08/2021 5,– Euro, Österreichische Post AG,  P.b.b. Abs.: Gesellschaft zur Herausgabe der Zeitschrift ZUKUNFT,   Kaiserebersdorferstrasse 305/3, 1110 Wien, MZ 14Z040222 M, Nr. 08/2021 GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE Die Vulva – das (bisher)  unsichtbare Geschlecht Interview mit Gloria Dimmel Popsozialisation Uwe Schütte Drag – ästhetisch erfahren Jan Obradovic Blasse Tage Zarah Weiss SEIT  1946


  EDITORIAL Nicht zuletzt angesichts des Pride-Monats – und auch in Er-innerung an die Ausgabe 05/2021 der ZUKUNFT, die den Titel  Vielfalt als soziale Frage trug – hat sich die Redaktion der ZU- KUNFT entschlossen, dem Thema Geschlechterverhältnisse  eine eigene Ausgabe zu widmen. Denn zwischen den klassischen Beständen des Feminismus und der gender theory ergaben und ergeben sich wichtige Parallelen, aber auch eminente Unter- schiede. Ist das binäre Geschlechtermodell etwa eine anthropo- logische Konstante, oder – wie im durchgängigen Rekurs auf poststrukturale Theorie(n) immer wieder betont wird – sind sex und gender gleichermaßen Effekt von diskursiven Konstruktio-nen? Im Blick auf notwendige (theoretische) Diskussionen im Rahmen der Sozialdemokratie wäre es dahingehend nötig, so- wohl die körperorientierten Geschlechtsmodelle, als auch die (De-)Konstruktionsargumente zusammenzuführen, um gerade  in Fragen der progressiven Frauenpolitik strategisch und taktisch gemeinsam – und auch geschlechterübergreifend – vorgehen zu können. Erinnert sei dabei nur an den Schlagabtausch, der sich  2017 zwischen Alice Schwarzer und Judith Butler ergeben hat. Aus diesen und anderen Gründen stellen wir mit dieser Ausgabe  der ZUKUNFT Geschlechterverhältnisse eigens zur Diskussion … Diese beginnt mit einem Interview, das die Redaktionsassis-tentin der ZUKUNFT,  Bianca Burger, mit Gloria Dimmel,  der Künstlerin unserer Bildstrecke, über ihre Kunst, Politik und Sexismus geführt hat, um die in dieser Ausgabe präsentierte Äs-thetik von Gipsabdrücken zu erläutern. Dimmel erklärt dabei,  was sie dazu motiviert hat, Frauen* die Gelegenheit zu geben,  ihre Vulva mittels Gipsabdruck zu verewigen und wie bzw. wo  solche Sitzungen stattfinden. Die Beweggründe der Teilneh-merinnen sind verschiedene, genauso was anschließend mit den  Abdrücken geschieht. Auch wenn es sich dabei um ein Projekt  handelt, mit dem Dimmels künstlerische Karriere erst so rich-tig startete, wünscht sie sich dennoch eine Welt, in der dieses Projekt gar nicht notwendig wäre, weil jede*r weiß, um was es sich bei einer Vulva handelt und keine Frau sich mehr dafür  schämt. Dem kann die Redaktion der ZUKUNFT nur auf allen  Ebenen zustimmen. Die Irritation traditioneller Geschlechterverhältnisse analysiert  dann der Beitrag von Jan Obradovic, der einen Blick auf das  Verhältnis von Drag, ästhetischer Bildung und Heteronormati- vität wirft. Er rahmt dabei die Kunstform des Drag theoretisch,  um sie in einen Bezug zur Ästhetik setzen zu können und be- schreibt, inwiefern sie eine subversive ästhetische Erfahrung aus- lösen kann. Dabei geht der Artikel von Drag im Mainstream aus, also etwa vom Reality-TV-Format RuPaul’s Drag Race, um die mediale (und soziale) Rolle von Parodie und Queerness in den Blick zu nehmen. In diesem Zusammenhang erscheint Drag als  Träger*in ästhetischer Erfahrung(en) und zeigt, dass Körper ge- schlechtlich verschieden markiert werden (können). Insgesamt steht damit die Hoffnung im Raum, dass die Wandelbarkeit von  Drag und der Wille der Drag-Performenden, dazu führt, starre  gesellschaftliche Geschlechternormen aufzubrechen. Michael Burger widmet sich in der Folge mit seinem Es- say der Verhandlung von Geschlechtlichkeit und Geschichte  im Videospiel, genauer gesagt der Dekonstruktion von Ge- schlecht im 12. Teil der Assassin’s Creed Spielreihe: Valhalla. Die  Besonderheit besteht darin, dass es den Spieler*innen ermög-licht wird, zwischen den Geschlechtern zu wechseln, wodurch  auch im virtuellen Raum des Computerspiels heteronormative  Geschlechterverhältnisse BIANCA BURGER UND ALESSANDRO BARBERI


 ZUKUNFT | 3    Geschlechtsvorstellungen dekonstruiert werden. Dies ist unter  anderem deswegen möglich, weil die Macher*innen mehr oder  weniger auf geschlechtliche Attribute verzichtet haben. Burger  zeichnet die Entwicklung der Spielreihe im Allgemeinen und  Valhalla  im Besonderen nach und macht deutlich, welche Ver- änderungen die Reihe hinsichtlich der spielbaren Charaktere durchgemacht hat. Von einer binären Geschlechtsvorstellung hin zu einer Geschlechtskonstruktion, in der die Geschlechtsidentität zu einer fluiden Kategorie wird. Bei Uwe Schütte steht anschließend die Musik im Mittelpunkt, besser gesagt die Popsozialisation. In seinem Review-Essay stellt er zwei Neuerscheinungen zur Popmusik ins Zentrum und be-reichert sie im Blick auf Bands wie Can, Neu! oder  Kraftwerk  durch seine musikhistorischen Reflexionen. Neben der wissen-schaftlichen Analyse kommen auch Schilderungen autobiogra-fischer Erfahrungen nicht zu kurz, wenn er etwa im Werk von  Jens Balzer – auch dies ein Beitrag zu unserem Themenschwer- punkt – die Entwicklung des männlichen Gitarrenrocks zur Do-minanz von Musiker*innen wie Amy Winehouse oder Adele als grundlegende Transformation der Geschlechtermatrix im  Rahmen der Pop-Musik-Historie im 21. Jahrhundert vor Augen  führt. So liest sich der Artikel auch im Sinne von Erkundungen über die Erfindung von Pop, Nerds und eben den aktuellen Sie-geszug von Sängerinnen … Den Auftakt für den literarischen Abschnitt dieser Ausgabe macht in der Folge Zarah Weiss mit ihrer Erzählung Blasse Tage. Sie erzählt die Geschichte von Sonia und Mascha, die beide den glei- chen Kurs an der Universität besuchen. Während Sonia jede noch so kleine Regung von Mascha wahrnimmt, scheint diese keine  Notiz von ihr zu nehmen; eine Geschichte, wie sie häufig vor-kommt, direkt aus dem Leben gegriffen, feinfühlig und beeindru- ckend in einem literarischen Loop erzählt. Während Weiss von einer Schwärmerei und einer sich möglicherweise entwickelnden gemeinsamen Zukunft berichtet, stellt Lorena Pircher dann eine vergangene, unerfüllt gebliebene Liebe in den Mittelpunkt ihrer Erzählung Revenir. Es geht dabei um Rückkehr, Aussöh-nung und selbstbestimmte Neuanfänge. Die Verbindung zum  Thema dieses Heftes besteht dabei in der an verschiedenen Stellen  durchscheinenden Diskussion von weiblicher Identität. Den Abschluss bildet schließlich die Laudatio Minesweeper  des ZUKUNFT-Redakteurs  Thomas Ballhausen, der diese im Rahmen der Verleihung des Clemens-Brentano-Preises 2021  der Stadt Heidelberg an den österreichischen Schriftsteller    Simon Sailer halten durfte. Sailers Literatur ist nicht zuletzt von männlichen Protagonisten bestimmt, die einem unheimlichen Schicksal ausgeliefert sind. Insofern thematisiert auch Ballhausen Geschlechterverhältnisse und reflektiert in diesem Erstabdruck  seiner Rede aktuelle Debatten in und um Literatur. Simon   Sailer erhielt den Clemens-Brentano-Preis 2021 übrigens für seine Novelle Die Schrift. Wir dürfen zum Schluss dieser Ausgabe und an dieser Stelle buchstäblich einen Schriftauszug veröffentlichen, in welchem Sailer mit der Anlage seines tragischen Helden an  Traditionen der Romantik sowie der Moderne anschließt. Insgesamt hoffen wir erneut, dass die ZUKUNFT mit ihren The- menschwerpunkten die wissenschaftlichen, politischen und ethi-schen Interessen der Sozialdemokratie abdeckt, um gerade im  Bereich der Geschlechterverhältnisse progressive Politik mit einer linken Kante zu ermöglichen … Wir senden Ihnen herzliche und freundschaftliche Grüße, Bianca Burger und Alessandro Barberi BIANCA BURGER  ist Redaktionsassistentin der ZUKUNFT und hat sich nach ihrem   geisteswissenschaftlichen Studium der Frauen- und Geschlechter- geschichte sowie der historisch-kulturwissenschaftlichen Europaforschung  in den Bereichen der Sexualaufklärung und der Museologie engagiert. ALESSANDRO BARBERI  ist Chefredakteur der ZUKUNFT; Bildungswissenschaftler, Medien- pädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien.  Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/




Inhalt 6     Die Vulva – das (bisher) unsichtbare Geschlecht    VON GLORIA DIMMEL     IM GESPRÄCH MIT BIANCA BURGER 12    Drag – ästhetisch erfahren    VON JAN OBRADOVIC 16    Eivor – Mann, Frau, Divers    VON MICHAEL BURGER  24     Popsozialisation    VON UWE SCHÜTTE 28    Blasse Tage    VON ZARAH WEISS 32     Revenir    VON LORENA PIRCHER 36    Minesweeper. Laudatio auf Simon Sailer    VON THOMAS BALLHAUSEN 40    Die Schrift (Auszug)    VON SIMON SAILER GLORIA DIMMEL – PUSSY PAIRS 01 (C) ACHSE VERLAG IMPRESSUM Herausgeber: Gesellschaft zur Herausgabe der Zeitschrift »Zukunft«, 1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3 Verlag und Anzeigenannahme: VA Verlag GmbH,  1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3, Mail: office@vaverlag.at Chefredaktion: Alessandro Barberi Stellvertretende Chefredaktion: Thomas Ballhausen Redaktionsassistenz: Bianca Burger Redaktion: Julia Brandstätter, Hemma Prainsack, Katharina Ranz, Constantin Weinstabl Online-Redaktion: Bernd Herger Mail an die Redaktion: redaktion@diezukunft.at Cover: Deckblatt Gloria Dimmel – Pussy Pairs 01 © Achse Verlag – Namentlich gekennzeichnete Beiträge sind urheberrechtlich geschützt und stellen nicht immer die Meinung von Redak-tion, Herausgeber*innen und Verlag dar.


 6 | ZUKUNFT  Im Interview mit  BIANCA BURGER  spricht  GLORIA DIMMEL , die Künstlerin unserer Bildstrecke, über ihre Kunst, Poli- tik und Sexismus und was die Ästhetik der Abdrücke ausmacht. Aber genau so kommt zur Sprache was sie dazu bewogen hat, Vulva-Abdrücke anzubieten, in welchen Settings sie stattfinden, welchen Vorteil die DIY-Pakete haben und nicht zuletzt, warum sie sich wünschen würde, dass es dieses Projekt gar nicht erst braucht … Die Vulva – das (bisher)  unsichtbare Geschlecht DIE VULVA – DAS (BISHER) UNSICHTBARE GESCHLECHT  VON GLORIA DIMMEL UND BIANCA BURGER I.  Am 8. August 2021 erschien in der Badischen Zeitung unter  der Rubrik „Ratgeber“ bzw. „Gesundheit und Ernährung“ ein Interview. Die Überschrift lautet Das Ende der Scham: Wa-rum die Vulva kein Tabu sein sollte. Protagonisten des Ganzen sind nicht etwa zwei Frauen, sondern der Journalist Andre-as Frey und der Biologe Daniel Haag-Wackernagel. Verstehen Sie mich nicht falsch – beide können nichts dafür, dass sie als cis-Männer wahrgenommen werden, aber ist es nicht trotzdem etwas merkwürdig und alt bekannt, wenn sich zwei als Män-ner wahrgenommene Personen über das weibliche Geschlecht unterhalten? Haben wir in unserer Welt nicht schon genü-gend männliche Blickwinkel auf Frauenkörper? Auch wenn es beispielsweise Pornografie gibt, die von Frauen für Frau-en produziert wird, ist der Großteil trotzdem nach wie vor für ein männliches Publikum mit einer entsprechenden Sexuali-sierung des weiblichen Körpers konzipiert.  II.  Männlich geprägter Sexismus begegnet uns tagtäglich –  beispielsweise in der Werbung. Es wird auf eine eindeutige Zweigeschlechtlichkeit rekurriert und klassische Geschlechts-stereotype bedient. Wobei für die Frauen an dieser Stelle meistens gilt, dass sie objektiviert, jung, schön und jederzeit für Sex verfügbar dargestellt werden. Männer hingegen wer-den als stark, dominant und vor allem sehr potent gezeigt. Dass dies weder die Wirklichkeit widerspiegelt, noch den rea-len Lebensentwürfen entspricht, sollte nicht extra betont wer-den müssen.  Obwohl der weibliche Körper so präsent ist, gibt es nach  wie vor Tabus. Die „Vulva“ ist eines davon. Man könnte somit in zweierlei Hinsicht vom „unsichtbaren Geschlecht“ spre-chen. Die Problematik beginnt bereits beim Terminus. Kaum jemand weiß, Frauen inklusive, was genau der Unterschied zwischen „Vagina“ (häufig auch als „Scheide“ bezeichnet, zählt zu den inneren Geschlechtsorganen der Frau. Sie verbin-det den Scheideneingang mit dem Muttermund) und „Vulva“ (im Prinzip alles was von außen zu sehen ist: unter anderem innere und äußere Vulvalippen, Klitoris, Harnröhrenausgang, Scheidenvorhof und den Scheideneingang) ist. Vielen fällt es zudem sehr schwer Bezeichnungen wie „Vagina“ oder „Vul-va“ auch nur auszusprechen. Wenn es um das männliche Pen-dent, den Penis geht, verhält es sich anders. Abgesehen davon, dass es gefühlt unzählige Bezeichnungen für das männliche Geschlechtsorgan gibt. Auch wenn es ähnliche viele Begriff-lichkeiten zur Bezeichnung von „Vulva“ und „Vagina“ gibt, sind diese meist sehr abwertend. III.  Zurück zum Interview. Abgesehen davon, dass sich wie so  häufig Männer über einen Teil des weiblichen Körpers unter-halten, ist es bezeichnend, dass dies wieder einmal aus einer wissenschaftlichen Sicht passiert. Ich will diesem scheinba-ren Standard etwas entgegensetzen, indem ein künstlerischer Blick auf die „Vulva“ geworfen wird. Ist doch dieser Aspekt mindestens genauso spannend, wenn nicht sogar wichtiger. Ich bin gerade deshalb sehr froh darüber, dass ich Gloria Dim-mel für die Bildstrecke gewinnen konnte. Ihr Kunstprojekt macht offensichtlich was meist verborgen bleibt und was vie-len bisher völlig unbekannt war: die Vulva, bzw. ihre Viel-


falt. Die wenigsten Frauen sind sich im Klaren darüber, dass nicht jede Vulva gleich ausschaut und kaum eine hat sich die Mühe gemacht, oder noch besser, den Mut gefunden, einen Spiegel zu nehmen und ihre äußeren Genitalien genau zu be-trachten. Gloria zeigt einen weiblichen, künstlerischen Blick-winkel und macht deutlich, als was die Vulva auch wahrge-nommen werden kann und soll: als etwas Einzigartiges, für das sich keine Frau schämen soll. (BB)  IV.  Bianca Burger: Woher nimmst Du die Inspiration für  deine Kunst im Allgemeinen und die Abdrücke im speziel-len? Welche internationalen Vorbilder oder Vergleichsbeispie-le gibt es, an denen Du Dich mit dieser Arbeit orientierst oder auch abgrenzt? Gloria Dimmel: Klar wurden die Vulva-Abdrücke in  erster Linie von der Great Wall of Vagina inspiriert. Und von dem Gedanken - warum stecken eigentlich hauptsächlich wei-ße cis-Männer hinter solchen Projekten? Und ich finde Wort-spiele gut (siehe Mumury – Pussy Pairs) – aber auch an dem ge-nannten Beispiel zeigt sich wieder die Unwissenheit über die Benennung dieses Genitals. Für mich sind deshalb Künstlerin-nen wie VALIE EXPORT oder Renate Bertlmann viel relevanter. Aber etwa zeitgleich, als ich damit begonnen habe, Vulva-Ab-drücke herzustellen, haben auch immer mehr internationale Künstlerinnen mit ähnlichen Projekten begonnen und in der Zwischenzeit gibt es also eine gutes Angebot für Interessierte, die ihre Genitalien verewigen lassen wollen. Ich finde es auch sehr spannend, wie unterschiedlich diese Künstlerinnen – z.B. Lydia Reeves aus Brighton oder Viktoria Krug aus Graz – ar-beiten und dass jede ihre eigene Handschrift dabei mitbringt.  B.B.: Wie fügen sich diese Arbeiten in dein bisheriges  Schaffen ein bzw. seit wann sind diese Abdrücke Teil deiner künstlerischen Arbeit? G.D.: Mein künstlerisches Schaffen hat in dem Sinn eigent- lich erst mit den Vulva-Abdrücken 2017 begonnen und sie sind hauptsächlich aus einem persönlichen Bedürfnis entstanden – also nie mit der Absicht, irgendwas Größeres daraus zu machen. Dadurch hat sich für mich dann aber auch ein Tor zu allgemei-nen Körperabformung geöffnet, womit ich gern öfter experi-mentieren würde, und weiters auch zur Keramik. Zuvor hab ich mich allerdings schon lange mit Analog-Fotografie beschäftigt.  B.B.: Was hat dich dazu bewogen dieses Projekt zu star- ten? Ist es Teil deines künstlerischen Ansatzes das sogenann-te „unsichtbare Geschlecht“ nicht nur im Sinne der „Vulva“, sondern auch ganz generell im Sinne von „Frau“ sichtbarer zu machen? G.D.: Der Anfang des Projektes war wirklich nur ein Vul- va-Abdruck für mich selbst. Doch als ich in meinem Umfeld sehr viel positives Feedback und auch einen gewissen Bedarf für dieses Thema festgestellt habe, ist es einfach ins Rollen ge-kommen. Die Vulva ist sehr tabuisiert, wird meistens ignoriert oder als „schmutzig“ und „eklig“ deklariert. Und es gibt sehr viel Unwissen und Mythen um das Thema. Aber der Rede-bedarf vieler als Frauen gelesenen Personen ist groß. Und hier ist es auch wichtig zu erwähnen, dass der Besitz einer Vulva nicht nur Frauen vorbehalten ist, sondern Personen anderer Gender und trans-Männern. Es geht also darum, dieses Geni-tal und seine Diversität sichtbar zu machen, und dasselbe gilt für die Besitzer*innen.  B.B.: Wie genau läuft der künstlerische Prozess ab? Wie  gestaltet sich eine Sitzung, wenn ein Abdruck erzeugt wird? Kannst Du einschätzen, wie viele Abdrücke Du schon produ-ziert hast? G.D.: Meistens veranstalte ich Sitzungen mit mehreren  Teilnehmenden bei mir zu Hause, wo dann im Beisein der an-deren die Abdrücke hergestellt werden. Umrahmt von einem interessanten Kennenlernen, anregenden Gesprächen und ge-danklichem Austausch, einem schrumpfenden Schamgefühl, manchmal auch ein paar Drinks, und sehr viel Lachen. Ich habe bereits über 600 Abdrücke genommen.  B.B.: Wie kommst Du zu deinen Modellen? Und sind es  eher Frauen, die ohnehin schon einen sehr positiven Zugang zu ihrem Körper haben oder sind auch solche dabei, die damit ihre Komfort-Zone verlassen und neugierig sind? G.D.: Die meisten Leute schreiben mir auf Instagram, des- halb ist es auch vorwiegend meine Altersgruppe. Nach oben hin wird es ein wenig lichter. Ich denke, hinsichtlich des Zu-gangs zum eigenen Körpers, hält es sich die Waage. Manche hatten schon immer ein sehr positives Körpergefühl und ha-ben sich noch nie Gedanken zum Aussehen ihrer Vulva ge-macht, andere haben sich dieses positive Gefühl hart erkämpft, und manche sind gerade noch auf dem Weg dahin. Besonders   ZUKUNFT | 7 


