein-sicht zu bieten: „Das Aktuelle ist nur eine Folge von Ereig-nissen, die vielleicht unbemerkt geblieben sind, aber viel ent-scheidender waren“ (Müller 2008b: 74). Gefragt, ob sein ausgeübter Beruf mehr mit einem Prophe- ten, Zeit- oder Landvermesser zu vergleichen wäre, antwor-tet Heiner Müller: „Ich würde, wenn ich ehrlich bin, sagen: Ich bin ein Landvermesser“ (vgl. Kluge o. J.). Zum Vermessen von Land gehört absolute Präzision und ein scharfes Messins-trument für die Aufzeichnungen. Müller hat beides, und dar-über hinaus ein bemerkenswertes Bewusstsein für die Relati-onen und Zusammenhänge in dieser Welt, für Unterschiede und Widersprüche. Die Beziehung zwischen der räumlichen Herkunft und Klasse, Zukunft und Abhängigkeitsverhältnissen macht er zum Provokationsmaterial seiner Arbeit, um damit Handlungsbedarf zu evozieren. Entsprechend heißt es in sei-nem Stück Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution: „Die Welt eine Heimat für Herren und Sklaven. Sklaven haben keine Heimat, Bürger Debuisson. Und solange es Herren und Skla-ven gibt, sind wir aus unserem Auftrag nicht entlassen“ (Mül-ler 2002: 35). Sich selbst hat Müller nicht entlassen aus seinem Zwang, über die Wirklichkeit zu berichten, sie zu verschriftli-chen und öffentlich zu äußern. Als unerbittlicher und bestän-diger Widersacher des Kapitalismus und beinahe hoffnungslo-ser Mahner, auch angesichts Mangel an Schuldbewusstsein und Informationsflut, wirbt er für eine sozialistische Utopie, für Er-fahrung und den Freiraum der Phantasie. III.  „KULTUR KOMMT NUR VON DEN VERLIERERN“ Für Müller gibt es auf die Frage, warum es denn Theater  brauche, nur die hypothetische Antwort, dass „ein Jahr lang – es muß aber ein Jahr sein – alle Theater der Welt zu schließen“ (Müller 2008b: 792) hätten, wobei die Mitarbeiter*innen wei-terbezahlt würden. Nach genau einem Jahr könne man wieder aufsperren und feststellen, was gefehlt hat. Oder ob etwas gefehlt habe.  Bald liegt ein ganzes Jahr hinter uns, in dem die Theater aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ge-schlossen halten mussten. Kultur, das Unmittelbare, das lustvolle Erleben, die gemeinsame Erfahrung und Erinnern ist als nicht systemrelevant eingestuft und an den äußersten Rand der Öf-fentlichkeit gedrängt worden, von dem aus man die anfangs zö-gerlichen Hilferufe nicht vernehmen wollte. Doch genau hier, dezentral am Rand, sieht Heiner Müller die potenzielle Wir-kung, denn „Kultur kommt nur von den Verlierern und aus der Niederlage. Das produziert Kultur“ (vgl. Kluge o. J.). IV.  SCHLUSS: „KRIEG DER VIREN“ Kultur bewirkt, indem sie das Publikum in einen unkont- rollierten zeitlichen Raum ziehen und in eine Verlangsamung bringen kann, eine Störung gegen die Verfestigung der Poli-tik. Für Müller ist der Künstler imstande, die Realität partiell aufzuheben, Theater ist Beteiligung. Es ist nicht wiederhol-bar, Substitution nicht möglich. Ein Theatererlebnis bedeu-tet das Spüren von Aura und Empfinden von Gleichzeitigkeit. Können wir die Frage nach diesem Jahr des Verlustes beant-worten? Heiner Müller liefert selbst das Material für mögliche Antworten. 1995, ganz am Rande seines Lebens, schrieb er ei-nen der letzten Szenenentwürfe für ein Stück mit dem Titel Krieg der Viren: Im leeren Theater debattieren Autor und Re-gisseur, beide betrunken, wie ein Krieg der Viren beschreib-bar, darstellbar sein könnte. „Gott ist vielleicht ein Virus / Der uns bewohnt“ folgert der Autor (vgl. Müller 2002: 308f). 25 Jahre nachdem Müller den Viren eine Bühne geschrieben hat, liegt eine ganz andere Bedeutungszuschreibung seines Textes über „Die grossen Krieger der Menschheit / Tropfen Tropfen / Auf den heissen Stein“ (vgl. Müller 2002: 308f) vor, überblendet mit aktuellen Erlebnissen. Diese Erfahrung der Verschiebung brauchen wir. HEMMA PRAINSACK  ist Theater- und Filmwissenschaftlerin und arbeitet im   geistes wissenschaftlichen Bereich der Erwachsenenbildung (Wiener  Volkshochschulen). Nach langen Jahren am Burgtheater, bei den   Salzburger Festspielen und dem ORF forscht sie derzeit zur Filmgeschichte  im Umbruch zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus.  Literatur:Kluge, Alexander (o. J.): Heiner Müller über Rechtsfragen. Gespräch mit Alexan-der Kluge, online unter: https://kluge.library.cornell.edu/de/conversations/muel-ler/film/111/transcript  (letzter Zugriff: 09.01.2021).Müller, Heiner (2002): Stücke 3. Werke 5, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.Müller, Heiner (2008a): Schriften. Werke 8, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.Müller, Heiner (2008b): Gespräche 3. Werke 12, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.Müller, Heiner (2020): Der amerikanische Leviathan. Ein Lexikon. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Frank M. Raddatz, Berlin: Suhrkamp.Strehlow, Falk (Hg.)(2021): Klassengesellschaft reloaded und das Ende der mensch-lichen Gattung. Fragen an Heiner Müller, Berlin: Verlag Theater der Zeit.


