ZUKUNFT | 49
Im Alltag sieht man ja ständig, dass Polly alles schafft, zum
Beispiel am Getränkeautomaten. Niemand versteht, warum Polly immer das richtige Getränk und ihr Wechselgeld be-kommt, warum ihre Münzen nie vom Automaten verschluckt werden und warum sie auch nie etwas will, das gerade aus ist. Es ist eine eigene Disziplin unter uns, Polly beim Getränkeho-len zu beobachten. Wenn Polly zum Automaten spaziert, mit all ihren schrägen Kleidungsstücken und den schiefen Haaren, sehen alle ihr gebannt zu. Wir beobachten genau, wie sie die Münzen in den Schlitz steckt, sich lässig am Automaten an-lehnt und schon kurz darauf poltert ihr Getränk heraus. Es ist immer das richtige, und Polly ist mit ihrem Wechselgeld im-mer zufrieden. Nie hört man von ihr einen Aufschrei wie von den anderen: „Das ist die falsche Flasche!“ oder: „Da fehlen 20 Cent!“ Die Mädchen sehen ihr jedes Mal voller Bewun-derung zu, wie sie erfolgreich mit ihrem Getränk und ihrem Geld zurück ins Zimmer spaziert. In den Augen der Mäd-chen kann man fast ein atemloses Seufzen hören: „Sie schafft es einfach immer. Sie schafft einfach alles.“ (Einmal habe ich bemerkt, wie entweder Polly oder der Automat sich geirrt hat, aber das war eher ein Versehen meinerseits, weil ich zu nah dran war, und ich habe jetzt wirklich lang überlegt, ob ich das überhaupt schreiben soll. Normalerweise steht niemand ganz nah daneben, wenn Polly sich ein Getränk holt, weil alle wissen, dass sie zu viel Nähe nicht schätzt. Nur dieses eine Mal saß ich zufällig direkt hinter der Glasscheibe im Speise-saal und der Automat war ein bisschen schräg zur Seite ge-dreht worden, weil daneben das Kopiergerät repariert wurde. So kam plötzlich ein Winkel zustande, in dem ich fähig war, genau zu sehen, was Polly am Tastenfeld eintippte. Ich konnte deutlich erkennen, dass sie prickelndes Mineralwasser bestell-te, also den obersten Knopf drückte. Kurz darauf polterte die Flasche heraus, aber es war mildes Mineralwasser. Ich wollte innerlich schon darüber jubeln, dass Polly jetzt auch endlich einmal Pech gehabt hatte und sich gleich lautstark beschweren würde. Es wäre ein Moment gewesen, über den später beim Abendessen noch alle geredet hätten! Aber nichts geschah. Polly nahm die Flasche aus dem Fach, schaute zufrieden dar-auf und ging dann mit einem ganz glücklichen Lächeln in ihr Zimmer. Die Mädchen, die aus der Ferne zuschauten, blick-ten ihr wieder mit diesem Ausdruck der Bewunderung nach, ganz beeindruckt davon, dass Polly schon wieder Erfolg ge-habt hatte. Ich dachte lang darüber nach, wie das möglich war, und ob sich da jetzt eher Polly vertan hatte oder der Au-tomat, und zum Schluss dachte ich, dass ich es vielleicht doch falsch gesehen hatte. Deswegen hätte ich das jetzt vielleicht gar nicht schreiben sollen.)
Einmal hatten Polly und ich den absoluten Wahnsinnsmo-
ment. Ich weiß immer noch nicht, wie wir dazu gekommen sind. Jedenfalls saßen wir in einer Nacht plötzlich alleine zu zweit auf der Terrasse. Ich ging in dieser Nacht sehr spät durch den Flur, um mir noch einen Saft aus dem Getränkeautoma-ten zu holen. Alle Mädchen waren in ihren Zimmern, es war sicher schon weit nach Mitternacht. Trotzdem hatte ich auf einmal das seltsame Gefühl, nicht allein zu sein, obwohl ich weder ein Geräusch gehört, noch irgendetwas gesehen hat-te. Alles war ruhig, nichts war verdächtig, und trotzdem spür-te ich, dass da jemand war. Es war wohl dieses Polly-Gefühl, diese Ahnung, die auch alle Mädchen dazu bringt, den Kopf schon eine Sekunde früher zur Tür zu drehen, bevor Polly die Klinke herunterdrückt. Ich ahnte aber in diesem Moment noch gar nicht, dass sie es war, deren Nähe ich spürte. Nur das vage Gefühl: „Da ist irgendjemand“ brachte mich dazu, lang-sam in Richtung Speisesaal weiterzugehen, am Getränkeau-tomaten vorbei, und mich neugierig umzusehen. Wie fern-gesteuert öffnete ich die Glastür und ging in den Speisesaal hinein. Die Tische und Sessel standen ruhig da, als würden sie schlafen, aber mit offenen Augen. Ich war mir sicher, dass sie mich beobachteten und sich jeden Moment bewegen und davongehen würden. Oder dass sie plötzlich über mich her-fallen würden. Dennoch zog es mich weiter bis ans Ende des Raums, wo durch eine Glasfront der Mond hereinschien. Erst da bemerkte ich, dass die Terrassentür leicht offenstand. Selt-samer Weise dachte ich zuerst an einen Selbstmord. Irgendei-nes der Mädchen wäre vielleicht hinuntergesprungen und ich würde es jetzt entdecken. Sofort stellte ich mir vor, wie ich diesen Moment später allen schildern würde: „Ich muss ir-gendeine Ahnung gehabt haben. Ich weiß nicht, warum ich auf einmal in den Speisesaal ging. Dann sah ich die offene Terrassentür, aber ich dachte mir nichts Schlimmes. Ich woll-te nur einmal nachsehen, was da los war. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass ich eine Leiche finden würde! Mit so etwas hätte ich nie gerechnet! Man denkt ja an so etwas gar nicht!“ Ich bewegte mich also sehr langsam auf die Terrassen-tür zu, um den Moment so richtig zu zelebrieren, und kurz bevor ich sie erreichte, schloss ich die Augen und atmete ein-mal tief durch. Jetzt würde es passieren, jetzt würde der Mo-ment kommen, den ich mein Leben lang nicht mehr verges-sen würde, der unheimliche, unglaubliche Moment, in dem ich, zum ersten Mal in meinem Leben, eine echte Leiche se-hen würde. Würde ich schreien? Ich würde ...
„Hallo.“