 8 | ZUKUNFT  DIE VULVA – DAS (BISHER) UNSICHTBARE GESCHLECHT  VON GLORIA DIMMEL UND BIANCA BURGER schön finde ich es zu hören, wenn mir Teilnehmende erzäh-len, dass sie mir schon Monate oder Jahre in den sozialen Me-dien folgen, aber sich erst jetzt getraut haben, mitzumachen. Es ist also nie zu spät! Daran sieht man auch, dass die eigene Arbeit Früchte trägt und eine schrittweise Normalisierung der Vulva gelingt – auch wenn es nur um einzelne Personen geht.  B.B.: Abdrücke dieser Art zu machen stelle ich mir sehr  spannend und auch fordernd vor. Was ist Dein Blick als Künst-lerin auf das Thema „Vulva“? Warum glaubst du, haben selbst Frauen so viele Vorbehalte, wenn es darum geht, über Intimes zu sprechen oder auch das Wort „Vulva“ zu benutzen? G.D.: Die Tabuisierung der Vulva erfolgt wie vieles in der  patriarchal geordneten Gesellschaft, in der wir leben, syste-matisch und bereits in der Kindheit, wo die Vulva und vieles, was damit zu tun hat, oft einfach eine Leerstelle ist. Es gibt kaum gezielte Sexualaufklärung für Jugendliche. Das meiste Wissen dazu, muss man sich als erwachsener Mensch irgend-wann selbst aneignen. Denn Wissen darüber, wie der eigene Körper funktioniert, wie er sich anfühlen kann, wozu er fähig ist, bedeutet Macht. Einen Abdruck der eigenen Vulva zu ma-chen, kann also ein Akt der Selbstermächtigung sein, genau-so wie Selbstliebe ein Akt der Rebellion ist, wenn man stän-dig und auf allen Kanälen die Message bekommt, schöner und besser sein zu müssen.  B.B.: Und um das Thema der Sichtbarkeit bzw. Unsicht- barkeit nochmals aufzunehmen: Warum kann fast jede*r ei-nen Penis zeichnen, aber kaum jemand eine Vulva? G.D.: Weil anscheinend kaum jemand weiß, wie eine Vul- va aussieht. Das wäre natürlich kulturgeschichtlich etwas aus-führlicher zu erklären. Aber die Botschaft ist klar: Der Pe-nis repräsentiert seit jeher Kraft und Fruchtbarkeit. Je größer desto besser. Umgekehrt soll die Vulva unscheinbar sein, so klein wie möglich, bis sie ganz vom Erdboden verschwindet, so wie als Frauen gelesene Menschen auch kaum Raum ein-nehmen (dürfen). Ob in der Erzählung der Menschheitsge-schichte oder in der U-Bahn – Stichwort: Menspreading.  B.B.: Deine Arbeiten erzeugen Sichtbarkeit auch im Sin- ne von Objekthaftigkeit. Weißt du, was die Frauen mit ihren Abdrücken machen? Werden sie an den Partner/die Partnerin verschenkt, dienen sie als Deko-Objekt, oder verschwinden sie vielleicht doch im Schrank? G.D.: Ich denke alle drei Antworten treffen hier zu. Der  Großteil der Teilnehmenden hängt sich den Abdruck aber ins Wohn- oder Schlafzimmer, wie ich schon öfters auf Fotos ge-sehen habe.  B.B.: Was soll deinem Wunsch nach mit den Kunstwerken  passieren? Was macht für dich die Ästhetik der Abdrücke aus? Gibt es Reaktionen aus den Bereichen der Kunstvermittlung oder des Kunstmarkts auf diese Arbeiten? G.D.: Für mich steht im Vordergrund, dass jede Person so  einen Abdruck für sich selbst bekommt, wenn sie es möchte. Die Abdrücke meiner Sammlung möchte ich in erster Linie durch Ausstellungen sichtbar machen. Denn welchen Zweck haben sie verpackt und verstaubt in einer Kiste bei mir zu Hause? Deshalb hat es mich natürlich besonders gefreut, dass im letzten Jahr das Frauenmuseum Hittisau/Vorarlberg und das Frauenforum Salzkammergut in Ebensee/Oberösterreich meine Abdrücke ausgestellt haben. Vom Kunstmarkt hab ich noch nichts gehört.  Die Ästhetik der Abdrücke hat natürlich viel mit ih- rer weißen Farbe zu tun. Dadurch haben sie etwas von grie-chischen Statuen, wie sie sich uns heute darstellen. Sie sind sehr clean, was die unterschiedlichen Formen gut zur Gel-tung bringt. Dennoch wird natürlich der wichtige Aspekt der Hautfarbe und ihrer Konnotation außer Acht gelassen. Denn das gesellschaftlich vermittelte Idealbild einer perfekten Vulva ist klein, glatt und rosa. Über die runde Form meiner Skulp-turen kann man natürlich auch philosophieren. Der Kreis be-deutet das Absolute, Vollkommene – und das finde ich super. Eigentlich habe ich die Form aber nur aus pragmatisch tech-nischen Gründen gewählt.  B.B.: Ich kann mir vorstellen, dass es auch Kritik oder  Vorbehalte gegenüber dieser Kunst gab bzw. gibt. Wie trittst Du denen entgegen? Und was sind die Kritikpunkte daran? Wenn es negative Stimmen gibt, von wem kommen sie? G.D.: Negatives Feedback wird selten an mich persönlich  herangetragen. Eher passiert es, dass das positive Feedback in die Richtung „creepy“ geht. Ich denke, dass mein Projekt an-sonsten in öffentlichen Foren oder Kommentarspalten aus-gelacht und als unnötig bezeichnet wird. „Haben wir nicht andere Probleme?“ Und dann gibt es auch Kritik an der Ver-schränkung von Weiblichkeit mit der Vulva, darauf habe ich mich vorhin schon bezogen. Das mag für viele stimmen, aber für viele stimmt es auch nicht.


 ZUKUNFT | 9  B.B.: Während der Pandemie hast du angefangen DIY-Pa- kete zu verkaufen, mit denen die Frauen zu Hause die Ab-drücke alleine machen können – was hat dich dazu bewogen? Mindert dies nicht vielleicht auch etwas die Besonderheit, da ja der Rahmen in dem deine Sessions stattfinden für vie-le Frauen dazu gehören und, so meine ich, ganz klar Teil des „Events“ sind? Oder siehst du das eher als Moment von „Em-powerment“ deiner Kund*innen und den Eintritt in eine Form der Konzeptkunst indem du die Durchführung des Pro-zesses abtrittst? G.D.: Von Konzeptkunst hat es durchaus was! Ich denke,  diese neue Methode macht mein Projekt auf jeden Fall nie-derschwelliger und leichter zugänglich, da ich hauptsächlich von Wien aus agiere und es auch viele Interessierte im üb-rigen deutschsprachigen Raum gibt, die ich bisher dement-sprechend vernachlässigt habe. Außerdem wird die Awareness noch viel weiter geteilt – nicht nur medial. Und für Men-schen, denen es im gemeinschaftlichen Setting mit anderen bei mir Zuhause nicht so angenehm wäre, ist das DIY-Set eine gute Alternative. Und nicht zuletzt ist die Idee im ich-weiß-nicht-wie-vielten Lockdown entstanden, aus dem Gefühl des Dahinvegetierens und endlich wieder irgendwas Sinnstiften-des machen zu müssen, bevor man den Verstand verliert.  B.B.: Was würdest Du Dir für die Zukunft dieser/Deiner  Kunst wünschen? Welchen nachhaltigen Effekt soll sie haben? G.D.: Am liebsten wäre mir eine Welt, in der es mein Pro- jekt so nicht bräuchte, weil die Vulva als das gesehen wird, was sie ist - ein ganz normales Körperteil dessen man sich nicht schämen muss, das einem viel Freude bereiten kann, über des-sen Funktionen man sich im Klaren ist, über das man mir nichts dir nichts reden kann, wenn man Bock drauf hat und wo es nichts Spezielles ist, dass jemand solche Kunst macht. B.B.: Vielen Dank für das Gespräch! GLORIA DIMMEL  hat Skandinavistik und Slawistik studiert. Sie arbeitete anschließend  in verschiedenen Positionen im Kultur- sowie Medienbereich und   wandte sich der Kunst zu. Seit 2017 setzt sie sich zusammen mit vielen  Teilnehmenden im Rahmen eines interaktiven Projekts für   die Sichtbarmachung der Vulva, in Form von Gipsrepliken, ein.  Homepage: https://gloriadimmel.com Instagram: g.sus.christ  BIANCA BURGER  ist Redaktionsassistentin der ZUKUNFT und hat sich nach ihrem   geisteswissenschaftlichen Studium der Frauen- und Geschlechterge- schichte sowie der historisch-kulturwissenschaftlichen Europaforschung  in den Bereichen der Sexualaufklärung und Museologie engagiert. 


 10 | ZUKUNFT  Untitled 5 © Gloria Dimmel


 ZUKUNFT | 11  GLORIA DIMMEL Untitled 2 © Gloria Dimmel


 12 | ZUKUNFT  DRAG – ÄSTHETISCH ERFAHREN  VON JAN OBRADOVIC Drag –  ästhetisch erfahren Mit seinem Beitrag wirft  JAN OBRADOVIC  einen Blick auf das Verhältnis von Drag, ästhetischer Bildung und Hetero- normativität. Er rahmt dabei die Kunstform theoretisch, um sie in einen Bezug zu Ästhetik setzen zu können und betrachtet, inwiefern sie eine subversive ästhetische Erfahrung auslösen kann … I.  DRAG IM MAINSTREAM Seit 2009 flimmert nun das Reality-TV Format RuPaul’s  Drag Race über amerikanische Fernsehbildschirme. Erst auf dem kleinen Sender „logo“, später auf „VH1“. Die Serie star-tete in der ersten Staffel, gedreht in einem kellerartigen Stu-dio, als eine Semiparodie auf Wettbewerbe wie America’s Next Top Model und eine Zelebration der bis dato im Mainstream recht unterrepräsentierten Kunstform des Drag. Inzwischen hat die Serie internationalen Erfolg mit zahl- reichen Auszeichnungen, Ablegern in verschiedenen Ländern und auch einem vergleichbaren Format im deutschen Fernse-hen. Drag rückt damit immer mehr in den Fokus der breiten Öffentlichkeit. Jedoch bleibt das Bild, das im Fernsehen von dieser Kunstform gezeichnet wird, streitbar und es ließe sich argumentieren, dass die Vielfalt der Darstellungsformen unter dem Radar der Allgemeinheit bleibt.  Bevor wir uns also dem Verhältnis von Drag und Ästhe- tik widmen, soll hier ein Begriff der Praxis von Drag-Perfor-menden geschärft werden. Anders als auch im Fernsehen dar-gestellt, wird betont, dass Drag zwar im Zusammenhang, aber nicht in der Abhängigkeit zu bestimmten Geschlechtsidentitä-ten und Sexualitäten steht. II.  THEORETISCHE ANNÄHERUNG Als Basis von Drag könnte eine Praxis herausgestellt wer- den, in der in einer Form der Unterhaltung (Shows, Film, Vi-deos, Social Media etc.), eine überspitzte Repräsentation von gender, für ein Publikum dargestellt wird. Dabei wird eine re-ale Identität der Performer*innen durch eine gespielte Drag-Identität ersetzt oder erweitert (vgl. Dougherty 2017: 20). Versucht man Drag zu definieren so kommt man an das  Hindernis der Vielfältigkeit. Drag als eine Störung des Main-streams und gängiger normativer Konstrukte hat sich über die Jahre von Shakespeare über die Bälle der queeren Sze-ne im New York der 1980er-Jahre bis hin zur Dekonstruk-tion von Geschlechts- und Schönheitsidealen vor internati-onalem Publikum stetig gewandelt. Die Drag Performerin Sasha Velour und Gewinnerin der 9. Staffel von RuPaul’s Drag Race beschreibt Drag als zu komplex, um es einzig über Drag-Performer*innen zu verstehen. Drag biete ein breites und di-verses Spektrum an Performance und Drag-Prais, die sich auf verschiedensten Körpern abspiele. Eine Annäherung an eine Darstellung von Drag könne so nur unter Betrachtung einer Vielzahl an Drag Performer*innen geschehen (vgl. Velour in: Damshenas 2019). Honey Mustard (c) Hana Köblitz


 ZUKUNFT | 13  Versucht man sich also einer Begrifflichkeit von Drag an- zunähern, so braucht es eine lose Rahmung. Ohne den An-spruch auf Vollständigkeit kann man sich dieser Kunst-form über drei Praxen annähern, die sich in verschiedenen Betrachtungen, Beobachtungen, Interviews und Studien wiederspiegeln.  III.  TRANSFORMATION, PARODIE & QUEERNESS Drag-Performende vollziehen eine äußerlich wahrnehm- bare Transformation des Körpers. Dazu wird versucht die ei-gene Physis zu verstehen und somit eine Veränderung die-ser zu vollziehen. Für die Verwandlung in eine Drag-Persona eignen sich die Performenden eine andere Identität an. Dabei lässt sich in der Regel eine neu gestaltete Geschlechtsidentität ausmachen, bei der bestimmte Aspekte der eigenen Identität verstärkt oder auch unterdrückt werden können. Der Über-gang, den die Individuen dabei vollziehen, kann fließend sein und ist nicht zwingend im vollen Bewusstsein der Perfor-menden. Von manchen wird der Aspekt dieser Transformati-on transparent gemacht und im Gegensatz zu Transmenschen wird eine ausschließlich temporäre äußerliche Transformati-on vollzogen. Es kann auch, auf spielerische Weise, immer wieder aus der Rolle und in die Rolle gewechselt werden. Dazu wird auch auf die jeweils dargestellten Aspekte des Kör-pers aufmerksam gemacht. Einige Performende machen auch eine innere Transformation durch; eine Fremdmachung und Rekonstruktion der eigenen Person (vgl. Schambron/Hänni 2016, Dougherty 2017: 24–27, Shapiro 2007). Judith Butler schreibt der Kunstform des Drag zudem ei- nen Charakter der Parodie zu, der sich durchaus auch in den Beobachtungen Anderer zeigt. Die gesellschaftliche Zwangs-situation einer heteronormativen Geschlechtervorstellung kann in Drag parodiert werden. Durch die bewusste Über-treibung oder auch widersprüchliche Performance von Ge-schlechtsidentität wird diesen Normen gewissermaßen der Spiegel vorgehalten. Butler sieht in Drag die Parodie eines nicht existierenden Originals und eine Vorführung der vorge-täuschten Realität eines binären Geschlechts (vgl. Butler 2019: 202f.). Zuletzt ist Drag auch in seiner Praxis eine unbestreitbar  queere Kunstform. Drag-Performende nahmen in der Ge-schichte der queeren Community eine tragende Rolle ein. Neben der Ballroom Culture der 1980er-Jahre, in der sich die Wurzeln modernen Drags finden lassen, traten Drag Perfor- mende bereits in den 1960er-Jahren in der politischen Arena an. Das Bild von Drag wurde hier besonders geprägt durch die Proteste im Stonewall Inn, welches Anlaufstelle für Schwule, Transmenschen und Drag Queens war. Hier wehrte man sich 1969 gegen die andauernde Diskriminierung und die Razzi-en der New Yorker Polizei. Drag Queens nahmen bei diesem Protest, der heute jährlich beim Christopher Street Day zeleb-riert wird, eine führende Rolle ein. Dies stärkte auch das An-sehen und mehrte das Auftreten von Drag-Performer*innen in queeren Locations. Prominente Figur dieser Proteste war Marsha P. Johnson, Drag Queen und Transgender-Aktivistin (vgl. Kohler 2012, Dougherty 2017: 23). Hier lässt sich auch eine Umkehrung der Stigmata gegenüber schwulen Männern sehen, die sich ihre zugeschriebene feminine Identität neu an-eignen und als ein Zeichen des Stolzes oder eben der Gay Pride  zeigen. Drag findet vornehmlich in queeren Räumen statt oder ist maßgeblich daran beteiligt queere Schutzräume zu schaffen, die einer heteronormativen Zwangsordnung wi-dersprechen (vgl. Baker/Kelly 2016: 58). IV.  DRAG ALS TRÄGER ÄSTHETISCHER ERFAHRUNG Ist Drag also eine Form der leichten, aber queeren Un- terhaltung oder liegt dieser Kunst auch ein Potenzial für eine bildende ästhetische Erfahrung inne? Zur Beantwortung die-ser Frage wird sich im Folgenden auf ein von Iris Laner ge-fasstes Verständnis von ästhetischer Erfahrung gestützt. Laner beschreibt diese als Erfahrungen, die außerhalb einer norma-lisierten und alltäglichen Matrix erfolgen. Sie finden in einem Spektrum sinnlicher Wahrnehmung statt, welche eine beson-dere Emotionalität in den Betrachtenden auslöse und eine Reflexion zur Folge habe. Ästhetische Erfahrungen erlauben eine Erweiterung eines Erlebensspektrums, dies wiederrum eröffnet die Möglichkeit weitere ästhetische Erfahrungen zu machen. Idealerweise führt dies zu einer Reihe an aufeinan-der aufbauenden Bildungsprozessen. Die Erfahrungen spielen sich nicht allein auf einer sinnlichen und emotionalen Ebe-ne ab, sondern erfordern auch den Einsatz einer kognitiven Komponente, die Reflexion ermöglicht. In dieser Form wä-ren sie also ganzheitlich einnehmend und nicht nur neben-sächlich und beiläufig erfahren worden (vgl. Laner 2018). Drag geschieht in einem Rahmen, der sich als weg vom  „Alltäglichen und Nebensächlichen“ beschreiben ließe. Der transformatorische Akt fordert und fördert durch buntes Ma-ke-Up und Kostümierung zumindest für kurze Zeit ein auf-