 48 | ZUKUNFT  ABEND MIT POLLY  VON DANIELA CHANA Polly ist das beliebteste Mädchen hier, obwohl sie selbst  niemanden mag. Sie isst immer alleine und redet mit nie-mandem. Trotzdem tanzen alle um sie herum wie besoffene Schmetterlinge. Wenn Polly ihr Zimmer verlässt und durch den Gang geht, schauen alle wie magisch in ihre Richtung, aber auf eine verschämte Art, so wie man einen heimlichen Schwarm ansieht. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass sich die Köpfe der Mädchen auf dem Gang schon ein paar Sekunden vorher umdrehen, ehe Polly aus dem Zim-mer tritt, so als würden irgendwelche Schwingungen in der Luft sie bereits im Voraus ankündigen. Die Blicke gleiten wie auf Kommando zu ihrer Tür, alle gleichzeitig und schwere-los und butterweich, und erst dann folgt mein Blick mit Ver-zögerung, und wenig später kann man sehen, wie die Klinke heruntergedrückt wird, die Tür sich öffnet und Polly her-ausspaziert. Wenn es soweit ist, haben alle außer mir längst den Atem angehalten. Ich weiß nicht, warum ich als einzi-ge immun gegen sie bin. Mich interessiert Polly überhaupt nicht. Aber alle anderen sind ihr komplett verfallen. Sie be-wundern ihre Haare, die an einer Seite länger sind als an der  anderen, dabei ist das ja nur eine missglückte Frisur, und sie finden ihre T-Shirts toll, die immer eine Schulter frei lassen. Polly hat ein Talent für die Schräge. Auch ihre Sportschuhe stecken schief an ihren Füßen, als würde sie gerade erst im Schuhgeschäft probieren und wäre noch nicht richtig hinein-gestiegen. Alles an ihr hängt, flattert, schwankt, und es wird einem selbst ein bisschen schwindelig. Wenn man Polly sieht, denkt man, dass sie gleich umkippen wird. Sie geht sehr un-regelmäßig, taumelt immer ein bisschen. Vielleicht weckt sie bei manchen der Mädchen einfach nur den Mutterinstinkt. Polly wirkt wie ein Welpe, der auf wackeligen Pfoten zum ersten Mal durch die Wohnung tappst. Deswegen würde man ihr auch alles verzeihen. Polly ist schon länger hier als alle anderen, das heißt: am  häufigsten wieder zurückgekommen, und mit einem gewis-sen Respekt flüstern manche: „Die bleibt für immer hier.“ Angeblich geht das nicht, aber auch ich kann mir nicht vor-stellen, dass irgendwann der Moment da sein könnte, an dem es heißt: „Heute geht Polly und kommt nicht mehr zurück!“ Und wenn man diesen Moment bis in die Ewigkeit hinauszö-gert, dann wird Polly irgendwann tatsächlich für immer hier geblieben sein, obwohl es gar nicht gegangen ist. Ich erinnere mich sogar daran, dass die Sekretärin bei meiner Ankunft ge-sagt hat: „Niemand bleibt für immer hier.“ Die Sekretärin ist aber ein Automat und wiederholt immer dieselben Sätze, und ich habe den Verdacht, dass sie manchmal nichts bedeuten. Ein paar Mal habe ich schon gedacht, dass viele Mädchen ihre Symptome absichtlich verschlimmern, um länger bei Polly zu bleiben. Wäre Polly plötzlich weg, würde es vielleicht zu einer bizarren Genesungswelle kommen, aber alle wären unglück-lich. Würde man die anderen Mädchen fragen, wären sich be-stimmt alle darüber einig, dass Polly locker alles schafft, was sonst niemand schafft. Also auch für immer hier zu bleiben. Abend mit Polly Die Erzählung Abend mit Polly der Wiener Autorin  DANIELA CHANA , die eigens für diese Ausgabe der ZUKUNFT ver- fasst wurde, ist eine gleichermaßen sensible wie schonungslos genaue Erkundung über Nähe, Intimität und Zeiterfahrung in Ausnahmezuständen … PORTRÄTFOTO  DANIELA CHANA © Wilhelm Chana, 2020


 ZUKUNFT | 49  Im Alltag sieht man ja ständig, dass Polly alles schafft, zum  Beispiel am Getränkeautomaten. Niemand versteht, warum Polly immer das richtige Getränk und ihr Wechselgeld be-kommt, warum ihre Münzen nie vom Automaten verschluckt werden und warum sie auch nie etwas will, das gerade aus ist. Es ist eine eigene Disziplin unter uns, Polly beim Getränkeho-len zu beobachten. Wenn Polly zum Automaten spaziert, mit all ihren schrägen Kleidungsstücken und den schiefen Haaren, sehen alle ihr gebannt zu. Wir beobachten genau, wie sie die Münzen in den Schlitz steckt, sich lässig am Automaten an-lehnt und schon kurz darauf poltert ihr Getränk heraus. Es ist immer das richtige, und Polly ist mit ihrem Wechselgeld im-mer zufrieden. Nie hört man von ihr einen Aufschrei wie von den anderen: „Das ist die falsche Flasche!“ oder: „Da fehlen 20 Cent!“ Die Mädchen sehen ihr jedes Mal voller Bewun-derung zu, wie sie erfolgreich mit ihrem Getränk und ihrem Geld zurück ins Zimmer spaziert. In den Augen der Mäd-chen kann man fast ein atemloses Seufzen hören: „Sie schafft es einfach immer. Sie schafft einfach alles.“ (Einmal habe ich bemerkt, wie entweder Polly oder der Automat sich geirrt hat, aber das war eher ein Versehen meinerseits, weil ich zu nah dran war, und ich habe jetzt wirklich lang überlegt, ob ich das überhaupt schreiben soll. Normalerweise steht niemand ganz nah daneben, wenn Polly sich ein Getränk holt, weil alle wissen, dass sie zu viel Nähe nicht schätzt. Nur dieses eine Mal saß ich zufällig direkt hinter der Glasscheibe im Speise-saal und der Automat war ein bisschen schräg zur Seite ge-dreht worden, weil daneben das Kopiergerät repariert wurde. So kam plötzlich ein Winkel zustande, in dem ich fähig war, genau zu sehen, was Polly am Tastenfeld eintippte. Ich konnte deutlich erkennen, dass sie prickelndes Mineralwasser bestell-te, also den obersten Knopf drückte. Kurz darauf polterte die Flasche heraus, aber es war mildes Mineralwasser. Ich wollte innerlich schon darüber jubeln, dass Polly jetzt auch endlich einmal Pech gehabt hatte und sich gleich lautstark beschweren würde. Es wäre ein Moment gewesen, über den später beim Abendessen noch alle geredet hätten! Aber nichts geschah. Polly nahm die Flasche aus dem Fach, schaute zufrieden dar-auf und ging dann mit einem ganz glücklichen Lächeln in ihr Zimmer. Die Mädchen, die aus der Ferne zuschauten, blick-ten ihr wieder mit diesem Ausdruck der Bewunderung nach, ganz beeindruckt davon, dass Polly schon wieder Erfolg ge-habt hatte. Ich dachte lang darüber nach, wie das möglich war, und ob sich da jetzt eher Polly vertan hatte oder der Au-tomat, und zum Schluss dachte ich, dass ich es vielleicht doch falsch gesehen hatte. Deswegen hätte ich das jetzt vielleicht gar nicht schreiben sollen.) Einmal hatten Polly und ich den absoluten Wahnsinnsmo- ment. Ich weiß immer noch nicht, wie wir dazu gekommen sind. Jedenfalls saßen wir in einer Nacht plötzlich alleine zu zweit auf der Terrasse. Ich ging in dieser Nacht sehr spät durch den Flur, um mir noch einen Saft aus dem Getränkeautoma-ten zu holen. Alle Mädchen waren in ihren Zimmern, es war sicher schon weit nach Mitternacht. Trotzdem hatte ich auf einmal das seltsame Gefühl, nicht allein zu sein, obwohl ich weder ein Geräusch gehört, noch irgendetwas gesehen hat-te. Alles war ruhig, nichts war verdächtig, und trotzdem spür-te ich, dass da jemand war. Es war wohl dieses Polly-Gefühl, diese Ahnung, die auch alle Mädchen dazu bringt, den Kopf schon eine Sekunde früher zur Tür zu drehen, bevor Polly die Klinke herunterdrückt. Ich ahnte aber in diesem Moment noch gar nicht, dass sie es war, deren Nähe ich spürte. Nur das vage Gefühl: „Da ist irgendjemand“ brachte mich dazu, lang-sam in Richtung Speisesaal weiterzugehen, am Getränkeau-tomaten vorbei, und mich neugierig umzusehen. Wie fern-gesteuert öffnete ich die Glastür und ging in den Speisesaal hinein. Die Tische und Sessel standen ruhig da, als würden sie schlafen, aber mit offenen Augen. Ich war mir sicher, dass sie mich beobachteten und sich jeden Moment bewegen und davongehen würden. Oder dass sie plötzlich über mich her-fallen würden. Dennoch zog es mich weiter bis ans Ende des Raums, wo durch eine Glasfront der Mond hereinschien. Erst da bemerkte ich, dass die Terrassentür leicht offenstand. Selt-samer Weise dachte ich zuerst an einen Selbstmord. Irgendei-nes der Mädchen wäre vielleicht hinuntergesprungen und ich würde es jetzt entdecken. Sofort stellte ich mir vor, wie ich diesen Moment später allen schildern würde: „Ich muss ir-gendeine Ahnung gehabt haben. Ich weiß nicht, warum ich auf einmal in den Speisesaal ging. Dann sah ich die offene Terrassentür, aber ich dachte mir nichts Schlimmes. Ich woll-te nur einmal nachsehen, was da los war. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass ich eine Leiche finden würde! Mit so etwas hätte ich nie gerechnet! Man denkt ja an so etwas gar nicht!“ Ich bewegte mich also sehr langsam auf die Terrassen-tür zu, um den Moment so richtig zu zelebrieren, und kurz bevor ich sie erreichte, schloss ich die Augen und atmete ein-mal tief durch. Jetzt würde es passieren, jetzt würde der Mo-ment kommen, den ich mein Leben lang nicht mehr verges-sen würde, der unheimliche, unglaubliche Moment, in dem ich, zum ersten Mal in meinem Leben, eine echte Leiche se-hen würde. Würde ich schreien? Ich würde ... „Hallo.“