 14 | ZUKUNFT  DRAG – ÄSTHETISCH ERFAHREN  VON JAN OBRADOVIC merksames Wahrnehmen. Auch für die Drag-Performenden findet Drag, durch eine Abgrenzung der Rolle vom privaten Ich, in einem nicht alltäglichen Modus statt. Die Aufdeckung der Konstruiertheit einer heteronormativen Weltanschauung, wie zuvor beschrieben, als ein Grundpfeiler des Drags könn-te ein Indikator für die Erfüllung des dekonstruierenden Mo-ments sein. Die besondere Emotionalität und die ganzheitli-che Eingenommenheit in ästhetischer Erfahrung könnte man in der Interaktion mit und an der Reaktion des Publikums sehen. Wenn den Drag-Performenden während der Perfor-mance mit Geschenken und Trinkgeldern Tribut gezollt wird, dann könnte man von einer besonderen emotionalen Berüh-rung ausgehen. J. Brian Brown unterstreicht die Wichtigkeit des Publikums in der Drag-Performance und sieht es als ak-tive Komponente. Er geht von einem engagierten Publikum aus, welches meistens um den Kontext der Performance weiß oder zumindest versucht diesen nachzuvollziehen. Die Drag-Performenden integrieren das Publikum dabei in ihre Perfor-mance und gestalten diese so meist interaktiv. Der Diskurs um das Publikum im Drag sei aber noch recht neu und müsse weiter und in anderen Settings beleuchtet werden, so Brown (vgl. Brown 2001: 38, 50–54). Aber auch für die Performen-den ließe sich in einigen Interviews eine bildende, ästhetische Erfahrung ausmachen. Einige berichten von einer Reflexion durch Drag. Sie fingen an über ihre Geschlechtsidentität und die Auslebung dieser nachzudenken. Die Aufarbeitung einer identitätsstiftenden heteronormativen Identität, die sie in Drag darstellen, verändere z. T. zudem ihren Blick auf dieses The-ma (vgl. Baker/Kelly 2016).  Durchaus ließe sich in Drag folglich eine Praxis ausma- chen, die als eine ästhetische Erfahrung die Reflexion von Identität und heteronormativen Zwang erlaubt – die ein-drücklichen, sinnlichen und anregenden Erfahrungen schafft und zumindest eine Basis für eine veränderte Wahrnehmung schaffen kann. V. KRITIK Abschließend soll jedoch auch eine kritische Betrach- tung der Drag-Praxis angesprochen werden. Nicht immer wird Drag als subversiv betrachtet. Einige Formate und Räu-me in denen Drag heute praktiziert wird, können durch-aus valider Kritik unterzogen werden. Auch innerhalb des Drags gibt es hier keine eindeutigen Perspektiven auf die Sa-che selbst. Aus einer Betrachtung von Richtlinien, die Drag-Performenden auferlegt werden, um an Wettbewerben teilzu- nehmen, ließe sich eine Limitation von Drag aufgrund von biologistisch konstruierten Voraussetzungen herauslesen. Teil-weise werden hier bestimmte Personen wegen ihres biologi-schen Geschlechts nicht zugelassen oder andere anatomische Voraussetzungen wären Diktat für die Teilnahme. Diese Be-dingungen widersprechen einer Idee eines sozial konstruier-ten Geschlechts. Auch Trans-Aktivist*innen sehen in derarti-gen Richtlinien einen Fokus auf ein biologisches Geschlecht und die Bestärkung von einer Idee, dass dieses die Geschlecht-sidentität diktiert (vgl. Dougherty 2017: 9). Auch wird dies in einer aktuellen Debatte um RuPaul, Drag Queen und Host des amerikanischen Reality-TV Formats RuPaul´s Drag Race, bei dem Americas Next Drag Superstar gesucht wird, zum The-ma. RuPaul lässt in der Show ausschließlich Menschen antre-ten, die als Männer wahrgenommen werden und Frauen in ihrem Drag darstellen. Er bezeichne Drag als Protest gegen eine männlich dominierte Welt, ermögliche diesen Protest aber auf der von ihm geschaffenen Plattform eben nur Män-nern. Äußerungen, die in der Drag Community und auch bei ehemaligen Teilnehmenden der Show aber für Entrüstung sorgen (vgl. Grieben 2018). Hier lassen sich somit restriktive Praxen in einer größeren Drag-Instanz ausmachen. Wettbe-werbe reproduzieren hier, beim Versuch ein Teilnehmenden-profil zu schaffen, eine heteronorme Zwangsordnung. Eini-ge sehen in Drag auch eine Verstärkung traditioneller Ideen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Drag stelle dabei dar, wie Frauen oder Männer zu sein hätten. Auch ließe sich der Per-formance von Drag Queens eine sexistische Note zuschrei-ben, die Frauen verspotte und parodiere (vgl. Taylor/Rupp 2004: 115, Nicholson 2017). Diese Perspektive geht jedoch auf ein veraltetes Bild von Drag zurück und wird mittlerwei-le auch durch zahlreiche Frauen in der Drag Community wi-dersprochen. Beispielsweise sehen die Drag Queens Miss Ma-lice und Holestar in der Praxis des Drag entgegen dem Bild von Drag als Parodie der Frau eine Bestärkung aber auch ei-nen Aufbruch von Feminität. Es widerspreche einer patriar-chalen Vorstellung eines „schwachen Geschlechts“. In Drag zeigt sich ihrer Meinung nach, dass sich Körper geschlechtlich verschieden markieren ließen und nicht innerhalb des binären Geschlechtsideals bestehen (vgl. Nicholson 2017). VI. FAZIT Abschließend kann gesagt werden, dass Drag sehr vielfäl- tig und facettenreich ist. Drag bietet zum einen eine Erweite-rung von Sinnlichkeit und Einbildungskraft, zum anderen ist sie eine Plattform zur Ausbildung von Urteilskraft und für Di-


 ZUKUNFT | 15  alog. Drag befindet sich in einem stetigen Wandel und wie äs-thetische Erfahrungen baut es selbst auf dem auf, was es zuvor sichtbar gemacht hat. Entsprechend ist die Kunst von Kritik nicht freizusprechen. Jedoch ist Drag eine wichtige, histori-sche und queere Kunst, die im mindesten unterhaltsam und latent politisch ist. Entsprechend wäre auch eine weitere Aus-einandersetzung mit Drag relevant, da diese Kunst zuneh-mend im Mainstream Einzug hält. Hierbei besteht die Gefahr einer kulturindustriellen Vermarktung und könnte folglich aus einer einst subversiven Form von Kunst und Protest ei-nen Mittäter im Diktat von Patriarchat und Heteronormativi-tät machen. Die Hoffnung besteht in der Wandelbarkeit von Drag und dem Willen der Performenden stetig die auferlegten Normen selbst zu brechen. JAN OBRADOVIC  ist Studierender des Masters Bildungswissenschaft an der Univer- sität Wien. In seinem Studium setzte er sich bereits mit Thematiken der  Queer Theory und Ästhetik auseinander. Neben seinem Studium betätigt  er sich als Drag-Entertainer. Kontakt: a12034400@unet.univie.ac.at LiteraturBaker, Ashley A./Kelly, Kimberley (2016): Live like a king, y’all: Gender  negotiation and the performance of masculinity among Southern drag kings, in: Sexualities: Studies in Culture and Society, Volume 19, Issue 1-2, 46–63. Brown, J. Brain (2001): Doing drag. A visual case study of gender perfor- mance and gay masculinities, in: Visual Sociology, Volume 16, 2001 – Issue 1, 37–54. Butler, Judith (2019): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am  Main: Suhrkamp. Damshenas, Sam (2019): Sasha Velour on deconstructing gender and what  it would mean for drag, in: Gay Times, online unter: https://www.gaytimes.co.uk/culture/sasha-velour-on-deconstructing-gender-and-what-it-would-mean-for-drag/ (letzter Zugriff: 25.04.2021). Dougherty, Cristy (2017): Drag Performance and Femininity: Redefining  Drag Culture through Identity Performance of Transgender Women Drag Queens, Dissertation Master of Arts, Minnesota State Univer-sity. Egner, Justine/Maloney, Patricia (2016): “It Has No Color, It Has No Gen- der, It’s Gender Bending”: Gender and Sexuality Fluidity and Subver-siveness in Drag Performance, in: Journal of Homosexuality, Volume 63, 2016 – Issue 7, 875–903. Laner, Iris (2018): Ästhetische Bildung zur Einführung, 1. Aufl., Hamburg:  Junius. Necati, Yas (2018): King, queen or in between: Changing the face of drag,  in: Independent, online unter: https://www.independent.co.uk/voices/drag-kings-man-lgbt-non-binary-expression-queens-ru-paul-a8246446.html (letzter Zugriff: 25.04.2021). Nicholson, Rebecca (2017): Workin’ it! How female drag queens are  causing a scene, in: The Guardian, https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2017/jul/10/workin-it-how-female-drag-queens-are-causing-a-scene (letzter Zugriff: 25.04.2021). O’Brien, Jennifer (2018): The Psychology of Drag. Understanding the  science behind the art of pushing gender boundaries, in: Psycholo-gy Today, online unter: https://www.psychologytoday.com/us/blog/all-things-lgbtq/201801/the-psychology-drag (letzter Zugriff: 25.04.2021). Schambron, Livia/Hänni, Anna (2016): Zwischen Subversion und Stereo- typ – Eine sozialanthropologische Forschung zu Drag, Bern: Univer-sität Bern. Shapiro, Eve (2007): Drag Kinging and the Transformation of Gender  Identities, in: GENDER & SOCIETY, Volume 21, No. 2, April 2007, 250–271. Taylor, Verta/Rupp, Leila J. (2004): Chicks with Dicks, Men in Dresses,  in: Journal of Homosexuality, 6:3-4, 113–133.


 16 | ZUKUNFT  EIVOR – MANN, FRAU, DIVERS  VON MICHAEL BURGER  I. EINLEITUNG Alles hätte so schön sein können. Nicht nur der am meis- ten vorbestellte Exklusivtitel für die Playstation 4 überhaupt, sondern zahlreiche herausragende Kritiken und Besprechun-gen ließen The Last Of Us Part II bereits vor dem Release zu einem Publikums- und Kritiker*innenliebling avancieren. Doch kurz nach der Veröffentlichung fällt der Titel durch sogenanntes „review bombing“ auf Metacritic, einer Websi-te, die unterschiedliche Reviews sammelt und übersicht-lich präsentiert, auf unter vier von möglichen zehn Punk-ten beim Publikumszuspruch (zeitgleich konstatierte die Seite eine Kritiker*innenwertung jenseits von 90%). Anstoßpunkt für die zahlreichen negativen Bewertungen der Spieler*innen waren schlecht geschriebene Dialoge, die unglaubwürdige Story und die Charakterentwicklung, die als mies, unausgego-ren und unrealistisch abgestempelt wurde. Es entbrannte eine heftige Kontroverse um die Sichtbarkeit von LGBTIQ-Cha-rakteren in Videospielen, denn Hauptfigur Ellie führt eine gleichgeschlechtliche Beziehung. Diskutiert wurde unter an-derem, ob es für die Geschichte überhaupt von entscheiden-der Bedeutung sei, einen homosexuellen Charakter zu haben. Um Gameplay, Setting oder Atmosphäre ging es schon lange nicht mehr. Möglicherweise fühlten sich viele Fans des ers-ten Teils vor den Kopf gestoßen und in ihrer Erwartungshal-tung enttäuscht. Nach wie vor scheint es vor allem der Horror zu sein, der stark auf heteronormativen Vorstellungen beruht. Vor allem in psychoanalytischer Perspektive steht der destruk-tive Charakter des Thanatos, der Angst vor Zerstörung und, überspitzt formuliert, dem Ende der Menschheit die Potenti-alität des Eros, der Schaffung neuen Lebens gegenüber. Ver- sinnbildlicht wird dieser Umstand durch das fruchtbare hete-rosexuelle Paar, das am Ende der Welt für den Fortbestand der Menschheit sorgt. All dieser Diskussion zum Trotz bleibt sich der Zombie- Survival-Horror The Last Of Us Part II treu: Es ist ein Spiel, das von existenziellen Erfahrungen erzählt – und dabei die Liebe nicht ausklammert, sondern sie elementar in seine Ge-schichte einbezieht. Vielmehr entkoppelt der Titel zwischen-menschliche Beziehungen von heteronormativen Vorstellun-gen, um sie überhaupt als existenziell begreifen zu können.  Innerhalb der LGBTIQ-Community wurde The Last Of Us  Part II sehr positiv aufgenommen, denn nach wie vor fristen LGBTIQ-Charaktere vor allem in den großen Major-Titeln, die mit viel finanziellen und personellen Ressourcen produ-ziert und ein entsprechend großes Publikum erreichen, ein Schattendasein.  Relativ unbeeindruckt von dieser Diskussion erschien im  November 2020 ein weiterer Major-Titel, der in Fragen der geschlechtlichen Identität durchaus innovativ(er) agiert und der Sichtbarkeit von LGBTIQ-Charakteren in Videospielen weitere Facetten hinzufügt: das Action-Rollenspiel Assassin’s Creed: Valhalla. Im Gegensatz zu den The Last Of Us Part II wurde an der Narration sowohl von den Fans als auch von der Kritik wenig beanstandet. Große Kritikpunkte waren das re-petitive Missionsdesign, das teils unpräzise Gameplay und die gravierenden Bugs, wegen denen manche Aufgaben gar nicht abgeschlossen werden konnten. Selten bis gar nicht wurde  Eivor –  Mann, Frau, Divers Der Filmwissenschaftler und Philosoph  MICHAEL BURGER  widmet sich in seinem Essay der Verhandlung von Geschich- te und Geschlechtlichkeit im Videospiel, genauer gesagt der Dekonstruktion von Geschlecht im 12. Teil der  Assassin’s Creed  Spielreihe:  Valhalla. Hier wird es der/dem Spieler*in ermöglicht nicht nur zwischen den Geschlechtern zu wählen, sondern  auch innerhalb des Spieles zu wechseln. Sowohl die geschlechtlichen Attribute, als auch die Story sind von der Geschlecht-lichkeit mehr oder weniger entkoppelt.  Valhalla begreift Geschichte letztlich als performativen Akt der Geschlechterverwirrung  und stellt ebenso die männlich überformte Geschichtsschreibung wie die binären Geschlechterverhältnisse zur Disposition.


 ZUKUNFT | 17  aber diskutiert, wie Valhalla Fragen der geschlechtlichen Iden-tität verhandelt. Gerade mit Blick auf die Historie der Vi-deospielreihe  Assassin’s Creed ist dies nicht selbstverständlich, stellt die Reihe doch vorwiegend einen männlichen Heroen ins Zentrum der Spielerfahrung.  II.  MÄNNLICHE HELDEN UND WEIBLICHE   STATISTINNEN IN  ASSASSIN’S CREED 2007 startete mit Assassin’s Creed eine der erfolgreichsten  Reihen der jüngeren Videospielgeschichte, die mittlerwei-le elf weitere Hauptspiele sowie zahlreiche kleinere Ableger umfasst. In den ersten Teilen spielen durchwegs Männer die Hauptrolle und fungieren als Handlungsträger, Frauen werden zumeist in die Rolle von Statistinnen zurückgedrängt; 2014, sieben Jahre nach Start der Reihe, bekommt der Held in Uni-ty  eine starke weibliche Figur, Èlise, an seine Seite gestellt. Planungen, diese Figur sogar zu einem spielbaren Charakter zu machen, werden vom Entwicklerstudio Ubisoft jedoch ver-worfen, und die Überlegungen, auch einen weiblichen Cha-rakter spielen zu können, werden erst im nachfolgenden Ti-tel Syndicate 2015 wiederaufgenommen. Dort steuert der/die Spieler*in das Zwillingspaar Jacob und Evie Frye, jedoch wird Evie wesentlich weniger Spielzeit als ihrem männlichen Pen-dant zugestanden.  Schließlich wird erst 2018 mit Odyssey dem/der Spieler*in  selbst die Wahl überlassen, ob er/sie mit Frau oder Mann bzw. Kassandra oder Alexios das Abenteuer bestreiten möchte. Dennoch trügt auch hier der erste Eindruck: Zwar wurde die Story zunächst aus Sicht von Kassandra konzipiert, da man sei-tens des Entwicklerstudios jedoch befürchtete, dass eine rein weibliche Perspektive die Fans vergraulen könnte, fügte man relativ spät im Entwicklungsprozess noch die männliche Figur des Alexios hinzu. Spielcover und die diversen Trailer zeig-ten in weiterer Folge einen Charakter, dessen Kopf mit Helm verdeckt war, um somit einen scheinbar neutralen Platzhalter für einen der beiden Charaktere zu haben. Physiognomie, al-len voran die muskelbepackten Oberarme sowie Oberschen-kel lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass es sich hier um Alexios handelt im Vergleich zur eher zierlichen, dafür etwas agileren, Kassandra. Dass etwa zwei Drittel aller Spieler*innen sich schließlich für Alexios als Protagonisten des Abenteuers entschieden, kann durchaus als Indiz gelesen werden, wie he-teronormativ besetzt die Reihe ist. Vor dem Hintergrund dieses kurzen geschichtlichen Ab- riss ist es umso bemerkenswerter, dass der 12. Teil der Reihe, Assassin’s Creed Valhalla, nicht nur tradierte Formen der Ge-schichtsschreibung in Frage stellt, sondern auch heteronorma-tive Geschlechtsvorstellungen dekonstruiert.  III.  GESCHICHTE WIRD (NICHT) VON MÄNNERN GESCHRIEBEN Die Beliebtheit der Reihe Assassin’s Creed speist sich größ- tenteils aus dem spezifisch historischen Setting, in das die einzelnen Teile die Spieler*innen entführen: so kann man beispielsweise an den Kreuzzügen im „Heiligen Land“ teil-nehmen, wesentlicher Protagonist der Französischen Revo-lution sein oder gar die Vereinigten Staaten bei ihrem Weg in die Unabhängigkeit begleiten. Der/die Spieler*in darf stets an den großen historischen Umbrüchen partizipieren und deren Protagonist*innen treffen, wenngleich der Umgang der Rei-he mit historischen Fakten oft relativ frei ist. Dennoch, und daran lässt Assassin’s Creed selten Zweifel aufkommen, sind es stets Männer, die die Geschicke der Weltgeschichte len-ken und aus deren Perspektive Historie geschrieben wird. Das Subjekt von Historizität ist männlich, das die Deutungsho-heit über dessen Objekt hat. Gerade diesem Umstand ist es zu verdanken, dass es akademische Studienrichtungen wie Frau-en- und Geschlechtergeschichte gibt bzw. spezifische Frauen-archiv gegründet wurden und werden, um das männlich be-setzte Monopol der Historizität aufzubrechen.  Valhalla setzt dieser Ansicht nun eine neue Perspektive ent- gegen. Die Narration des Spiels wird anhand zweier Zeit-achsen austariert: zum einen erlebt der/die Spieler*in die Geschichte von Eivor, Mitglied der Wikingergruppierung Rabenclan, im 9. Jahrhundert unserer Zeitrechnung in Eng-land, zum anderen ist man Teil einer Forschungsgruppe des 21. Jahrhunderts, die das Skelett von Eivor gefunden hat und mit modernsten technologischen Möglichkeiten mehr darü-ber erfahren möchte. Anstatt nun die heteronormative Ge-schichtsschreibung zu perpetuieren und davon auszugehen, beim gefundenen Skelett samt Insignien des Kampfes und der Macht, wie eine Rüstung und Münzen, handle es sich um einen männlichen Krieger, wird darauf verwiesen, dass kei-ne eindeutige geschlechtliche Zuschreibung möglich ist, ja vielmehr noch: es finden sich ebenso viele Indizien für einen Mann wie für eine Frau. Indem das Skelett in weiterer Fol-ge zum Sprechen gebracht wird, ergibt sich hier eine Um-


 18 | ZUKUNFT  EIVOR – MANN, FRAU, DIVERS  VON MICHAEL BURGER  kehr: Subjekt und Objekt von Historizität überlappen sich – die sprechenden Überreste sind Gegenstand der eigenen Geschichte, die sie erzählen. Und dieser Ort, von dem aus ge-sprochen wird, ist nun nicht mehr maskulin überformt, son-dern befindet sich außerhalb von geschlechtlichen Zuschrei-bungen.  Valhalla  formuliert somit eine implizite Kritik an tradierten Formen der Geschichtsschreibung, die diese als aus-schließlich männlich und auf den Mann konzentriert begrei-fen. Valhalla abstrahiert letztlich die Geschichtsschreibung von jeder geschlechtlichen Prägung: Geschichte, so die am Spiel-beginn formulierte These, wird immer zu gleichen Teilen von Männern und Frauen getragen und geschrieben – Geschichts-schreibung müsse geschlechtsneutral formuliert sein. Die Un-eindeutigkeit der geschlechtlichen Zuschreibung Eivors, so-wie eine männliche und weibliche Perspektive, übernimmt das Spiel als Strukturprinzip.  IV.  DIE GESELLSCHAFT DER WIKINGER*INNEN UND TRADIERTE GESCHLECHTERROLLEN Historisch ist das Abenteuer von Valhalla, wie bereits er- wähnt, im 9. Jahrhundert unserer Zeitrechnung in England situiert, wo es zunehmend zu Auseinandersetzungen um die Vormachtstellung zwischen christlichen Siedler*innen und heidnischen Einwohner*innen bzw. Neuankömmlingen kam. Dabei agiert Valhalla nicht im luftleeren Raum, sondern fügt sich in den medialen Geschlechterdiskurs, der seit einiger Zeit rund um Wikinger*innen entstanden ist, ein. So reagiert das Spiel ebenso auf die starken und toughen Frauenfiguren der Serie  Vikings wie auf den fürsorglichen, alleinerziehenden Kratos aus dem Videospiel God Of War.  Dennoch beginnt das Wikingerabenteuer mit durchaus  altbekannten Stereotypen, die im weiteren Spielverlauf ei-ner Revision unterzogen werden: Feierlaunige Männer be-singen im Langhaus ihren letzten Sieg, während auf einmal der Nachbarclan angreift. Die Krieger greifen zu den Äxten und Schwertern, um das Dorf vor den Angreifern zu beschüt-zen. Erst durch die Reise von Norwegen nach England, wo das eigentliche Abenteuer spielt, geraten auch die Geschlech-terverhältnisse in Bewegung und tradierte Vorstellung von Wikinger*innen werden gekonnt in Zweifel gezogen. So ist eine der ersten Ansprechpersonen und Verbündeten die weib-liche Kriegerin Soma, eine sogenannte Jarlskona, die ein ge-samtes Heer unter ihrer Axt vereint. Schnell wird klar, dass die Gesellschaft der Wikinger*innen auf gleichgestellten Ge-schlechtern beruht: Die weiblichen Kriegerinnen werden als  ihren männlichen Pendants ebenbürtig betrachtet und stehen ebenso an der Spitze von großen Heeren. Männer hingegen müssen keine im Kampf erprobten Heroen, die vor keiner Gefahr zurückschrecken, sein, um einen Platz in der Gesell-schaft zu haben. Ebenso gibt es offene Beziehungsformen so-wie ein offenes Bekenntnis zur Promiskuität. Dass die historisch tradierten Geschlechterrollen ebenso  kritisch hinterfragt werden, zeigt sich vor allem an zwei we-sentlichen Protagonist*innen der Geschichte: Paladina Ful-ke und König Alfred. Fulke ist die primäre Antagonistin der Geschichte, die vor allem durch ihre Intriganz, ihr aggressi-ves Gemüt und ihre Gewalttätigkeit bleibenden Eindruck hin-terlässt und als Warnung Sigurds rechten Unterarm abschlägt. Auf der anderen Seite steht König Alfred, dem später der Bei-namen der Große verliehen wurde und die konkurrierenden Kleinreiche vereinen konnte. Dieser wird am Ende des Aben-teuers beim Brotbacken gezeigt, was ihm nur schwerlich ge-lingt. Die Frau als gewalttätige Kämpferin und der am Herd stehende Mann – klassische Vorstellungen, die hier gegen den Strich gelesen werden und zeitgleich die heroische Überhö-hung historisch verbürgter Figuren kritisch hinterfragt sowie die Rolle von Frauen darin neu bewertet.   V.  EIVOR: MANN, FRAU, DIVERS Valhalla  fügt der für Action-Rollenspiele üblichen Wahl  zwischen einem männlichen Helden und einer weiblichen Heldin eine dritte Option hinzu: männlich und weiblich. Das Spiel entscheidet aus sich selbst heraus, ob einzelne Spielab-schnitte mit dem männlichen oder weiblichen Eivor angetre-ten werden. Darüber hinaus erlaubt es das Spiel auch, mitten im Geschehen das Geschlecht zu wechseln. Geschlechtsiden-tität wird somit zu einer fluiden Kategorie und Eivor zu ei- ASSASSIN’S CREED VALHALLA (c) Ubisoft Preis: € 44,36 Erscheinungstermin: November 2020


 ZUKUNFT | 19  nem  LGBTIQ-Charakter, der binäre Geschlechtsvorstellungen gezielt unterwandern kann.  Valhalla hebt sich in wesentlichen durch zwei Aspekte von  anderen Genrevertretern ab: zum einen gibt es in anderen Ac-tion-Rollenspielen keine Möglichkeit, die einmal getroffene Entscheidung, mit wem man das Abenteuer bestreitet, zu re-vidieren; und zum anderen werden durch ebenjene Wahl be-stimmte, zu erlernende Fähigkeiten, einzelne Ausrüstungs-gegenstände oder Teile der Story per se ausgeschlossen. Das Abenteuer in Valhalla bleibt jedoch stets dasselbe, die Wahl des männlichen oder weiblichen bzw. des geschlechterwechseln-den Eivors hat hierauf keinen Einfluss. Der in Hinblick auf die Sichtbarkeit von LGBTIQ-Charakteren in Videospielen gro-ße Verdienst liegt sicherlich darin, dass sich beide Geschlech-ter nahezu identisch spielen, da sich Statur und Bewegun-gen stark ähneln und männlicher wie weiblicher Eivor keine Übersexualisierung, beispielswiese durch muskelbepackten Oberkörper bzw. überdimensionierte Brüste, erfahren. Auch bei den Waffen und Rüstungen gibt es keinerlei Beschrän-kungen und die Möglichkeiten der Charaktergestaltung – Fri-sur, Haarfarbe, Tattoos – sind ebenfalls identisch. Einzig der für männliche Wikinger so typische Bart bleibt dem männli-chen Heroen vorbehalten. Lediglich hinsichtlich des Namens „Eivor“ ist es so, dass es sich hierbei eigentlich um einen rein weiblichen Vornamen in Skandinavien handelt, ein Umstand, der wahrscheinlich nur den wenigstens Spieler*innen bekannt sein dürfte und die Besonderheit des Spiels hinsichtlich der Geschlechtskonstruktion nicht schmälert, im Gegenteil. Ist es nicht gerade auch die Namenswahl, die zeigen kann, dass auch dieser nichts über das Geschlecht aussagen muss?  Die geschichtlich tradierte und kulturell gefestigte Konno- tation von Attributen als männlich oder weiblich wird laufend konterkariert. Indem Frisuren, Accessoires oder Tattoos kei-nem Geschlecht vorbehalten sind, dekonstruiert Valhalla diese scheinbar „natürlich“ gegebenen Festschreibungen und offen-bart sie als arbiträr. So kann der männliche Eivor mit Blumen im Haar durch die Landschaft Englands reiten, während die weibliche Eivor mit Glatze in den Kampfring steigen kann. Was als männlich oder weiblich angesehen wird, ist das Er-gebnis von jahrhundertelangen Ausverhandlungen. Auch in der Charaktergestaltung werden bewusst binäre Geschlechter-verhältnisse hinterfragt und in Zweifel gezogen. Der Perpetu-ierung von zeichenbehafteten Geschlechterverhältnissen, die deren scheinbare Natürlichkeit konstituiert, wird somit ein spielerisches Verschieben ebenjener Zeichen entgegengesetzt.  Zudem ist es im Spiel möglich, romantische und sexu- elle Beziehungen zu einzelnen Figuren einzugehen. Manch-mal wird dies durch die Charaktere selbst initiiert, manch-mal kann der/die Spieler*in durch entsprechende Optionen die treibende Kraft dahinter sein. An dieser Stelle geht Val-halla den eingeschlagenen Weg konsequent weiter: unabhän-gig davon, für welches Geschlecht man sich entscheidet, sind verschiedene Formen der zwischenmenschlichen Beziehun-gen möglich. Begehren äußert sich in diesem Zusammenhang nicht als Lust am anderen Geschlecht, sondern Eivor fühlt sich vielmehr von der Person selbst angezogen, von Tapferkeit oder Mut bzw. ist es auch Zeichen der Dankbarkeit für erfolg-reich absolvierte Aufgaben und Prüfungen. Man könnte, so-fern man die sexuelle Orientierung Eivors begrifflich fassen möchte, von Pansexualität sprechen.  Allerdings scheint in dieser Uneindeutigkeit der ge- schlechtlichen Zuschreibung ein Problem zu liegen: indem Valhalla  die Geschlechtlichkeit Eivors komplett abstrahiert, ist sexuelle Identität dann überhaupt noch ein Kriterium zur Bewertung des Spiels? Aus der Perspektive der Spielerfah-rung muss dies verneint werden. Da sich der männliche und die weibliche Eivor kaum anders spielen, sich das Abenteuer identisch präsentiert und die Möglichkeiten zur Charakterge-staltung eigentlich bloße Zierde sind, dient Geschlechtlichkeit nicht als Parameter zur Bewertung. Lässt man diese Perspek-tive außer Acht und abstrahiert von der konkreten Spieler-fahrung, so präsentiert sich Valhalla als Major-Titel, der nicht nur an der Sichtbarkeit von LGBTIQ-Charakteren partizipiert, sondern auch der Komplexität sexueller Identität Rechnung trägt.  Die Story sowie alle Dialoge bleiben unabhängig von der  Wahl dieselben. Und hier zeigt sich mit zunehmendem Spiel-verlauf, dass der Blick auf die Welt nie gänzlich geschlechts-neutral ist bzw. vielleicht sogar sein kann. Einer der zentra-len Konflikte des Spiels besteht mit Eivors Bruder Sigurd. Schlüpft man in die Rolle des männlichen Eivors, so präsen-tiert sich dieser Erzählstrang unter den Gesichtspunkten von Kampf, Aggression und Ehre, sprich mit durchaus männ-lich konnotierten Zuschreibungen; wechselt man jedoch in die weibliche Sichtweise, so wird daraus eine Geschichte von Nächstenliebe, Zuneigung und Fürsorge, Attribute, die klassi-scherweise weiblich konnotiert sind. Durch den permanenten Wechsel der Erzählperspektive macht Valhalla deutlich, inwie-fern dieselben Worte unterschiedliche Zuschreibungen evo-zieren, je nachdem welches Geschlecht sie äußert. Das Spiel 


 20 | ZUKUNFT  macht darauf aufmerksam, dass im Verstehen der Welt implizit schon spezifische Auffassungen von Geschlechtlichkeit impli-zit mitwirken und unser Bild der Welt präfigurieren. VI.  GESCHICHTE UND GEGENWART  Valhalla  begreift Geschichte letztlich als performativen  Akt der Geschlechterverwirrung und stellt ebenso die männ-lich überformte Geschichtsschreibung wie binäre Geschlech-terverhältnisse zur Disposition. Vor allem wird den tradier-ten Bildern von Wikinger*innen als trunksüchtige Raubeine und daheimgebliebenen Frauen ein buntes Kaleidoskop un-terschiedlicher Charaktere und sexueller Identitäten entge-gengesetzt. Nicht nur hinsichtlich dieser Aspekte handelt es sich um ein hochaktuelles Spiel, sondern auch mit Blick auf die Gesellschaftsform: so stehen sich in Valhalla die offene Ge-sellschaft der Wikinger*innen und die auf dem christlichen Glauben fußende Gemeinschaft, deren Züge zu Heteronor-mativität sowie der bürgerlichen Kleinfamilie schon im An-satz erkenntlich sind, gegenüber. Dass sich letztere auf lange Sicht in Europa durchsetzen wird, ist mittlerweile historisches Faktum. Gleichsam präsentiert sich aber die Gesellschaft der Wikinger*innen als durchaus postmodern – jedes Individu-um kann produktiv in die arbeitsteiligen Prozesse integriert werden, was Valhalla zu einem hochaktuellen Spiel macht. Ein Spiel, das in die Vergangenheit blickt und viel über die Ge-genwart aussagt. MICHAEL BURGER  hat Theater-, Film-, und Medienwissenschaften sowie Philosophie in  Wien studiert. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen in Fachzeitschriften  vorgelegt und ist derzeit Mitarbeiter in der  Wienbibliothek im Rathaus. EIVOR – MANN, FRAU, DIVERS  VON MICHAEL BURGER 