 50 | ZUKUNFT  ABEND MIT POLLY  VON DANIELA CHANA Die Stimme kam ganz leise und unschuldig irgendwie  von unten. Ich öffnete die Augen und schaute hinunter. Auf dem Boden der Terrasse, direkt neben der offenen Tür, an die Glasfront angelehnt, saß Polly. „Polly.“ Ich weiß gar nicht, ob meine Stimme in dem Moment  eher überrascht oder enttäuscht klang. Auf jeden Fall erlebt Polly es nicht oft, dass jemand bei ihrem Anblick enttäuscht ist. Sie lächelte: „Komm, setz dich her.“ Obwohl mir Polly egal ist, muss ich zugeben, dass auch ich es sehr schwierig fin-de, einem Befehl von ihr nicht zu folgen. Sie hat diese Kraft. Ich schaute sie an und setzte mich zu ihr. Jede andere hätte jetzt versucht, möglichst nah bei ihr zu sitzen, also hielt ich extra ein bisschen Abstand. „Was würdest du jetzt am liebsten machen?“, fragte Pol- ly, ohne mich anzusehen. Stattdessen schaute sie konzentriert in die Ferne, wo der Mond von der Sonne angestrahlt wurde. Sie hatte die Beine angezogen und spielte über den Knien mit ihren Händen. „Ganz viel Junk-Food essen“, sagte ich spon-tan, und Polly lachte übermütig wie ein kleines Kind. „Ja“, fügte ich hinzu, „das fette und ungesunde Zeug ... das heiße, schwere Fett ...“ „Pommes Frittes mit Mayonnaise?“ „Burger mit Senf und Ketchup und Grillsauce und Ma- yonnaise und gebratenen Zwiebelringen!“ „Chips mit Fett und Salz?“ „Steak mit Fett und Pommes und Saucen und Speck!“ „Und Schnitzel?“ „Hot Dog mit Senf und Ketchup und Salzkartoffeln.“ Polly schloss kurz die Augen: „Das ist schön ...“ „Ja ...“ Wir redeten uns in einen kleinen Rauschzustand hinein.  Noch nie hatte ich so ein Gefühl mit einer zweiten Person ge-teilt. Polly rückte ein bisschen näher in meine Richtung, und ich konnte ihre Hüfte an meiner Seite spüren. „Und danach gibt es Dessert?“ „Fette Schokoladetorte“, sagte ich. „Die Schokolade ist  cremig im Inneren, und sie tropft von der Gabel, wenn man hineinsticht.“ „Tiramisu.“ „Mokkatorte.“ „Nusskuchen.“ Meine Knie zitterten. Es kribbelte in meinem Nacken, so- dass ich kurz glaubte, mir würde schlecht. Polly vertrieb mit einer großen Geste eine Gelse, so überschwänglich und welt-gewandt wie ein snobistischer Magier. Im nächsten Moment würde man erwarten, dass sie eine Zaubershow mit einem le-bendigen Tiger ankündigte oder eine schwebende Jungfrau. Ich war eine schwebende Jungfrau. Wir taten so als hätten wir viel Erfahrung mit Alkohol  und philosophierten darüber, weshalb Wein süchtig mache. Ob das die Weintrauben im Lauf der Evolution so eingerich-tet hätten, damit die Menschen mehr Rebstöcke pflanzen, also eine Überlebens- oder vielmehr Fortpflanzungsstrategie der Trauben. Dann überlegten wir, ob Bakterien und ande-re Krankheitserreger sich immer noch so fleißig vermehren würden, wenn sie wüssten, dass sie damit bei Menschen und Tieren Schaden anrichten. Niemand wolle doch etwas Böses tun, erst recht die kleinsten Lebewesen nicht. Zwischendurch drehte ich den Kopf und schaute Polly an. Sie sah so erwach-sen und vernünftig aus, so gebildet, als wäre sie einmal um die ganze Welt gesegelt, hätte lebendige Tiere auf fünf Kontinen-ten gegessen, ein Gewitter auf hoher See überlebt und im Ur-wald in einer Blockhütte geschlafen. Ich musste sie mir vor-stellen, wie sie lächelnd, auf wackeligen Beinen, mit einem Grashalm im asymmetrischen Haar, nach einer langen Rei-se auf mich zukäme und so etwas sagte wie: „Sieh mal, da bin ich wieder! Ich bin in allen Ozeanen geschwommen, und ich bin auf wilden Tigern, Kamelen und Pferden geritten. Jetzt bin ich wieder da, bei dir.“ Jemanden wie Polly hatte es überall gegeben, zu allen  Zeiten, in allen Sprachen. Ein wildes, ungezähmtes Mäd-chen, schön und androgyn, charismatisch. Überall hatte sie sich durchgeschlagen mit Taschenmesser und Säbel oder mit Reitgerte und Stiefeln, und jetzt, im selben Jahrhundert wie 


 ZUKUNFT | 51  ich, war sie hier, so lange schon, dass alle dachten, sie wür-de für immer bleiben. Auf einmal dachte ich, dass wir jetzt vielleicht in der schrecklichsten aller Zeiten lebten. Was hatte Polly falsch gemacht? Die Polly neben mir war nicht die Pol-ly, die sie sein sollte. „Du bist nicht die Polly, die du sein solltest“, sagte ich und  hatte den Eindruck, im Mondschein ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen zu entdecken. „Du bist eine Piratin, eine Welt-umseglerin ...“ Polly nahm meine Hand. „Als Kind war ich einmal bei einer Kreuzfahrt, da ist mir schlecht geworden.“ „Allen echten Piraten würde bei einer Kreuzfahrt schlecht  werden“, meinte ich. Unsere Finger verschränkten sich, und sie drückte so fest zu, als säßen wir in einer Achterbahn. Auf einmal wurde ich unglaublich müde. Mir fielen die Augen zu, und am liebsten wäre ich einfach ein paar Zentimeter nach unten gerutscht, hätte mich auf der Terrasse eingerollt und wäre hier eingeschlafen. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment zur Seite zu kippen. Polly streichelte meinen Handrücken mit einem Finger. „Sag mal, schläfst du gerade ein?“ „Nein, gar nicht.“ „Deine Augen sind viel kleiner.“ „Das täuscht.“ Sie seufzte. „Du glaubst, ich wäre ein Pirat, dabei bin ich  die Bauchrednerpuppe von dem Magier im Kreuzfahrtschiff.