 ZUKUNFT | 21  GLORIA DIMMEL Untitled 1 © Achse Verlag


 22 | ZUKUNFT  Untitled 3 © Gloria Dimmel


 ZUKUNFT | 23  GLORIA DIMMEL Pussy Pairs 04© Achse Verlag


 24 | ZUKUNFT  POPSOZIALISATION  VON UWE SCHÜTTE I. In Deutschland interessierte sich kaum jemand für sie. Erst  mit dem Aufkleber „Tophit in England“ verkauften sich die Platten der Deutsch-Amerikanischen Freundschaft auch zu-hause. So zumindest erzählt es Sänger Gabriel „Gabi“ Delga-do in Future Sounds. Wie ein paar Krautrocker die Popwelt revoluti-onierten. Einen derartigen Aufkleber freilich könnte man dem Phänomen „Krautrock“ insgesamt anheften. Denn: Im eige-nen Land gilt der Prophet zumeist wenig bis nichts. Ab den späten 1960er-Jahren wurde ausgerechnet in Deutschland die Pop-Musik revolutioniert, mehr als ein Jahrzehnt lang. Die experimentellen Sounds solcher Bands wie Can, Neu!, Tan-gerine Dream oder Kraftwerk repräsentierten ein radikal neu-es Rockidiom oder brachten die Pop-Musik auf eine gänzlich andere, weil elektrifizierte Bahn. Insofern war die Musik der Krautrocker ein veritabler Soundtrack zum politischen Auf-bruch dieser Zeit. Die hausgemachte Musik beachtete man in Deutschland zwar durchaus – Wertschätzung und Anerken-nung aber fand sie nie wirklich. Anders in Großbritannien: Nachdem man sich anfangs da- rüber amüsierte, dass Deutsche Pop-Musik machten, schlug die arrogante Ablehnung schnell in obsessive Bewunderung um. Man verehrte die radikalen Sounds der innovativen Mu-sik, die mal eine hypnotische Motorik entfaltete, mal entgren-zend in kosmische Gefilde entführte. Viele der in Dallachs Fu-ture Sounds erzählenden Krautrock-Musiker staunten darüber, mit welcher Reverenz man ihnen begegnete, als sie damals erstmals nach England kamen. Als ich Ende der 1990er-Jahre nach London zog, sprach man mich beständig auf Krautrock an und wollte kaum fassen, dass ich die Platten von Can oder Neu! nicht kannte. Kein Wunder: Ich fühlte mich in Kohl-Deutschland unbehaust und war in einem bayerischen Dorf  unter SS-Leuten aufgewachsen; deswegen hörte ich strikt nur englischsprachige Musik und war zudem 1992 zum Studieren ins Mutterland des Pops ausgewandert. Während meiner drei Jahrzehnte in England konnte ich beobachten, wie die anglo-phone Faszination der music nerds für den Krautrock zu einem Phänomen des britischen Medienmainstreams und schließlich gar zu einem neuen Forschungsfeld der German Studies wurde. II. Wie Dallachs Interviewcollage erläutert, begann alles 1995  mit einem Buch von Julian Cope: Krautrock Sampler war ein derartig enthusiastischer Guide to the Great Kosmische Music, dass die Alben der darin angepriesenen Bands allenthalben in den britischen Plattenläden ausverkauften. Richtig los ging es aber erst vor rund 10 Jahren: 2009 lief in der BBC die TV-Do-kumentation Krautrock: The Rebirth of Germany, 2012 legte BBC 6 nach mit der Radioserie The Man Machine: Kraftwerk, Kraut-rock and the German Electronic Revolution. Als ich dann im Januar 2015 die erste akademische Konferenz zu Kraftwerk an meiner Universität in Birmingham organsierte, zeigte man sich in Ta-gespresse wie Musikblogs so verblüfft wie begeistert darüber, dass Kraftwerk, und damit der Krautrock, offiziell in akade-mischen Gefilden angekommen waren. Die BBC entsandte gar ein Kamerateam zur Konferenz, um im Frühstücksfernsehen zu zeigen, wie Kulturwissenschaftler aus aller Welt über die Düsseldorfer Mensch-Maschinen-Musiker sprachen. Und dann ging es Schlag auf Schlag unter den Popfans  mit Doktortitel. Der akademische Krautrock-Boom wur-de 2016 eingeleitet durch zwei hervorragende Studien, näm-lich Ulrich Adelts Krautrock: German Music in the Seventies und Krautrock transnational. Die Neuerfindung der Popmusik in der BRD  Popsozialisation In seinem Essay  Popsozialisation rezensiert  UWE SCHÜTTE  nicht einfach nur zwei Neuerscheinungen über Popmusik,  vielmehr bettet er seine kenntnisreichen Reflexionen in übergreifende, nicht zuletzt auch autobiografische Kontexte ein. – Erkundungen über die Erfindung von Pop, Nerds und den aktuellen Siegeszug von Sängerinnen …


 ZUKUNFT | 25  von Alexander Simmeth. Das bereits 2014 erschienene Future Days: Krautrock and the Building of Modern Germany aus der Fe-der des Musikjournalisten David Stubbs wurde 2018 von sei-nem Kollegen Rob Young ergänzt, der mit All Gates Open. The Story of CAN  eine voluminöse Biografie dieser Schlüs-selband des Krautrock vorlegte. Erweitert wurde diese Buch-schwemme durch meinen Konferenz-Sammelband Mensch-Maschinen-Musik. Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk (2018) sowie meine letztjährige englische Einführung Kraftwerk: Future Music from Germany.  Dallachs popmusikalische Oral History, die vor fünf Jah- ren erstmals angekündigt war, trifft insofern auf ein bereits gut bestelltes Feld, kommt nach der langen Verzögerung aber zu-gleich etwas zu spät. Was etwa sein Kronzeuge Irmin Schmidt zu berichten hat, steht alles schon in Youngs massivem CAN-Buch; auch Karl Bartos, der neben Michael Rother wichtigs-ten Quelle Dallachs für die nur spärlichen Kraftwerk-Informa-tionen, hat mittlerweile seine Biografie veröffentlicht. Traurig ist aber vor allem, wie viele der Befragten – darunter Hol-ger Czukay oder Jaki Liebezeit – zwischenzeitlich verstorben sind. Fabriziert ist Future Sounds nach dem Modell der eben-so bei Suhrkamp erschienen Oral Histories von Jürgen Tei-pel (Verschwende Deine Jugend, 2001) über den deutschen Punk bzw. von Rudi Esch (Electri_City, 2014) über die elektroni-sche Musik aus Düsseldorf. Den großen Erfolg beider Bände verdient auch Dallachs Kompilation: Krautrock is coming home – in deutscher Sprache ist Future Sounds sicherlich die beste In-formationsquelle über den Versuch der 68’er-Generation, sich selbst und ihr Land mit den Mitteln einer experimentellen, für fremde kulturelle Einflüsse offenen und an einer besseren Zukunft orientierten Musik zu „entnazifizieren“.  III. Dass mit einer polyphonen Interviewcollage aus Zeitzeu- gen die ganze Wahrheit über den Krautrock erzählt werden kann, wird aber hoffentlich niemand glauben. Die Erinne-rungsschnipsel der Beteiligten bilden selbst dann, wenn Dal-lach widersprüchliche Einschätzungen geschickt durch har-te Schnitte gegenüberstellt, letztlich nur eine andere Form der unkritischen „Eigengeschichtsschreibung“, wie wir sie aus den Memoiren gealterter Pop-Musiker zur Genüge ken-nen. Für ein tiefgreifenderes Nachdenken über den Kraut-rock liefert der Band allerdings genügend Ausgangsmaterial. So sollte man aus der Perspektive der Post-Colonial Studies ein-mal genauer perspektivieren, inwieweit der Krautrock eine  Abwehrreaktion gegen die Deutungshoheit anglo-amerikani-scher Künstler war, was Pop-Musik ist und wie sie zu klingen hat. Durch eine „neue deutsche Volksmusik“, so der Produkt-manager des führenden Krautrock-Labels Ohr, sollte versucht werden, eine emanzipative, anti-nationalistische Kunstform zu schaffen, die angesichts des anglo-amerikanischen Kultur-Im-perialismus eine Option bot, aus minoritärer Perspektive eine neue, unbefleckte nationale Identität zu schaffen.  Diese  Germanness  wiederum unterlag zumal in England  zahlreichen Missverständnissen, wie die vielen Aussagen der britischen Auskunftsgeber Dallachs von Daniel Miller über Paul Weller bis Brian Eno zeigen. Zugleich erwies sich zu-mal der elektronische Zweig des Krautrock als transnational anschlussfähig für andere künstlerische Minoritätskonzepte (wie den Afro-Futurismus). Das Futuristische ist ohnehin das wichtigste am Krautrock: Sich festzuhalten an der utopischen Idee, dass die Zukunft, entgegen allem Anschein, doch noch besser ausfallen könnte als unsere ungenügende Gegenwart. Und daher unsere Ohren offenzuhalten für aufregende Future Sounds, die das Versprechen einer anderen, besseren Ordnung der Dinge hörbar machen. Krautrock ist deswegen unverän-dert zeitlose Zukunftsmusik aus Deutschland.  IV. Wer aufmerksam Zeitung las, wusste es eh. Doch spä- testens seit Jens Balzer 2016 mit Pop. Ein Panorama der Gegen-wart  als Buchautor debütierte, kann kaum ein Zweifel dar-an bestehen, dass er der vielleicht wichtigste Popmusikkritiker Deutschlands ist. In seiner kompetenten Rundumschau in Sa-chen Pop zeigte Balzer nicht nur erstaunliche Verbindungen zwischen völlig entgegengesetzten Künstlern (wie beispiels-weise Rammstein und Helene Fischer) auf, er entwickelt da-rin ebenso eine veritable Theorie der Pop-Musik-Historie im 21. Jahrhundert. Diese führte vom Niedergang des männli-chen Gitarrenrocks (Strokes, Libertines) zur zunehmenden Dominanz von Musikerinnen (sei es Amy Winehouse und Adele oder Holly Herndon und FKA Twigs). Anhand der Lär-martisten Sunn O))), der vollbärtigen Neo-Folker oder der postheroischen Protestmusik von Kendrick Lamar demonst-riert Balzer, wie diese Entwicklung die Geschlechtermatrix der heutigen Poplandschaft prägt, in der nihilistische Feminis-tinnen auf männliche Ingenieure des Selbst treffen, irgendwo in dem weiten kulturellen Feld, das sich von Hauntology bis Retromania erstreckt. 


 26 | ZUKUNFT  Im 2019 erschienenen Langessay Pop und Populismus. Über  Verantwortung in der Musik wiederum zeigt Balzer, wie bestän-diger Tabubruch und notorische Grenzüberschreitung in be-stimmten Bereichen der Pop-Musik zu einem unwillentlichen Schulterschluss mit politisch rechten Kräften führt. Die un-heilige Verknüpfung von prononcierter Aggression bei gleich-zeitiger Einnahme einer Opferrolle, so begreift man, vereint migrantischen Gansta Rap mit der verlogenen Selbstinszenie-rung von Rechtspopulisten. Balzers Rang als Popkommenta-tor begründet sich entsprechend nicht nur in seiner popmu-sikalischen Expertise. Nie verliert er nämlich aus dem Blick, dass Popkultur – zumal in unseren traurigen, ungenügenden Zeiten – nicht nur eine politische Rolle spielt, sondern zu-dem eminente soziale Verantwortung besitzt.  Ebenso 2019 erschien dann mit Das entfesselte Jahrzehnt.  Sound und Geist der 70er sein vielgelobtes Epochenportrait ei-nes besonderen Jahrzehnts, in dem die in den 1960er-Jahren noch relativ homogene Pop-Musik sich diversifizierte und vielfältig verzahnte mit sozialen Entwicklungen. Balzer legt anschaulich dar, wie die emanzipative Gegenkultur der Hip-pie-Ära in den Siebzigern in den sozialen Mainstream ein-geht und unsere westlichen Gesellschaften nachhaltig verän-dert. Die Stärke von Das entfesselte Jahrzehnt besteht darin, dass Balzer seine Zeitdiagnose weit über das engere Feld der Pop-Musik und Popkultur ausweitet, indem er sie in übergreifen-de historische, ökonomische und weltpolitische Zusammen-hänge einbindet.  V. Wenn nun, nur zwei Jahre später, mit High Energy. Die Acht- ziger: das pulsierende Jahrzehnt der Nachfolgeband erscheint, so kündigt sich darin wohl der ambitiöse Versuch einer dekaden-haften Kulturgeschichtsschreibung unserer Gegenwart durch das Prisma der Popkultur an. Nun also stehen die 1980er-Jah-re auf dem Programm, die in soziopolitischer Hinsicht sicher kein gutes Jahrzehnt waren: Thatcher, Reagan und Kohl führ-ten den Neoliberalismus in ihren Ländern ein, mit den be-kannten desaströsen Folgen bis heute, die Yuppies waren die ersten Profiteure dieser Entfesselung des Realkapitalismus, der ökonomische Zwang zur Selbstoptimierung wurde dann via Aerobic-Trend und Jogging-Rausch auf den eigenen Körper übertragen, während AIDS die gesamte Gesellschaft veränderte und ohnehin spielte sich alles vor dem Hintergrund der Span-nungen des Kalten Kriegs ab, der nicht nur in der popkultu-rellen Imagination, sondern auch der Realität zu einer ge- genseitigen nuklearen Vernichtung von West- und Osteuropa hätte führen können. Der GAU in Tschernobyl demonstrier-te dann eindrücklich, dass nukleare Katastrophen sehr wohl Wirklichkeit werden können.  Wo Gefahr aber droht, wächst das Rettende – so hofft  man zumindest. In popkultureller Hinsicht weist Balzer auf die Vielzahl der Entwicklungen hin, die in den 1980er-Jah-re begannen und bis heute kaum mehr aus unserem Leben wegzudenken sind: er analysiert den politischen Aufstieg der ökologischen Protestbewegung in Gestalt der Grünen, wid-met dem HipHop als Form schwarzer Selbstermächtigung ein kenntnisreiches Kapitel oder kontextualisiert die Figur des Zombies im Spannungsraum zwischen Schulhof-Schmuddel-film und bahnbrechenden Thriller-Musikvideo. Der Sieges-zug von Videokassetten und Videotheken einerseits, MTV und Musikvideos andererseits ist einer der drei großen Medien-wandel in den Achtzigern, die High Energy verhandelt. Ebenso erinnert Balzer daran, was die Mobilisierung des Musikhörens durch den Walkman seitdem für die Präsenz von Pop-Musik bedeutet, beleuchtet aber vor allem jenen Wandel, der un-ser Leben und unseren Alltag wie sonst nichts revolutionierte: die Digitalisierung. Nicht nur die neue Videospielkultur um Pong, Mario und Space Invaders, mit der die Digitalära zuerst ins Kinderzimmer einzog, kommt dabei in Blick, sondern auch die subversive Hackerszene samt der beginnenden Heimcom-puterkultur werden als Wurzeln unserer heutigen Computer-welt beleuchtet.  Immer wieder gelingt es Balzer in High Energy so über- raschende wie aufschlussreiche Zusammenhänge aufzuzeigen: So erfährt man beispielsweise, wie die (Neu-)Entdeckung von Pesto mit den ersten, kastenartigen Mobiltelefonen zusam- POPSOZIALISATION  VON UWE SCHÜTTE JENS BALZER HIGH ENERGY Berlin: Rowohlt 400 Seiten | € 28,00 ISBN: 978-3737101141


 ZUKUNFT | 27  menhängt, oder welche überaus bedeutsame Rolle der Atom-kriegsfilm  The Day After (1983) für die visuelle Imagination eines nuklearen Blitzes und der körperlichen Folgen radio-aktiver Verstrahlung gehabt hat. Mit High Energy gelingt Bal-zer nicht nur ein eindrucksvoller Epochenüberblick; dass sein an vielen vergessenen Details überreiches Buch zudem so le-bendig wirkt, liegt sicher daran, dass der 1969 geborene Autor seine Jugend und somit Popsozialisation just in dieser Deka-de erlebte. Umso gespannter darf man sein, was er im hoffent-lich geplanten Nachfolgewerk dann über die Neunziger be-richten wird. UWE SCHÜTTE  ist Autor und Germanist. Er lehrt  German Studies in Birmingham und  ist Privatdozent für  Neuere Deutsche Literatur an der Universität   Göttingen. Zahlreiche deutsche und englische Buchpublikationen zur   Gegenwartsliteratur und zur Band Kraftwerk. Bei Cambridge   University Press erscheinen nächstes Jahr die von ihm herausgegebenen  Bände  Cambridge Companion to Krautrock und W.G. Sebald in Context.


 28 | ZUKUNFT  BLASSE TAGE  VON ZARAH WEISS  Da ist ein Bahnhof, der umringt ist von dürren Wiesen,  auf denen Heublumen wachsen und Kühe grasen. Da ist ein Zug, der jede Stunde hier hält und niemand  steigt ein und niemand steigt aus. Da ist weit und breit kein Haus zu sehen, bis zum Hori- zont nur die Wiesen, ein paar Bäume, und in der Mitte der Bahnsteig. Lass uns vorstellen, dass die Kühe eines Nachmittags die  Köpfe heben, weil da ein Brummen am Horizont zu hören ist. Lass dieses Brummen von einem Auto kommen, ein alter  Jeep mit rostigen Felgen und widerspenstiger Gangschaltung. Lass uns beobachten, wie dieses Fahrzeug näher kommt  auf der schmalen, asphaltierten Straße, lass uns am Bahnsteig warten und versuchen zu erkennen, wer am Steuer sitzt, ja wer, langsam, Du kneifst die Augen zusammen, erkennst eine Silhouette hinter der Frontscheibe und das Auto kommt zum Stehen, direkt neben dem Bahngleis, es ist ein Mann. Nimm diesen Mann, lass ihn aussteigen, stell ihn auf  den Bahnsteig und da steht er, mittelwüchsig, stämmig, die Hemdknöpfe oben geöffnet, dunkle Brusthaare, dunkle Kopf-haare, dunkle Schuhe, helles Gesicht. Geh auf ihn zu, er schaut in die Ferne, berühre ihn, be- rühre seinen Arm, halte ihn fest, warte mit ihm auf den Zug, ihr habt noch: 40 Minuten. Mascha sieht mich verständnislos an, zuckt die Schultern,  zückt ihren Stift. Ich betrachte die feinen Härchen auf ihrem Unterarm, ihre Hand, die ratlos auf dem Papier liegen bleibt und ich denke: Wie muss es sein, mit ihr auf einen Zug zu warten. Aber wir sind nicht im Nirgendwo und sie ist keine Figur,  die ich aus dem Auto nehmen und irgendwo hinstellen kann. Das Einzige, worauf ich mit ihr warten kann, ist, dass diese Stunde vorbeigeht und wir diese Aufgabe lösen, einen Ent-wurf zu dieser Szenerie schreiben, der vielleicht von unserem Dozenten ausgewählt wird. Spencer hat sich vorne hingesetzt und schaut uns nicht  mehr an und schweigt, vertieft in einen Artikel, er hat uns die Aufgabe gestellt und wir sollen jetzt etwas machen aus diesen 40 Minuten, sie in eine Geschichte verwandeln, die es wert ist, erzählt zu werden, vielmehr noch: wert ist, gedreht zu werden. Ich schaue auf die große Wanduhr über der Tür, Zeit, um  sich irgendetwas auszudenken, dass Spencer zufriedenstellen wird und ich frage mich, wie er überhaupt mal wieder auf diese Idee gekommen ist. Mascha neben mir beginnt zu schreiben, alle mich herum  schreiben schon, niemand flüstert. Und schließlich nehme ich den Stift und schreibe eine  kurze Szene. Über einen Mann, der am Bahnhof wartet auf eine Katastrophe, er weiß nur noch nicht, welche es sein wird, er weiß, in diesem Zug wird seine Tochter sitzen, ihn nach Jahren wieder auf dem Land besuchen und er ist halb wahn-sinnig vor Sorge. Es sind die längsten 40 Minuten seines Le- Blasse Tage  ZARAH WEISS  erzählt die Geschichte von Sonia und Mascha – eine Geschichte, wie sie so häufig vorkommt, direkt aus  dem Leben gegriffen, feinfühlig und beeindruckend in einem literarischen Loop erzählt. Vom Ankommen, Wegfahren und Stehenbleiben …


 ZUKUNFT | 29  bens, bis dann der Zug kommt und seine Tochter steigt aus, die eine Fehlgeburt hatte, und danach hat sie wieder den Kontakt zu ihm aufgenommen und bei ihm wird sie jetzt blei-ben die nächsten Wochen und das Geschehene versuchen zu verarbeiten und sich ihm annähern. Am Ende der Stunde gebe ich das Papier ab und fahre mit  dem Rad zurück in die leere Wohnung. Natürlich habe ich kein einziges Wort mit Mascha gesprochen und natürlich hat ihr Schulterzucken nicht mir gegolten, sondern dem Kurs all-gemein. Sie hat noch nie mit mir geredet und ich frage mich, was sie eigentlich in diesem Kurs macht, wenn sie doch schon längst ein Drehbuchstudium in London abgeschlossen hat. Ich frage mich, ob sie jemals über mich nachgedacht hat und ob sie sich dann auch fragt, was ich in diesem Kurs mache, die großgewachsene, blasse Stille, die immer alle Aufgaben pünkt-lich und geflissentlich abgibt, aber nie etwas Wesentliches bei-getragen hat zu diesem Short Film Kurs, für den die Filmwis-senschaft mittlerweile bekannt ist. In der Wohnung toaste ich das Brot von vorgestern und  lege mich mit dem Laptop bäuchlings aufs Bett. Gegenüber von mir die kahle weiße Wand, hinter dem Fenster ist es längst dunkel geworden, der Kurs findet abends statt, die Lichter des Hochhauskomplexes gegenüber tauchen das kleine Zimmer in kaltes, mattes Licht. Ich rufe Spencers Website auf, sehe mir seinen letzten  preisgekrönten Kurzfilm an. Ich sauge alles auf, verstehe das Ende nicht. Wie hat die Uni ihn als Gastdozenten verpflich-ten können? Am nächsten Tag sehe ich Mascha durch Zufall auf dem  Campus. Sie hat einen Kaffeebecher in der Hand und ist ganz in schwarz gekleidet, hat ihre Locken unachtsam zusammen-gesteckt. Sie ist allein, läuft langsam auf mich zu, in ihr Handy vertieft. Sie sieht mich nicht. Ich merke, wie meine Handinnenflächen beginnen zu  schwitzen, ich fühle mich deplatziert, habe sie noch nie au-ßerhalb des Kurses gesehen, habe mir so oft vorgestellt, was sie in ihrer Freizeit macht, mich gefragt, ob sie allein wohnt oder mit jemanden zusammen. Schon mehrmals habe ich sie geg-ooglet, mir ihren Lebenslauf zusammengereimt, die Fotos be-trachtet. Drei ihrer Skripte sind bereits als Kurzfilme produ-ziert worden, ein viertes Projekt ist in Arbeit. Es gibt keine Versionen online, nicht einmal Trailer. Ich wische die Handinnenflächen an meiner Jeans ab, kra- me beschäftigt in meiner Umhängetasche. Als sie an mir vorbeigeht, lächle ich sie an, die Andeutung  eines Lächelns, so als könnte es ein Zufall sein, als würde ich zufällig an etwas Schönes denken, mit den Gedanken ganz woanders. Und gleichzeitig könnte es auch ihr gelten, eine Kontaktaufnahme, Hey, wir sind doch in einem Kurs, was glaubst Du, wird Spencer für die Abschlussprojekte auswäh-len, hast Du auch so viel zu tun, ciao, bis nächsten Dienstag. Das beides könnte es bedeuten, aber da ist sie schon an  mir vorbeigegangen und ich bin mir gar nicht sicher, ob sie mich überhaupt gesehen, ob sie mich überhaupt wahrgenom-men hat. Der Blick flüchtig, hat mich höchstens gestreift, die Mundwinkel genauso hochgezogen wie meine, genauso zweideutig. Ich wage es nicht, mich nach ihr umzudrehen. Der Hörsaal zu „New Scandinavian Extremity“ ist voll  wie immer und wie immer sehen wir Filmausschnitte, bei de-nen manche wegschauen müssen. In dieser Woche verbringe ich ungewöhnlich viel Zeit am  Campus, die Sonne scheint und ich lese die Texte mal drau-ßen, mal in der Bibliothek, beobachte, wie sich die Ersten morgens auf Kaffee und die Letzten abends auf Feierabend-bier treffen. Über dem runden Seminargebäude geht die Son-ne jeden Abend rosa unter, ein Schauspiel, das ich von zu-hause nicht kenne, Farben, die es in meiner Heimatstadt nie gegeben hat. In den freien Stunden zwischen den Kursen besuche ich  zweimal das kleine Programmkino zwei Straßen weiter, flüch-te mich vor der Mittagshitze in die ausgeleierten Plüschses-sel und lasse die Dunkelheit und die klimatisierte Luft sich auf mich legen. Jedes Mal, wenn der Abspann läuft, frage ich mich, wie das sein muss, wenn Dein eigener Name dort steht, weiß auf schwarz, von unten nach oben wandernd. Am Dienstagabend wartet Spencer kaum ab, bis wir uns  gesetzt haben. „Ich habe drei Projekte ausgewählt“, sagt er. „Diejenigen, die sie entwickelt haben, sind für das gesamte Skript verantwortlich. Die anderen ordnen sich jeweils den Gruppen zu, diskutiert untereinander, wer welche Rolle ein-nimmt, Kamera, Ton, Supervision, Requisite usw. Schafft ihr das, euch selbst einzuteilen?“ Er zieht umständlich den Over-headprojektor nach vorne, ich starre Maschas Hinterkopf an. Den unteren Haaransatz hat sie wegrasiert. Vielleicht kann ich 


 30 | ZUKUNFT  schnell genug sein und in ihr Team kommen, ich weiß nicht, ob ich das will, kann. Spencer legt die Titel der drei Projekt-ideen auf, die realisiert werden sollen. Ein kleiner Mann stirbt – MaschaBlasse Tage – SonjaIn einer fremden Stadt – Mike Ich starre die Folie an. Ich starre Maschas und meinen Na- men an. Spencer hat meinen Namen falschgeschrieben, Sonja statt Sonia, aber er hat ihn geschrieben. Da steht der Titel von meinem dahingeschmierten Szenenentwurf und das bedeutet, dass meine Idee zu einem der Abschlussprojekte wird und das bedeutet, dass ich nicht mit Mascha in einer Gruppe arbeiten werde. In meinem Hals sitzt ein Kloß und als ich ihn herun-terschlucke, bin ich regelrecht erleichtert. Die nächsten Wochen verbringen wir damit, in unseren  Gruppen zu planen, Locations zu suchen, Schauspielerin-nen und Schauspieler zu finden. Spencer schickt in die Kurs-WhatsApp-Gruppe die Koordinaten eines Ortes außerhalb der Stadt, der sich als Drehort für die Bahnhofsszene eignet. Ich lasse Paula, die Supervisorin meiner Gruppe das meiste erledigen und verwalten, sitze hauptsächlich allein im Kurs-raum oder in der Sonne und überarbeite das Skript. Alle zwei Wochen haben wir ein kurzes Meeting mit dem gesamten Kurs, um Fragen zu klären und von den Prozessen der ande-ren Gruppen zu erfahren. An einem Dienstag vier Wochen nach Projektbeginn lädt Spencer einen befreundeten Kame-ramann ein, der uns Tipps geben soll. Ich realisiere erst, wer vor uns sitzt, als er uns Ausschnitte aus dem Film zeigt, der als Beitrag des Landes für den besten fremdsprachigen Film bei den nächsten Academy Awards eingereicht werden soll. Ich zeige auf, stelle Fragen, die nur ansatzweise etwas mit unserem Projekt zu tun haben. Woher nehme ich Lichtquellen, wenn ich eine Szene im Dunkeln drehe? Er lächelt viel, antwortet geduldig. Er sieht sehr gut aus. Mascha sagt gar nichts. Sie sitzt da bloß, entspannt angelehnt und betrachtet ihn wie ein mo-dernes Kunstobjekt, halb erstaunt, halb gelangweilt. Bei den Dreharbeiten bin ich immer dabei, beim Schnitt  teilweise. Zwischendurch haben wir eine Woche Ferien, aber wir sind so sehr im Verzug, dass unser Cutter von morgens bis spätabends in den Schneideräumen der Uni sitzt und ich ne-ben ihm. Ich hole ihm Kaffee und weiß, dass ich mehr nerve, als hilfreich bin, aber in diesen Tagen hat eine Fahrigkeit von mir Besitz ergriffen, die ich nicht einordnen kann. Insgeheim  hoffe ich, dass auch Mascha beim Schnitt von ihrem Projekt vorbeischauen wird, aber sie ist kein einziges Mal da. Als der Cutter am letzten Tag der Ferien fertig wird, ist  es dunkel draußen. Wir kaufen eine Flasche billigen Rot-wein, setzen uns auf die leeren Bänke vom Campus und be-trinken uns. Bald wird es kalt. Wir gehen zu ihm nach Hau-se, er wohnt in einer WG und wir küssen uns, sobald er seine Zimmertür hinter sich zugezogen hat. Beim Sex sind wir da-rauf bedacht, nicht zu laut zu sein, um seine Mitbewohner nicht zu stören. Ich wache früh mit den ersten Sonnenstrahlen in sei- nen dunklen Bettlaken auf, lehne sein Kaffeeangebot ab und spaziere durch die Morgensonne in meine kühle, klei-ne Wohnung. In der letzten Sitzung vor den Semesterferien schauen wir  uns die Kurzfilme der Reihe nach an. Spencer verdunkelt den Raum und schaltet den Beamer ein. Ich sitze umringt von meinem Team, Mascha von ihrem, Mike von seinem. Mein Film ist der Einzige, in dem jemand mit dem Zug ankommt, die beiden anderen Geschichten erzählen vom Wegfahren. Mike hat eine schrille, bizarre Story geschaffen. Die von Ma-scha ist klassisch erzählt, berührend, lässt alle Fragen offen. Ein Krimi im Grunde. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn verstehe. Mein Skript kommt mir langweilig vor, die Umset-zung amateurhaft. Es ist alles so gewollt. Es ist alles nicht so leicht. Da ist mein Name im Abspann und es fühlt sich fehl-platziert an. Spencer schaltet das Licht wieder an, beginnt zu klatschen,  er zwinkert uns zu. „Das war einer der besten Jahrgänge. Ich werde eure Filme weiterleiten, daraus könnte mehr werden“, sagt er. Er schlägt vor, dass wir darauf noch einen trinken ge-hen, nennt eine Bar nicht weit vom Seminargebäude. Ich höre mein Herz wieder klopfen, mein Hals ist tro- cken. Als wir aus dem Gebäude gehen, läuft Mascha neben mir, unsere Schultern berühren sich in dem Gedränge. Der erste Körperkontakt. Ich frage mich, ob sie roten oder weißen Wein bestellen wird. Sie fährt sich durch die offenen Haare, sie riecht ganz leicht zitronig. Draußen brennen die Außenlampen des Gebäudes, das  Licht direkt neben der Tür ist ausgefallen. BLASSE TAGE  VON ZARAH WEISS 


 ZUKUNFT | 31  „Richtig guter Film, Sonia“, sagt Mascha und lächelt  mich an. „Hat Spaß gemacht, das Semester.“ Und da um-armt sie mich, plötzlich, ohne Vorwarnung und ich spüre, wie warm sie ist. Es dauert nur ein paar Sekunden, dann lässt sie mich los. „Ciao!“, ruft sie in die Runde. „Ich schaffs leider nicht  mitzukommen! Viel Spaß!“ Und wehenden Schrittes geht sie davon. Da ist ein Universitätsgebäude, das umgeben ist von ande- ren Bauten, in denen tagtäglich Menschen ein- und ausgehen. Lass uns vorstellen, dass eines Abends zwei Frauen dieses  Gebäude verlassen, sie treten hinaus ins matte Laternenlicht, hinter ihnen eine Gruppe fröhlicher Studierender. Nimm diese Frauen, stell sie nebeneinander, lass sie reden,  sich umarmen, gehe auf sie zu, schau, was passiert, wenn sie endlich in Kontakt treten, lass sie sich am Arm berühren, lass sie zusammen in angeregter Unterhaltung in die Ferne gehen, ihr habt noch: ZARAH WEISS  lebt als Autorin und Literaturwissenschaftlerin in Wien.   Wiener Literatur Stipendiatin 2021. Exil-Literaturpreis 2021.   Zuletzt erschien ihre Erzählung  Die Kemenate (Czernin Verlag 2020).


 32 | ZUKUNFT  REVENIR  VON LORENA PIRCHER Die Hände sind schmal, die Finger lang. Tasten der Kup- pen über die Holzplatten. Glatter Buchentisch. Weiche Ap-felschalen. Flüstern. Grüne Lilien umgeben das Fenster. Fin-ger gegen Tür: Gebeiztes warmes Holz. Faserig unter den Nerven. Geschwungene Linien: Die helle Tür öffnet sich. Ich setze mich an den langen Tisch, die Wände: Fotografien, Zeitschriftenartikel, gerahmte Bilder. Ich bemerke, dass der Wasserhahn leise tropft. Ich zähle die Tropfen pro Minute, es sind sieben. Ich blicke mich erneut kurz um: Hellbrauner Par-kettboden. Leichter Wind vor dem Fenster. Es kommt mir al-les so bekannt, so nahe vor und das will ich nicht. Ich über-lege, ob ich wieder gehen soll. Eigentlich hat mich niemand gesehen, ich könnte einfach wieder gehen, der Bus fährt jede zweite Stunde. Eine Tafel, eine Bank, eine gewundene, vor kurzem as- phaltierte Straße, die ich nicht kenne. Staub flimmert in der Luft. Es war überraschend heiß, als ich ausstieg, der Ge-ruch von Heu und Abendsonne auf meinen Händen, die Wände der Häuser wie Spiegel, glatt und meine Gedanken reflektierend. Ich müsste einfach nur an der Haltestelle warten, bis der  Bus wieder kommt. Stumme Blicke. Interessierte, ahnungs-lose Blicke. Warten. Stumme Blicke der anderen, die ich auf meinem Sein spüren würde. Zwei Stunden an der Haltestelle, Abendsonne auf den Sommersprossen, den Geruch von Weite in der Kleidung, Abschied im Arm tragend. Ich könnte ein-fach wieder gehen.  Die Haare auf meiner dampfenden Haut richten sich auf.  Flaumig durch die Sommersonne. Der Wasserhahn hat aufge- hört zu tropfen. Ich schaue durch das offene Fenster und sehe den Hügel, an dem du damals nach mir gesucht hast. Natür-lich hast du gedacht, ich wäre auf dem Hügel, dort unter den Birken, dort, wo du immer auf mich gewartet hast. Ich höre ein Auto vorfahren, ich weiß nicht mehr, ob es deines ist. Ich fühle mich von mir selbst losgelöst. Jede meiner Hautschich-ten stößt sich langsam von meinem Körper ab. Ich bin Bar-tholomäus, ein Selbstbildnis des Unerreichten. Ich beginne wieder zu atmen. Ist so mein Leben? Von mir selbst abgesto-ßen? Jedes Jahrzehnt von mir abgeschält wie eine stumpf ge-wordene Hülle, ohne Sinn, ohne Ziel, ohne Aufgabe, vor mir liegend und auf Veränderung wartend.  Mir wurde immer gesagt, man ist für jede Entscheidung  selbst verantwortlich. Es gibt weder zurück noch vorwärts, wenn man glaubt, sich falsch entschieden zu haben. Des-halb denke ich niemals darüber nach, was hätte sein können. Wahrscheinlich ist das der große Fehler in meinem Leben. Ich lebe immer im Vielleicht. In der Illusion einer nicht ge-lebten Vergangenheit und im Schatten einer unerfüllten Ge-genwart. Vielleicht hätte es hier nicht sein können, aber sein müssen. Plötzlich bin ich mir ganz sicher, dass es hätte sein müssen. Nicht nur für mich. Ich betrachte wieder die Fotos und die gerahmten Bilder an den Wänden. Getafelt. Es hat sich nicht viel geändert. Das Haus von außen, Wiesen, drei Bäume, im Hintergrund der Hügel. Nur scheint mir, als wäre der Himmel damals blauer gewesen. Wahrscheinlich wirkt das nur in den Fotos so verblasst und zerronnen. Alles so zerron-nen. Wahrscheinlich sehe ich Farben schon lange nicht mehr richtig. Zumindest nicht mehr so, wie sie sein sollen. Ich ste-he auf, ich suche nach einem Glas, einer Tasse, ich habe plötz-lich Durst. Mein Blick bleibt an einem in blätterndem Grün  Revenir In lyrischer Prosa entfaltet die Nachwuchsautorin  LORENA PIRCHER  abseits gewohnter Pfade die Geschichte einer von  der Zeit verdeckten, unerfüllt gebliebenen Liebe. Ganz gemäß dem Titel ihrer stillen, doch eindringlichen Erzählung umkreist sie in  Revenir Fragen der Rückkehr, der Aussöhnung und selbstbestimmter Neuanfänge. Ihr Text ist nicht zuletzt eine litera- rische Auseinandersetzung mit Kontingenz und weiblicher Identität.