“ Halb im Traum sah ich einen Magier auf einer Bühne vor  mir. Polly war eine Holzpuppe in seinem Arm und redete mit wilden Gesten, und das Publikum lachte.  Ich wollte nichts anderes mehr als mich endlich in mein  Bett zu legen, mich im Dunkeln auszustrecken, herumzudre-hen und zu schlafen. Sogar der Weg durch den Flur in mein Zimmer kam mir wie eine Anstrengung vor, die ich nie schaf-fen würde. „Wir werden jetzt schlafen gehen, oder?“, sagte Polly. Ich  nickte. Ich wollte sagen: Polly, verlass mich nicht, ich wer-de mich zusammenrollen und in deine Tasche stecken, ich werde dich gar nicht stören, ich werde mich klein machen, sodass du mich gar nicht bemerkst und immer bei dir sein, für immer wach sein, nie wieder sprechen, nie wieder niesen,   Polly, lass uns diese Abkürzung gehen, vom ersten Gespräch zur tiefen Vertrautheit, einen längeren Weg schaffe ich jetzt nicht ... Aber ich nickte. Etwas war kurz da und dann sofort wieder weg in dieser Nacht, und es hat keine Spuren hinter-lassen. Das passiert ziemlich oft, hört man, aber normalerwei-se passiert es nie jemandem mit Polly. Jeden Tag sehe ich Polly auf dem Gang, sehe sie zwischen Speisesaal und Getränkeau-tomat, sehe sie essen, sehe sie schweigen, sehe sie desinteres-siert an den anderen vorbeigehen. Ich beobachte Polly und stütze mich dabei mit den Ellenbogen an der Tischplatte auf, oder ich beobachte sie und spiele dabei mit meinen Fingern. Manchmal schaut Polly im Vorbeigehen für eine Sekunde in meine Richtung.   DANIELA CHANA  ist Autorin und Literaturwissenschaftlerin. Ihr Gedichtband  Sagt die  Dame (2018) war Teil der renommierten Auswahl „Lyrik-Empfehlungen  2019“ der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Demnächst   erscheint ihr Erzählband  Neun seltsame Frauen im Limbus Verlag. DANIELA CHANA NEUN SELTSAME FRAUEN ERZÄHLUNGEN Innsbruck: Limbus 224 Seiten | € 18 ISBN: 978-3-99039-195-2 Erscheinungstermin: Februar 2021


 52 | ZUKUNFT  NOTIZEN ZU  PRINTING TIME   VON DOBROSLAV HOUBENOV I.  DER ANFANG Ich habe mich schon lange Zeit mit den Techniken der  Grafik und Druckgrafik beschäftigt.  Dadurch war es mir möglich, mich buchstäblich mit der  Zeit in die Materie zu vertiefen und sie zu studieren. Meine Faszination für das Projekt Printing Time bestand  darin, Materialien wie Holz, Stein und Metall zu analysieren und zu ergründen und ihre Oberflächenbeschaffenheit sicht-bar zu machen und zu kartieren. Diese Materialien sind wahre Zeitmaschinen, welche die  Vergangenheit buchstäblich auf ihrer Oberfläche gespeichert haben. Jede einzelne „Beschädigung“, die auftritt, überdauert die Zeit in Form von Kratzern oder Dellen.  Das macht sie nicht nur zu Unikaten, sondern auch zu ei- ner inspirierenden Quelle für meine Arbeiten. Denn wie heißt es so schön in der Physik: Die Ursache  kommt immer vor der Wirkung.  Das bedeutet, es muss einen Grund für das Geschehene  geben.  So wie bei dem Menschen jede Narbe eine Geschich-te hat, so verhält es sich auch bei Holz, Stein und Metall. Diese Geschichten zu „erzählen“, ihnen nachzugehen und sie sichtbar zu machen war die Herausforderung von Printing Time.  Deswegen ergibt sich die Möglichkeit, deren Gebrauchs- spuren, welche durch menschliche Einflüsse wie Verschleiß oder Vandalismus, aber auch Veränderungen durch Umwelt-einflüsse, die z. B. durch Verwitterung entstehen, abzubilden und auf Papier zu speichern. II.  MEINE ARBEIT Sorgfältig wurden die Objekte ausgewählt, die allesamt  Fundstücke sind und die ich aus ihrer Realität zweckentfrem-de, um dieser auf Papier eine andere, eine doppelte, Existenz zu geben.  Anschließend wurden sie wieder in ihre ursprünglichen  Gebrauchszweck zurückversetzt. Die handgedruckten Grafiken, die so entstehen, sind eine  kurze Unterbrechung des Kreislaufs von Bau zu Verfall, eine zweidimensionale Topografie, die sich in ihrer Bearbeitung einen neuen Weg bahnt. Diese Aspekte der Oberflächen sind gespeicherte Zeit,  spiegeln sich in dem Objekt durch den Abdruck wider und bleiben so vor der Vergänglichkeit in Form des Abriebs geschützt.  Diesen Verlauf hebe ich durch zusätzliche Schnitte hervor. Möglicherweise denkt sich ein aufmerksamer und kriti- scher Leser, dass der Künstler aber doch die Objekte verän-dert hat durch die Art und Weise, wie er sie auf Papier ge-bracht hat. Da hat er natürlich Recht. Trotzdem hat die Oberflächenbeschaffenheit der Objek- te (Druckstöcke) nur eine andere optische Form angenom-men, die nicht im Widerspruch mit dem ursprünglichen Ge-brauchszweck steht.  Ein Tisch bleibt ein Tisch, auch wenn er vorher weiß war  und nach dem Arbeitsprozess schwarz geworden ist.  Notizen zu Printing Time DOBROSLAV HOUBENOV  gibt Einblick in die Produktionsbedingungen der Bildstrecke dieser Ausgabe der ZUKUNFT.