 ZUKUNFT | 33  gerahmten Bild hängen. Es zeigt dich auf der Bank sitzend, im Garten, die leicht schief geneigt zu meinem Elternhaus zeigt, neben dem kleinen Mäuerchen, damals und jetzt von Mohnblumen bevölkert. Mir gefällt das intensive Rot. Du trägst das Hemd, das helle Leinenhemd, das ich dir geliehen habe. Ich muss lächeln und es berührt etwas in mir, wenn ich mir vorstelle, dass du jedes Mal, wenn du dich selbst in diesem Bild, in diesem Hemd siehst, an mich denkst, an mich denken musst. In meiner Vorstellung hast du es genau deshalb hier an die Wand gehängt, in die Mitte des Raumes, sodass du es so-fort und jeden Tag siehst. Damit du mich nicht vergisst. Ein Teil in dir mich nicht vergessen kann, auch wenn du wolltest. Ich stehe zwischen Tisch und Wasserhahn, die Hände of- fen, leer. Ich suche nach dem Glas, ich suche. Im Zwischen-raum. Wahrscheinlich hatte mein Vater Recht. Entweder man schafft es, mit dem Was-sein-hätte-können zu leben oder man zerbricht innerlich daran. Und fühlt sich jeden Tag mehr von sich selbst entfernt. Abgestoßen vom eigenen Körper. Das In-nen nach Außen gestülpt. Während ich noch suchend im Da-zwischen des Raumes stehe, öffnet sich die Tür und du trittst ein. Du erstarrst nicht einmal für einen Augenblick. Du fragst mich nicht einmal, was ich hier mache. Nicht einmal nach all den Jahren. Und doch glaube ich in deinem Gesicht etwas zu sehen, das ich damals sehen hätte wollen. Du drückst den Rücken durch, gehst zum stummen Was- serhahn. Ich vermisse sein Tropfen. Beinahe hypnotisch me-lancholisch das leise Flüstern des Wassers. Zäh wie Jahre. „Hast du Durst?“ „Ja, ein bisschen“. Du gibst mir ein Glas aus einem Schrank, an den ich mich nicht erinnern kann und ich trinke. Das kalte Wasser tut gut. Meine Hände krampfen sich leicht zusammen. Du blickst mich an, weder fragend noch anklagend. Ich lese zwischen deinen leicht gehobenen Au-genbrauen. Du weißt es. Du wusstest es immer. Dass ich zu-rückkommen würde. „Sollen wir uns nach draußen setzen?“ „Gerne …“ Meine Stimme klingt tonlos, viel zu distanziert, geradezu neutral und dein Gesicht schweigt jetzt. Nur wieder dieses kleine Lächeln, deine dünnen Lippen auseinandergezo-gen. Zum ersten Mal bemerke ich die tiefen Falten um deine Augen. Sie scheinen zu sagen, dass alles gut ist, auf eine resig-nierte, gealterte, vergehende Art und Weise.  Ich suche deinen alternden Blick, aber du wendest mir  den Rücken zu und gehst vor mir die Tür hinaus. Du trägst ein helles Leinenhemd, sicherlich nicht meines, aber es be-ruhigt mich, es zu sehen. Es ist, als wäre da noch etwas das  ich kenne an dir, etwas außer deiner Küche, deines Hauses, der Bank neben dem Mäuerchen und der Bushaltestelle. Wir setzen uns auf die Bank. „Erinnerst du dich noch daran, wie wir immer hier gesessen sind?“ „Natürlich“. „Wir haben Bier getrunken und über alles und nichts geredet.“ Nach einigen Sekunden in denen wir schweigen, schaust du mich direkt an. „Warst du auch schon drüben?“ Mein Blick schweift zum Nachbarhaus. Ich schüttele den Kopf. „Ich kenne dort ja nie-mand mehr.“ Ich überlege wie lange es her ist. Wahrschein-lich 35 Jahre. Drei Jahrzehnte, seit ich fortgegangen bin. Mit plötzlich aufkeimender Sorge frage ich: „Pflegen die neu-en Besitzerinnen das Haus gut? Ich habe nur den Garten ge-sehen, er sieht sehr schön aus, aber doch, du weißt ja, man denkt immer mal wieder daran…“ „Woran?“ „Wie?“ „Woran denkst du immer mal wieder?“ Ich antworte nicht.  „Die Familie, die jetzt dort wohnt, ist sehr nett. Ich rede  oft mit ihnen, spreche über den Garten, sie bringen mir manchmal italienischen Wein vorbei. Ich glaube sie sind aus der Toskana.“ „Das freut mich“.  Wir verstummen beide. Die Stille ist beruhigend. Nur die  Luft bedrückt mich, trocken, Heu, die zu starke Abendson-ne. Weit entfernt sind einige Vögel zu hören. In den Birken auf dem Hügel, neben dem kleinen Bach. Du blickst auf dei-ne Hände, magere Fingern, an denen die Knöchel übertrie-ben stark hervortreten. „Du wärst damals sowieso nicht mit mir mitgegangen,  das wussten wir doch beide. Und überhaupt wäre es nicht möglich gewesen. Nicht damals zu diesen Zeiten und über-haupt hier.“ „Hier vielleicht nicht, aber sicherlich anderswo.“ „Und wieso bist du dann nicht mitgekommen?“ Ich bemer-ke erst, dass ich schreie, als ich deine hochgezogenen Au-genbrauen sehe. Stille. Dann schaust du mich an und brei-test dann die Arme aus, zeigst auf das Haus, das Land. Dein Gesicht immer noch ruhig, aber in deinen Augen Bedauern. „Ich verstehe nicht, wieso du hierbleiben wolltest, hier hätten wir nicht glücklich werden können …“ „Wer sagt das? Wie-so bist du nicht mit mir geblieben? Gemeinsam hätten wir es schaffen können. Das weißt du. Aber du wolltest lieber flie-hen. Wolltest dich lieber verstecken, anstatt hier mit mir zu le-ben.“ Meine Stimme wird hart. „Das stimmt nicht, das weißt du.“ Er hebt die Hände und ein zynisches Lächeln überschat-tet sein Gesicht. „Du hast nie etwas gesagt“. „Du auch nicht“. 


 34 | ZUKUNFT  Ich höre meine eigene Stimme beinahe nicht mehr, sie ist heiser.  Du nickst. „Es tut mir Leid.“ Du legst deinen Arm auf  meinen. „Ich habe dich gesucht, damals, weißt du, als du ge-gangen bist.“ Ich spüre wie sich etwas durch meine Lungen zieht, es fühlt sich an wie Glasscherben. „Auf dem Hügel.“ „Die kleine Insel der Freiheit“. Mir gelingt sogar ein Lachen. „Es tut mir Leid, dass ich gegangen bin. Ich konnte nicht an-ders.“ „Ich weiß.“ Unsere Hände berühren sich für einige Momente, niemand sagt ein Wort. Dann atmen wir beide aus und stehen auf. Wir zögern, schwanken und umarmen uns dann zum ersten Mal in unserem Leben. Es beginnt leicht zu regnen. Die Regentropfen laufen über meine Beine, Trä-nen auf dem Gesicht eines Riesen. Mein Vater hatte Recht, wenn du glaubst, dass du dich falsch entschieden hast, lebst du auf ewig im Dazwischen. Aber sobald du weißt, dass du dich falsch entschieden hast, kannst du mit der falschen Entschei-dung Frieden finden. Als du mich zur Bushaltestelle begleitest, habe ich Glück,  der Bus fährt gerade um die Kurve. Ich muss nicht noch zwei Stunden warten, obwohl ich mir das vielleicht gewünscht hät-te. Wir verabschieden uns mit einem Handschlag, der sich eher wie ein Beginn als wie ein Abschied anfühlt. Ich streiche mein regennasses Hemd zurecht und steige in den Bus. LORENA PIRCHER wurde 1994 in Südtirol, Italien, geboren. Studium der  Vergleichenden  Literaturwissenschaft sowie der Anglistik und Romanistik. Sie schreibt  Kurzprosa und Lyrik. Ihr erster Gedichtband  Irrende Welten wurde 2018  veröffentlicht; derzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Lyrikband.  REVENIR  VON LORENA PIRCHER


 ZUKUNFT | 35  GLORIA DIMMEL Untitled 2 © Gloria Dimmel


 36 | ZUKUNFT  MINESWEEPER. LAUDATIO AUF SIMON SAILER  VON THOMAS BALLHAUSEN I. Ich möchte meine Rede mit einer Feststellung beginnen,  die Ihnen vielleicht eigenwillig oder im ersten Moment auch unangebracht vorkommen mag: Ich kenne Simon Sailer nicht. Angesichts aktueller Debatten um Möglichkeit und Ohn- macht von Kritik und kritischem Diskurs, über das Missver-hältnis von Affirmation und konstruktiver Durchdringung in Bezug auf Gegenwartsliteratur, angesichts eines massen medial gezeichneten Wunsches nach konsumierbarer Bestätigung statt Infragestellung und ästhetischer Herausforderung, muss so ein Eingeständnis verwundern.  Also nochmals. Ich kenne Simon Sailer nicht. Wie passt so eine Eröffnung zu aktuellen Tendenzen au- toritärer Diskursunterdrückung, zur ironiebefreiten Exklusion nicht zuletzt künstlerischer Werke, die nicht zur eigenen An-schauung passen oder der marktdiktierten Verkäuflichkeit von Autor*innen aufgrund ihrer Biografien, Benachteiligungen oder Privilegien, ihrer Orientierungen oder Erfahrungen – und immer weniger, so mein Eindruck, aufgrund ihrer Wer-ke oder ästhetischen Ansprüche? Wie zur kontinuierlich un-terminierten Trennung von Mensch und Werk, zur alleinigen Akzeptanz bestätigender, ja harmloser Inhalte auf Kosten von Ästhetik und Risiko? Abschließende Antworten dazu anzubieten wäre kurzsich- tig, ja töricht. Ich will, was nicht minder wertvoll sein kann, die Fragen zumindest genannt haben. Und ich werde trotz des genannten Umstands – also: Simon Sailer nicht bzw. noch  nicht zu kennen – und der erwähnten Zumutungen darzu-stellen versuchen, dass meine Laudatio auf ihn dennoch kei-ne Zeitverschwendung, kein konservatives Rückzugsgefecht oder ein vergleichbarer Grund zur Sorge ist. Denn, was mich ehrt und freut, ich darf diese Laudatio halten, weil ich Simon Sailers Werk kenne und schätze, weil ich hier ein geteiltes In-teresse für das Erbe der Romantik, etwa in Ausprägungen des Fantastischen, des Ironischen oder auch des Reflexiven, sehe. Für meine im besten Sinne gar nicht leichte Aufgabe empfin-de ich es also insbesondere heutzutage als möglichen Vorteil – eben weil aus Biografien Qualitäten, Lesehinweise oder gar Haftungen herausgeschält werden sollen – vorsätzlich die lite-rarischen Texte Simon Sailers als Startpunkt meiner lobenden Annäherung zu wählen.  II. Ich möchte deshalb versuchen – nicht zuletzt aufgrund  der angedeuteten Tendenzen, die mich als Autor und demo-kratisch denkender Mensch ernsthaft sorgen – abseits von al-lem Elitismus für eine sich öffnende Literatur zu plädieren, eine Literatur, wie ich sie bei Simon Sailer vorfinde, die sich Fragen nach der Diskussion um künstlerische Qualität erhält, eine Literatur, die sich der Vielstimmigkeit der Literaturge-schichte bewusst ist, die uns Erfahrungswelten bietet und zu-gänglich macht, die sich nicht mit unseren eigenen decken – und nicht zuletzt eine Literatur, die sich zu herausfordernder Lektüre bekennt, zu einem Schreiben in der Gegenwart, das positiv an die Literaturgeschichte anknüpft, statt sie ungeprüft als nicht mehr relevant oder gar prinzipiell suspekt abzutun. Minesweeper. Laudatio  auf Simon Sailer ZUKUNKFT-Redakteur  THOMAS BALLHAUSEN  durfte die Laudatio auf den österreichischen Schriftsteller Simon Sailer  halten, dem der  Clemens-Brentano-Preis 2021 der Stadt Heidelberg verliehen wurde. Sailers Literatur ist nicht zuletzt von  männlichen Protagonisten bestimmt, die einem unheimlichen Schicksal ausgeliefert sind. – Erstabdruck einer Rede, die auch aktuelle Debatten in und um die Literatur reflektiert.


 ZUKUNFT | 37  Sailers Auseinandersetzungen mit Schönheit und Schre- cken des Lesens, mit der Lebendigkeit der Literatur und ihrer Objekte zeigt sich bei ihm als raffiniertes Spiel mit Referen-zen und Verweisen, genreübergreifenden Einladungen an die Grenzlinien zwischen Wirklichkeit und Fiktion. An diesen spannungsgeladenen Nahtstellen, Belegen einer notwendi-gen Verbindung zwischen dem Realen und dem Erfundenen, wird Literatur möglich, auch oder vielleicht auch gerade we-gen einer Welt, die ihren schlechten Ruf nicht ganz zu Un-recht hat. Wie heißt es bei ihm doch gleich: Es „gibt in der Wirklichkeit eben Zufälle, die etwa in einem Roman ganz unglaubwürdig wirken würden“.  Ich nehme also Simon Sailers Spiel auf und versuche mich  aus einer Kombination aus Logik und Raten, wage ein Hin-tasten auf Auslegungen und vielleicht auch Lösungen, ohne mich dabei in die Luft zu sprechen. Eigentlich wollte ich eben „in die Luft sprengen“ schreiben, aber hier ging ver-tippend der Text mit mir durch und ich will das so stehenlas-sen. Ich will es, dem herbeizitierten Zufall vertrauend, auch deshalb nicht korrigieren, weil es zu Sailers Poetik passt, sei-nem Erschreiben von Verschiebungen, Übergängen und eben auch Irritationen. Schon in seinem Debütroman Menschenfisch (2019) findet sich ein Programm des entsprechenden Voran-tastens. Da heißt es beim Weg ins Dunkle und Mythische, beim Rückkehr in die Höhle: „Jedes Stück ein Rätsel.“ III. Dunkel und unheimlich nimmt sich auch die Wiener Es- siggasse aus, so wie Simon Sailer sie in den beiden bislang vorliegenden Werken seiner Trilogie ausgestaltet hat. Die-ser schmale, real existierende Verbindungsweg zwischen zwei größeren Straßen ist der Ort aus dem der Autor seine Räu-me gewinnt. Schon in Die Schrift (2020), dem ausschlagge-benden Titel für die Verleihung des Clemens-Brentano-Preises der Stadt Heidelberg, spielt sie eine nicht unwesentliche Ne-benrolle, ist sie doch Adresse eines Hotels, das dem Archi-var Leo Buri den Zutritt verwehrt. Der Ägyptologe Buri, be-stimmt vom Wunsch einer eigenen Bildschrift, ist unfreiwillig in den Besitz der titelspendenden Schrift gelangt, die den Ef-fekt einer sich steigernden Exklusion mit sich bringt. Der his-torische Beleg, der innerhalb der Erzählung ein wenig wie ein MacGuffin funktioniert und sich dem eigentlich kundigen Zeichendeuter so völlig verschließt, isoliert und stigmatisiert den Protagonisten, treibt ihn immer weiter, hin bis zum Ver-schwinden in der Einöde der Vereinigten Staaten. Die Schrift,  derer er sich nicht entledigen kann, ist Ausdruck eines Ge-rüchts, ja, einer Infektion – alle wissen Bescheid, einzig Buri ist unwissend im sozialen Spiel. Göttin Fama und ihre Indust-rie sich verschlimmernder Geschichten prägen den Umstand, dass unser Wissen übereinander aber auch unsere Geheimnisse voreinander uns zu einer Gesellschaft machen, vielleicht auch zu einer Gemeinschaft. Auch Altwarenhändler Maurice Demel in Das Salzfass  (2021) ist dem titelspendenden Objekt geradezu ausgeliefert, das ausgerechnet in einer Wohnung in der besagten Essiggas-se aufzutauchen scheint. Aus der Antiquität beginnt ein We-sen zu wuchern, das sich nach und nach als eine hungrige, Werte verschlingende Erweiterung seiner selbst erweist. Die-ses sprichwörtliche Fass ohne Boden, bringt nicht nur eine unheimliche Geschichtlichkeit mit sich, sondern entfaltet in Sailers Fortsetzung der Trilogie etwas wie einen hervorragend eigenwilligen  Litte Shop of Horrors. Für die beiden, von Re-ferenzen durchzogenen Erzählungen ist das Moment des In-direkten, des Vermittelten zentral. „Ich spreche natürlich aus zweiter, dritter Hand“ heißt es ganz richtig. Es sind Geschich-ten, die einander stützen, Berichte die auf anderen Berichten fußen, es sind Dokumente, Tagebücher, Nachlässe und Zet-tel – immer wieder Zettel. Die gar nicht nur vertrauenswür-digen Hauptfiguren, nicht zuletzt geprägt durch ihre Berufe, kommen nur im Nachhinein zu Wort. Es sind Freunde und Bekannte, die über den Einbruch von Magie und Schrecken berichten, also Dritte, die bei aller Unterstützung die Nieder-gänge von Buri und Demel nur noch belegen können, bevor das Unheimliche weiter um sich greift.  SIMON SAILER DAS SALZFASS Wien: Edition Atelier 111 Seiten | € 18,00 ISBN: 978-3990650462 Erscheinungstermin: Februar 2021


 38 | ZUKUNFT  MINESWEEPER. LAUDATIO AUF SIMON SAILER  VON THOMAS BALLHAUSEN IV. Die Wirksamkeit völlig neuer, geradezu unerklärlicher  Ordnungen wird in Simon Sailers Novellen auch dadurch ak-tiviert, dass die so akribisch nacherzählten Katastrophen, die sich sukzessive verschlimmernden Ereignisse schon ereignet haben – „es ist ja alles längst geschehen“. Der unstete Frie-de währt somit eine Buchlänge während sich der Schrecken, selbst auch Ausdruck von Geflecht und Vielfalt, kontinuier-lich weiter ausbreitet. Hand in Hand geht dies, ganz im Sin-ne von Sailers Referenzen Franz Kafka, Nikolai Gogol, J.D. Salinger oder auch Stephen King, mit einem Erzählen über das Erzählen, dem schon erwähnten Ansetzen im Grenzbe-reich zwischen Fakt und Fiktion. Von hier aus entwickelt Si-mon Sailer seine Literatur der detailreichen Beobachtungen und treffenden Formulierungen, eine Literatur, der ich auch in Zukunft mit Interesse folgen werde.  Wenn ich Simon Sailer also kennenlernen darf, dann hof- fe ich, ihn so klug, charmant, reflektiert, humorvoll und nicht zuletzt im besten Sinne unterhaltsam wie seine Texte finden zu dürfen. Wenn sich das aber so nicht einlösen sollte, Simon Sailer als so gar nicht wie sein Werk sein sollte, so wird das meinen Blick darauf aber nicht im Geringsten schmälern.    THOMAS BALLHAUSEN lebt als Autor, Kultur- und Literaturwissenschaftler in Wien und Salz- burg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig.  Zuletzt erschien sein Buch  Transient. Lyric Essay (Edition Melos, Wien). 