 ZUKUNFT | 53  Er besitzt immer noch die tragende Funktion seines vor- herigen Zustands. Ich sehe diese Art der Abbildung wie ein Portrait der Ob- jekte, die zum Zeitpunkt der Entstehung vor mir liegen. So wie jeder Künstler sich auf seine eigene Art diesem  Thema nähert und sich gewisse Freiheiten für das Resultat des Endproduktes gewährt, so verhält es sich auch bei mir. Meine Manipulation durch die Betonung der Form und  das Auftragen von Farbe ist nur ein weiterer Schritt für die zu-künftigen Geschichten dieser Objekte. III. GEDRUCKTE ZEIT Durch alle diese Arbeitsprozesse hat sich meine Denkwei- se, wie ich Oberflächen und Strukturen betrachte sowie be-nutze, geschärft. Auch meine jetzige Sicht zum Faktor Zeit hat sich ver- ändert. Die vertiefende Beschäftigung mit diesem Thema hat mich zum folgenden Entschluss gebracht: Da die Zeit nicht abgeschlossen ist, werden die Möglich- keiten unendlich sein. Ich möchte Beobachter dieser Prozesse sein und mit Hilfe meiner Drucke mit anderen meine Beob-achtungen teilen können. Printing Time ist das Ergebnis des so entstandenen  Wissens. DOBROSLAV HOUBENOV  ist Druckgrafiker, Zeichner und Absolvent der Universität   für angewandte Kunst Wien


 54 | ZUKUNFT  MICHAEL SCHARANGS AUFRUHR  VON ALESSANDRO BARBERI 1. SEINESGLEICHEN GESCHIEHT? Der Mensch ist kein Patient. […] Was für Gauner, diese Psychologen,  Psychiater, Psychoanalytiker […] Maximilian Spatz in Aufruhr Ja, antwortete Montefiori, in unserem Betrieb ist der Untergebene der Chef.  Kreuzteufel dachte nach.  Ihre Firma, sagt er, ist also eine Irrenanstalt? Der Unternehmer in Aufruhr Als der Psychiater Dr. Maximilian Spatz von seiner New  Yorker Klinik beurlaubt wird, entscheidet er sich für ein Jahr nach Wien zu gehen, der Heimatstadt seines Vaters, des Kom-ponisten Michelangelo Spatz. Dort geschieht in der Folge kei-neswegs, wie zu erwarten war, seinesgleichen … Denn schon während der Taxifahrt von Schwechat in die Grünangergasse  im 1. Wiener Gemeindebezirk ergibt sich ein subversives Ge-spräch mit dem Taxifahrer, das in Spatz den Wunsch hoch-kommen lässt, es fortzusetzen. Wien erscheint ihm entgegen seiner Erwartungen als nicht ganz ausgeglichen. In der Woh-nung seines Vaters angekommen, trifft er auf dessen langjähri-ge Haushälterin Frau Ehrenreich, die ihm Anna Berg vorstellt, die Betriebsrätin in einem Kaufhaus auf der Mariahilferstraße ist und sich buchstäblich mit ihrem Vorgesetzten Dr. Kreuz-teufel, einem brutalen Geschäftemacher und Ausbeuter, im Klassenkampf befindet. Erstaunlicherweise sammeln sich von nun an um diese drei  Hauptpersonen mehrere illustre Persönlichkeiten, die bereit sind Anna in ihrem – scheinbar aussichtslosen – Arbeitskampf zu unterstützen: So etwa der Biologe Franz Montefiori, der für naturhistorische Museen Elefantenknochen präpariert und seinen Organisationsspezialisten Philipp Zappel mitbringt, wie auch der ehemalige Patient von Dr. Spatz David Intrator, weiters ein Mathematiker der Statistik Austria und der Besitzer eines Herrenmodegeschäfts. Gemeinsam richten sie ein Büro der Revolution ein, von dem aus mittelfristig ganz Österreich in Aufruhr gerät und die Regierung dazu zwingt, das Land (zumindest) für drei Monate zu verlassen. Es bleibt offen, ob sie jemals zurückkehren kann. So kommt es schlussendlich zumindest im poetischen Raum der Literatur zu einem Er-eignis, dass es nicht in die österreichischen Geschichtsbücher schaffen konnte, weil es so nie eigentlich gewesen war: ein erfolgreicher österreichischer Aufruhr, (fast) eine österreichi-sche Revolution. Wir befinden uns also in Michael Scharangs Aufruhr – ganz nach Michail Michailowitsch Bachtin – in ei-ner verkehrten, gänzlich „verrückten“ Welt der österreichi-schen Literatur. Michael Scharangs   Aufruhr Michael Scharang hat mit seinem jüngsten Roman eine Geschichte erzählt, die in unseren Geschichtsbüchern fehlt (und feh-len muss): Das Land gerät in Aufruhr, die Bevölkerung übernimmt die Macht und setzt sich im Sinne einer österreichischen Revolution schlussendlich auch durch.  ALESSANDRO BARBERI  hat für die Leser*innen der ZUKUNFT den Aufruhr  rezensiert. MICHAEL SCHARANG AUFRUHR Berlin: Suhrkamp 305 Seiten | € 23,55 ISBN: 978-3-518-42928-0 Erscheinungstermin: April 2020


 ZUKUNFT | 55  2. EINE ÄSTHETIK DER DARSTELLUNG (UND) DES WIDERSTANDS … Die Schüler von Loos und die zahlreichen Mitarbeiter von Wagner bauen den Karl-Marx-Hof, ein Fanal sowohl der Moderne als auch des sozialen Wohnbaus. Anna Berg in Aufruhr Ausgehend von diesem hier nur kurz dargestellten Plot  tragen die Figuren in Aufruhr auf verschiedene Art und Wei-se kulturelle Kapitalien (im Sinne Pierre Bourdieus) und d. i. Wissenselemente aus Philosophie, Literatur, Musik oder Ar-chitektur und entsprechen dabei einer für Scharang grundle-genden Kunstvorstellung und Ästhetik. Denn Kunst ist ihm – nennen wir es einen kritischen Realismus, dem die Erzähl-strategie ihrerseits durchgängig folgt – keineswegs ein Ab-bild  der Realität. So legt der Autor seinem Protagonisten Spatz, der auch Bildhauerei studierte, Worte in den Mund, die wohl auch für ihn selbst und besonders für diesen Ro-man uneingeschränkte ästhetische Geltung beanspruchen können: „Die Kunst scheint sehr umgänglich zu sein, deshalb lau- fen ihr so viele zu. In Wirklichkeit ist sie unbarmherzig. Deshalb gibt es so viele gescheiterte Künstler und tragische Künstlerexistenzen. Die Kunst ist sehr einfach. Sie ist die Dar-stellung der Welt. Weder Abbildung noch Analyse, noch In-terpretation der Welt. Darstellung heißt: die Welt zeigen, wie sie ist – und wie sie noch nicht ist.“ (37–38) Ausgehend von dieser einfachen wie intelligenten und  deutlich sozioökonomisch abgestützten Fassung des Kunst-problems, welche eben nicht  von einer Widerspiegelung, sondern vielmehr von einer konstruktiven Aktivität der Künst-lerinnen und Künstler ausgeht, ergibt sich in den diskursiven Spiegelungen der Personage von Aufruhr  ein (revolutionä-rer) Reigen von intellektuellen Bezügen: musikgeschichtlich werden u. a. Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart so-wie Arnold Schönberg, Anton von Webern und Alban Berg (als Vertreter der ersten und zweiten Wiener Schule) ins Spiel gebracht. Im Rahmen der Kunstgeschichte werden Ti-zian und Tintoretto betrachtet, um philosophiegeschichtlich Hegel, Marx, Sartre und Adorno zu diskutieren. Aus der Li-teraturgeschichte werden u. a. – und bezeichnender Wei-se – Johann Nestroy, Karl Kraus, Robert Musil und Bertolt  Brecht in das Narrativ eingebaut. Es handelt sich dabei auch auf allen Ebenen um ein deutliches Plädoyer für die Aufklä-rung, das durchgängig einer Ästhetik des Widerstands im Sin-ne Peter Weiss’ (2016) entspricht. Dabei wird auch sozial-geschichtlich deutlich, warum Aufklärung und Revolution heute oft als gescheitert betrachtet werden. Dr. Maximili-an Spatz dazu: „Deshalb hat Aufklärung kein Ansehen mehr. Die bürger- liche Aufklärung hatte ein Ziel: die bürgerliche Revolution, den Sturz der Feudalherrschaft. Die sozialistische Aufklärung hatte ein Ziel: die sozialistische Revolution, den Sturz der Bürgerherrschaft. Die jetzige Aufklärung hat ein Ziel: kein Ziel zu haben. Weil sie kein Ziel haben darf. Die Herrschen-den verbieten das. Und es gelingt ihnen.“ (37) 3.  SOZIOGRAFIEN DES HISTORISCHEN  MATERIALISMUS In Österreich […] landen wir in diesen Tagen wieder in den dreißiger Jahren und waten durch den politischen Schlamm, den Austrofaschismus und Nationalsozialismus zurückgelassen haben. Die Frau des Geschäftsbesitzers in Aufruhr Scharang gelingt es gemäß der deutlich vor Augen treten- den kritisch-realistischen Ästhetik durchgängig mit großer so-ziologischer Deskriptions- und Konstruktionskraft seiner Er-zählung bestimmbare historische Konstellationen (im Sinne Walter Benjamins) zu unterlegen, die im fiktiven Raum den-noch auf konkrete und reale historische Ereignisse bezogen sind. So wird immer wieder deutlich, dass der Mai 68, der für Scharang nach wie vor eine eminente Rolle spielt, ge-nauso mitgemeint ist, wie die amerikanische, die französische oder die russische Revolution, wobei durchgängig – etwa am Beispiel der Filme von Charlie Chaplin oder der Marx Brot-hers – auch die jeweiligen medialen Produktionsbedingungen (marxistisch) mitreflektiert und pointiert mediengeschichtlich verortet werden: „Der Stummfilm, fuhr der Mann fort, ist realistisch und  kritisch und märchenhaft, deshalb ist er nicht belehrend, son-dern überzeugend. Also besonders gefährlich. Bei allem Res-pekt vor der russischen Oktoberrevolution – es gab auch eine amerikanische Revolution, sie fand im Stummfilm statt. Des-halb musste er verschwinden.“ (185)


 56 | ZUKUNFT  MICHAEL SCHARANGS AUFRUHR  VON ALESSANDRO BARBERI Neben dem Film sind es auch klassische Printmedien wie  die Arbeiterzeitung oder die Volksstimme, die mit den Figu-ren des Romans rund um das Rote Wien verflochten sind. Mehr als treffend sind dabei auch die durchaus an die Wur-zel gehenden Analysen gesellschaftlicher Institutionen im Sin-ne ideologischer Staatsapparate, weshalb u. a. aber mehrfach – und im Rekurs auf Hegels Herr-Knecht-Dialektik – die ge-sellschaftlichen Verhältnisse des kapitalistischen Wissenschafts-betriebs aufs Korn genommen werden: „An der Universität, sagte Montefiori, müssen die Leu- te Jahrzehnte warten, bis sie zum Professor aufsteigen. Sie bu-ckeln und kriechen vor denen, die bereits Professoren sind, das Buckeln und Kriechen hinter sich haben und alles tun, da-mit ihresgleichen heranwächst: geistig, seelisch und letztlich auch körperlich verunstaltete Menschen.“ (140–141) So verfügen sich – nicht zuletzt in der Interpretation des  Geschehens als sozialer Krieg bzw. Klassenkampf – Elemente der Ideologie-, Gesellschafts- und Herrschaftskritik mit einer sub-versiven Ästhetik und markieren damit auch eine zeitgemä-ße Möglichkeit im Rahmen des Historischen Materialismus zu argumentieren und Literatur zu schreiben. Dabei werfen die Personen dieses Romans immer wieder verschiedenarti-ge Probleme vor einem gesellschaftlichen Hintergrund auf, der gerade durch diese Problematisierungsmomente im Ge-samtaufbau des Romans als (ver-)änderbar erscheint. 4. LITERATUR UND LÜGE Vielleicht gibt es schönere Zeiten;  aber diese ist die unsere. Jean Paul Sartre in Aufruhr Ein weiser Mann hat viele Jahrhunderte vor Christus gesagt so etwas, wie die Menschheit in Ruhe lassen, gibt es. Aber so etwas wie die Menschheit regieren, gibt es nicht. Oscar Wilde in Aufruhr Was Wunder also, dass Oscar Wildes The Soul of Man Under  Socialism (Wilde 2012) fast leitmotivisch den Roman durch-zieht, weil Michael Scharang – wie seine Romanfiguren – da-rauf insistiert, dass Menschen in Freiheit miteinander leben könnten, um damit im Sinne einer narrativen Zukunftsof- fenheit den Musilschen Möglichkeitssinn gegen eine erstarr-te (und d. i. konservative oder faschistische) Wirklichkeit zu halten, was Scharang jüngst an anderem Ort erneut mit Karl Kraus in Verbindung brachte. In der jüngsten Ausgabe von konkret formuliert der Autor deshalb: „Kunst, sagt Karl Kraus, ist das, was Welt wird, nicht, was  Welt ist. Literatur ist angesiedelt in der Gegenwart, findet aber in der Zukunft statt. Doch nicht in einer nebulosen. Gegen-wart, das ist die Gesellschaft, wie sie ist, Zukunft ist die Ge-sellschaft, wie sie sein könnte.“ (Scharang 2020: 66) Insofern ist die Textur von Aufruhr von einem „Revolu- tionär-Werden“ (Gilles Deleuze) durchzogen, dass in einer an Edward Hoppers Gemälden orientierten Gegenstandsbe-zogenheit buchstäblich gleichzeitig die Potenz des (reflexiven) Umsturzes der gegebenen Verhältnisse erkennt und so – wohl auch im Sinne Sartres – die Freiheit der Menschen in Vergan-genheit, Gegenwart und Zukunft garantieren kann. Als Dr. Maximilian Spatz gemeinsam mit Franz Montefio- ri die Auslagengestaltung des Modehauses von Dr. Kreuzteu-fel übernimmt, um erstens Anna nahe zu sein und sie zwei-tens im Klassenkampf zu unterstützen, hängen sie in einer der Auslagen ein Zitat von Jean-Paul Sartre und eines von Oscar Wilde in die Öffentlichkeit und sorgen auch so bei den Pas-santinnen und Passanten für eine Stimmung des Aufruhrs … EDWARD HOPPER (1940): OFFICE AT NIGHT © Wikimedia Commons


 ZUKUNFT | 57  5.  REVOLUTION(EN): UMSTURZ, AUFSTAND,   PROTEST, REVOLTE, AUFRUHR … Alles ist politisch. Der Taxifahrer in Aufruhr Die Revolution ist eine Schwester der Schönheit. Zerlina Spatz in Aufruhr Damit ist vom Titel weg das entscheidende Paradigma des  gesamten Romans ausgemacht, der à la lettre im Tropus der Ironie durchgearbeitet wird. Denn so witzig der Roman sich durchaus liest, so ernst bleibt die Sache einer (zumindest po-tenziellen) Revolution und aller mit ihr verbunden Wortfü-gungen des Aufruhrs: von Umsturz und Aufstand über den Protest zur Revolte. Insofern stemmt Scharang sich auf al-len Erzählebenen und in allen Perspektivierungen gegen den Versuch Revolutionen zu kriminalisieren, ihre progressive Rolle in der Menschheitsgeschichte zu löschen oder pauschal ihre Legitimität in Frage zu stellen. So steht der Möglich-keitssinn buchstäblich revolutionär gegen eine Wirklich-keit, die sich gegen jedwede Umgestaltung und Veränderung sträubt. Dementgegen kommt es am Ende von Aufruhr zu einem  Zusammenspiel von Warnstreiks, der aufständischen Über-nahme des Österreichischen Rundfunks (die sicherlich mit Brechts hochgradig partizipatorischer Radiotheorie gedacht ist) und einer Allianz mehrerer progressiver aufrührerischer Gruppierungen, die ein Interregnum in der österreichischen Geschichte erzwingen, mit dem die Möglichkeit kollektiver Verwaltung oder auch rascher Umsetzung von Barrierefreiheit im fiktionalen Raum real wird. Und so bündelt sich am Ende im Fernsehstudio des ORF alles in einer einfachen, aber nichts-destotrotz richtigen Einsicht: „Zwei junge Aufständische, eine Frau und ein Mann, die  seit einer Stunde vertieft in ein Gespräch mit dem ehemaligen stellvertretenden Direktor des Statistischen Zentralamts im Studio beisammenstanden, rollten nun Packpapier aus, schrie-ben in großen Buchstaben etwas drauf und befestigten es ne-ben den beiden Plakaten: Wohlergehenallerstatt Bereicherungweniger“ (298) Ob dies nun mit Sprengungen von Kaufhäusern und be- waffnetem Widerstand oder mit Festen oder Feuerwerken zu erreichen sei, steht mit aller Ironie dann am Ende zur Debatte: „Einmal noch gab es ein Feuerwerk. In einer Fabrik, in  der Zündmaschinen hergestellt wurden […]. Den Beschäftig-ten ging es um mehr Lohn, vor allem aber um Mitbestim-mung.“ (297) ALESSANDRO BARBERI  ist Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent.   Er lebt und arbeitet in Wien und Magdeburg. Politisch ist er in der SPÖ  Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter:   https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/ Literatur:Scharang, Michael (2020): Literatur und Lüge. Der lange Weg vom Kunstgewerbe zur Sprachkunst, in: konkret 7/2020: 59–61.Weiss, Peter (2016): Die Ästhetik des Widerstands, Berlin: Suhrkamp.Wilde, Oscar (2012): The Soul of Man Under Socialism, London: Black House  Publishing Ltd. Diese Rezension erschien erstmalig in MEDIENIMPULSE  3/2020 und kann als pdf-Datei unter https://tinyurl.com/yyqv4sax heruntergeladen werden (letzter Zugriff: 10.01.2021).


 58 | ZUKUNFT  Dobroslav Houbenov (2016)Ausstellung von  Printing Time an der Universität für angewandte Kunst Wien © Dobroslav Houbenov


 ZUKUNFT | 59  DOBROSLAV HOUBENOV


BUCHBESTELLUNG Kupon ausschneiden& einsenden an: VA Verlag GmbHKaiser-Ebersdorferstrasse 305/31110 Wien ICH BESTELLE "ACHT STUNDEN ABER WOLLEN WIR MENSCH SEIN"PREIS 19,90 € ZZGL. 9 € PORTO NAME: _________________________________________________________________ STRASSE: _______________________________________________________________ ORT/PLZ: _______________________________________________________________ TEL.: ______________________________ E-MAIL: _____________________________UNTERSCHRIFT: _______________________ ODER BESTELLUNG PER E-MAIL AN DEN VERLAG: OFFICE@VAVERLAG.AT SOLANGE DER VORRAT REICHT