 ZUKUNFT | 39  GLORIA DIMMEL Bild 8 © Gloria Dimmel


 40 | ZUKUNFT  Wer sich vor zehn Jahren für alte ägyptische Schriften in- teressierte, kannte Leo Buri. Heute will sich niemand mehr an ihn erinnern. Das heißt: abgesehen von mir. Manchmal frage ich auf einem Kongress oder bei einem Vortrag von je-mandem, der ihn gekannt haben muss, nach dem freundli-chen Kauz und erhalte ausweichende Antworten. Er sei ge-storben, ins Ausland verzogen oder man habe den Namen niemals gehört. Leo hatte die Gabe, selbst jene für alte Schriften zu inte- ressieren, denen im Grunde alles Alte zuwider war. Ich durf-te einmal erleben, wie er zu meinem Freund Peter Kneiff fast einen ganzen Abend lang von einer mittelalten nubischen Hieroglyphe sprach. Peter vertrat mir gegenüber immer die Ansicht, erst wenn die Probleme der gegenwärtigen Gesell-schaft gelöst wären, dürfe man sich mit denen lange unterge-gangener Kulturen befassen. Auf die Möglichkeit hingewie-sen, man könne aus den Fehlern der Alten lernen, gestand er diesen einen Punkt naserümpfend und ohne Überzeugung zu. Mit Leo aber plauderte derselbe Peter stundenlang über die Mischung von Laut- und Bildschrift und über das Be-dürfnis, ein wichtiges Ereignis für die Nachwelt festzuhalten. Nie habe ich Peter so angeregt ins Gespräch vertieft gesehen wie an jenem Abend, voll kindlich neugieriger Fragen und ungestüm gestikulierend. Plötzlich schien ihn das alte Ägyp-ten sehr viel anzugehen, und dabei wollte er, glaube ich, gar nichts aus der Vergangenheit lernen; eher hatte ich den Ein-druck, er wollte es einfach wissen. Es kommt mir deshalb auch nicht wie ein Zufall vor, wenn Peter sich als einziger meiner Bekannten noch an Leo erinnerte und er derjenige war, der mir von Leos Verschwinden berichtete. Trotzdem hatte der Bericht Löcher, die zu stopfen Peter  nicht bereit war. Vor allem ging aus seiner Erzählung nicht hervor, woher er das alles so genau wusste. Hatte er noch Kontakt zu Leo? Dazu wollte Peter nichts sagen und meinte sogar, er könne es nicht. Jetzt kann er es wirklich nicht mehr, weshalb es an mir ist, zumindest das weiterzugeben, was er preisgab. Die Erzählung mag unwahrscheinlich klingen, tat-sächlich stützen aber die Dokumente, die ich in Peters Nach-lass fand, diese Version der Ereignisse. Es handelt sich da-bei vor allem um Schriften und Zeichnungen von Leo selbst, Briefe von Leo an seine Frau sowie Zeitungsartikel und Fo-tografien. Falls es direkt an Peter adressierte Briefe gegeben haben sollte, waren sie verschollen. Leo Buri arbeitete damals im Archiv des Instituts für  Ägyptologie in Wien. Seine Aufgabe bestand darin, relevante Zeitungsartikel zu sammeln und abzuheften sowie Digitali-sierungen von Keilschriften, Hieroglyphen und meroitischen Schriftrollen anzufertigen und zu katalogisieren. Allerdings, so sehr ihn die Nähe der alten Texte auch ehrte, die er als Zeitreisende, Botschafter einer untergegangenen Vergangen-heit betrachtete, mehr als ihre stoffliche Erscheinung inter-essierte Leo Schrift selbst. Deshalb erledigte er die archiva-rischen Pflichten zwar stets ordentlich, aber rasch, um sich dann seiner eigentlichen Leidenschaft zuzuwenden. Wenn ihn eine Schrift besonders reizte, fertigte er auf eigene Kos-ten zusätzliche Ausdrucke an, auf denen er Symbole einrin-gelte, Verbindungslinien zeichnete und gezielt Buchstaben oder Teile von Buchstaben nachzog, um ihre Form zu be-tonen. Oft fertigte er von den bearbeiteten Drucken Kopien an, um sie mit einer weiteren Schicht zu bekritzeln. Ein Vor-gang, der sich Dutzende Male wiederholen konnte. Bei einer Abendgesellschaft hatte ich einmal Gelegenheit, einen Blick auf ein solches vielfach beschichtetes Blatt zu werfen. Die  DIE SCHRIFT (AUSZUG)  VON SIMON SAILER Die Schrift (Auszug) Der österreichische Autor  SIMON SAILER  wurde 2021 für seine Novelle  Die Schrift mit dem Clemens-Brentano-Preis der  Stadt Heidelberg ausgezeichnet. Wir veröffentlichen einen Auszug aus dieser Erzählung, die thematisch und in der Anlage ihres tragischen Helden an Traditionen der Romantik als auch der literarischen Moderne anschließt.


Faszination, welche der Anblick in mir auslöste, musste mir anzusehen gewesen sein, denn Leo überließ es mir mit dem Hinweis, es handle sich um eine frühe Iteration. Ich verwah-re den Druck noch heute sorgfältig in meinem Schreibtisch und behandle ihn wie eine seltene Grafik eines zu Unrecht unbekannten, verstorbenen Künstlers. Leo erforschte übrigens nicht den Inhalt der Texte. Für  die Lebensweise der Ägypter interessierte er sich nur so weit wie zur Enträtselung der Bildzeichen nötig. Er wollte aus den alten Texten etwas über Schrift erfahren, und zwar nicht nur über ägyptische, sondern über jede Schrift. Er sprach zuwei-len von seinem Vorhaben, eine eigene Bild-Lautschrift der Neuzeit zu entwickeln, und hielt deshalb immer nach cha-rakteristischen Bildern der Zeit Ausschau. »Es überrascht Sie vielleicht, aber die Faust ist immer noch das elementa-re Symbol unserer Kultur« und dergleichen Sentenzen pfleg-te er von sich zu geben. Oder er entdeckte etwas, das ihn sichtlich überraschte: einen Aschenbecher, in dem eine Zi-garette abbrannte, deren aschene Spitze herunterhing wie der Stab eines Seiltänzers. Dann zog er sein Notizbuch hervor und zeichnete mit kurzen, schnellen Linien eine Skizze. Er war ein geübter Zeichner, und obwohl er den Stift fast hek-tisch über das Papier schickte, ließ er kein Detail aus, nicht den Glanz der Keramik und nicht den Schattenwurf der Aschestange. Besonders gut traf er in seinen Zeichnungen die Oberflächen. Ein paar Striche, und man verstand, dass man es mit einem Stück Stoff oder mit der Maserung eines Hol-zes zu tun hatte. Für mich waren diese Skizzen kleine Kunst-werke, aber ihm waren sie nur Ausgangspunkt, Vorstufe zur eigentlichen Arbeit. Am nächsten Tag im Archiv vereinfachte und abstrahierte er sie und gelangte derart zu einem schlich-ten Symbol. So schloss er den Vorgang vorläufig ab. Ich sage vorläufig, weil das Symbol in einer Kiste landete, wo es dar-auf wartete, in das sich ständig erweiternde Schriftsystem ent-weder integriert zu werden oder in der Schublade der ver-worfenen Symbole zu enden, aus der kaum eines je entkam. Nebenbei bemerkt arbeitete Leo fleißig, und noch in der  Freizeit kreisten seine Gedanken um die Schriften. Dennoch klappte er allabendlich um fünf vor vier die Mappen zusam-men und verstaute sie in seinem Schrank in der Archivecke. Er hatte vier tiefe Laden und darauf etwas Platz für Ord-ner, mehr brauchte Leo nicht. Die Originale holte er täg-lich neu aus der Bibliothek und die Fotografien benötigten wenig Platz. Die unbeschriebenen druckte er nicht einmal aus, sondern sammelte sie auf einer externen Festplatte, die  über ein Netzteil separat mit Strom versorgt wurde und beim Laden ratterte und brummte. Alle Dateien hatte Leo nach Schriftsystemen und Epochen sortiert und auf entsprechend benannte Ordner verteilt. Kurz vor vier fuhr er seinen Com-puter herunter, steckte die Festplatte aus, rollte die Strom-kabel ein und schloss alles zusammen in den Schrank. Sei-ne Arbeit bedeutete ihm die Pyramiden von Gizeh und den Leuchtturm von Alexandria, aber er verstand wohl, dass sich außer ihm kaum jemand dafür begeisterte. Ich habe mich oft gefragt, wie manche Leute jahrelang einer Arbeit nachgehen können, für die sie höchstens die Anerkennung eines winzi-gen Kreises erhoffen dürfen. Wer keinen Ruhm erwartet, ist gegen sein Ausbleiben immun. Eine bessere Erklärung habe ich nicht – ich irre letztlich ohne Karte durch ein Labyrinth. Um Punkt vier also trat Leo den Heimweg an, um für  seine Frau Stefanie, die länger arbeitete als er, Abendessen zu kochen. Seine Frau war Ressortleiterin für Innenpolitik bei einer großen Tageszeitung und kam jeden Abend später als geplant und erschöpft nach Hause. Leos Arbeit war leicht und machte ihm Spaß, weshalb es sich gut anfühlte, ihr zu-mindest das Vergnügen frischer Eiernockerln, eines Strudels oder eines bunten Salats zu bereiten. Wenn sie den gedeckten Tisch sah, weiteten sich ihre Augen und sie drückte Leo und küsste ihn auf den Mund. Eines Morgens fand Leo auf seinem Schreibtisch eine  Nachricht. Der Brief lag ohne Kuvert auf dem Tisch, war ungefaltet und vom Druck noch warm. Leo fragte Kerstin Stummer, die Archivarin und die Einzige, die um diese Zeit schon arbeitete, ob sie etwas über das Schreiben wisse. Sie sagte, der Zettel sei hinterlegt worden, aber von wem könne sie nicht sagen. Wie das möglich sei, wollte Leo wissen. »Es war doch  vor Ihnen niemand hier, und gestern bin ich als Letzter gegangen.« »Der Brief lag auf dem Platz, als ich kam«, sagte Kerstin. Leo hätte sich über die Sache nicht weiter gewundert,  wenn der Inhalt des Briefes nicht so eigenartig gewesen wäre. Eine Anrede fehlte, und es stand nur ein Satz: Bin in den Besitz einer alten Schrift gelangt, die Sie interessieren  muss. Kommen Sie nach Ihrer Arbeit zum Donaukanal.  ZUKUNFT | 41 


 42 | ZUKUNFT  DIE SCHRIFT (AUSZUG)  VON SIMON SAILER Keine Unterschrift. Leo faltete das Blatt zweimal sorgfäl- tig und steckte es in die Sakkotasche. Der Befehlston gefiel ihm nicht. Offenbar wollte ihm jemand etwas verkaufen, ein Dieb vielleicht, ein Grabräuber. Aber warum wendete sich der oder die Unbekannte an ihn? Er verdiente wenig. Jeden-falls wusste, wer immer den Brief geschrieben hatte, wie lan-ge Leo arbeitete und auch, dass er einer alten Schrift nicht widerstehen konnte. Beides war kein Geheimnis. Leo überlegte, ob er sich Verstärkung holen sollte, jeman- den ins Vertrauen ziehen. Er wunderte sich, dass das Treffen so spät angesetzt war. So könnte er den ganzen Tag nutzen, um Vorkehrungen zu treffen. Vielleicht wurde er beobach-tet und der Deal würde platzen, wenn er das Haus früher ver-ließe als sonst. Leo überlegte, die Polizei einzuschalten, aber bislang war nichts Illegales geschehen. Außer es handelte sich tatsächlich um ein Angebot zum Verkauf eines gestohlenen Schriftstücks. Aber bewies der Brief das bereits? Da fiel ihm Peter ein, den er hin und wieder traf. Leo  hatte das Gefühl, die Archivarin würde zu ihm herüberschie-len. Er legte den Brief zur Seite und tat, als vertiefe er sich in seine Arbeit. Ganz so, als wäre der Brief eine bereits vergesse-ne Nebensache. Nachdem er zwanzig Minuten dahingewer-kelt hatte, unfähig sich recht zu konzentrieren, ging er auf die Toilette und wählte Peters Nummer. »Hallo, alter Ägypter«, meldete sich Peter. »Hallo, Peter«, flüsterte Leo und räusperte sich. »Bist du krank?« »Ich bin auf der Toilette und kann nicht frei sprechen.« »Du klingst gehetzt.« »Ich brauche deine Hilfe, Peter, zumindest deinen Rat.« Peter erklärte sich zu allem bereit. »Auf meinem Schreibtisch«, sagte Leo, »lag diesen Mor- gen ein Brief. Jemand bietet mir eine ›alte Schrift‹ an. Ich soll nach der Arbeit zum Donaukanal kommen.« »Sonst nichts?« »Keine Anhaltspunkte, keine Anrede, keine Unterschrift.« Peter gab zu, dass es seltsam war.»Soll ich die Polizei verständigen?« »Wo am Donaukanal ist der Treffpunkt?« »Steht dort nicht.« »Dann folgt dir jemand von der Arbeit.« »Meinst du?« Leo sah sich um. »Sonst könnten sie dich nicht finden.« »Du glaubst, es sind mehrere?« »Das habe ich nur so gesagt.« »Peter, bist du noch dran?« »Warte, ich denke.« Leo wartete. »Wir machen es so«, sagte Peter schließlich. »Du machst  einfach deine Arbeit wie immer und verlässt das Haus wie immer. Das ist um vier, nicht?« »Punkt vier, ja.« »Dann gehst du zum Donaukanal, und zwar zu dieser  Stelle gegenüber der Urania.« Peter schnalzte ein paar mal schnell und leise mit der Zunge. »Ich werde im Café Ura-nia sitzen und mir die Sache ansehen. Wenn etwas schiefgeht, gibst du mir ein Signal und ich verständige die Polizei.« »Was für ein Signal?« »Du streckst dich einfach«, schlug Peter vor. »Als wärst du  müde und verspannt, die Arme hoch über den Kopf, damit ich es gut sehe.« Leo willigte ein, fragte noch, ob alles gut gehen würde.  Peter beruhigte ihn, er müsse sich keine Sorgen machen, er werde vorher die Gegend erkunden, es bestehe keine Gefahr.


 ZUKUNFT | 43  Auch den Rest des Tages hatte Leo Schwierigkeiten, sich  zu konzentrieren. Die Archivarin räumte Dokumente von einem Schrank in den anderen und saß ansonsten an der Re-zeption und las Facebook. Manchmal lachte sie auf. Dann hatte ihr ein Tiervideo besonders gefallen; ihre Wall war vol-ler Tiervideos. Abgesehen von Karin war nur Professor Kinnel im Ar- chiv, eine Spezialistin für meroitische Schrift: eine junge Schrift, die den Bildcharakter der ägyptischen Hieroglyphen abgelegt hat und Buchstaben mit Silbenzeichen kombi-niert. Die Schrift hatte man decodiert, aber man verstand die Sprache nicht. Kinnel redete immerzu davon, die me-roitische Sprache zu entschlüsseln. Ihre Vorlesungen drehten sich dementsprechend hauptsächlich um linguistische Fragen. Manchmal aß Leo mit ihr in der Kantine zu Mittag und ließ sich von den Fortschritten berichten. Anscheinend näherte sie sich der Lösung des Problems. Soweit ich weiß, nähert sie sich noch heute. Die Schwierigkeit liegt vor allem da-rin, dass wir so wenig über das Leben der Meroer wissen. Manchmal frage ich mich, ob eines Tages Archäologen ei-ner fernen Zukunft die Trümmer unserer Hochkultur unter-suchen und angesichts der Flut von Dokumenten und Daten an der kryptischen deutschen Sprache verzweifeln werden. Und dann gäbe es eine wie Greta Kinnel, die es sich in den Kopf setzen würde, die Facebook-Wall von Kerstin Stummer zu begreifen. Heute aß Greta auswärts mit einer Freundin. Das tat sie  sonst nie, und Leo fragte sich, ob ihr Verhalten mit dem Brief zusammenhängen mochte. Womöglich steckte sogar sie hin-ter der Sache. Andererseits hasste die brave Forscherin Ge-heimnisse. Wobei – Leos Augenlid zuckte – die besten Ge-heimnistuerinnen wohl eben diesen Eindruck zu erwecken verstanden. Eine Fliege setzte sich auf die Fotografie einer demoti- schen Hieroglyphe. Leo wischte mit der flachen Hand über das Blatt, wobei ein frischer Strich verschmierte. Die Flie-ge wich aus, zeichnete eine Acht in die Luft und setzte sich diesmal auf Leos Arm. Als Kind konnte er Fliegen erschla-gen, aber aus irgendeinem Grund gelang es ihm nicht mehr. Entweder waren die Fliegen schlauer und schneller geworden oder er langsamer. Er ließ die Fliege an seinem linken Unter-arm lecken und zeichnete sie dabei. Kein schlechtes Schrift-zeichen, eine Fliege, dachte Leo. So vertrieb er sich den Tag, zeichnete schließlich noch das  Muster der Deckenpaneele und die Maserung des Schreibti-sches. Zwanzig vor vier kribbelten seine Beine, und er musste auf und ab gehen, um sich davon abzuhalten, früher einzupa-cken als gewohnt. Die Fliege lag am Fensterbrett, die Bein-chen steif verschränkt nach oben gestreckt. Leo fiel ein, dass er sich zu Hause verspäten würde und nicht kochen könn-te. Er schrieb seiner Frau eine vage Textnachricht, verschloss die Sachen im Schrank und schlüpfte in seine für die Jahres-zeit eigentlich zu warme Daunenjacke. Er verabschiedete sich freundlicher als sonst von der Archivarin und Professor Kin-nel, die ebenfalls freundlicher als sonst zurückgrüßten. Trotz des kühlen Windes saßen an jenem Oktobernach- mittag noch Menschen vor den Cafés auf den Straßen. Es war vom Institut aus nur ein kurzer Fußweg zur Urania, wo der Wienfluss in den Donaukanal einmündete und immer ein paar Fischer verseuchte Karpfen aus dem Wasser zogen. Leo sah mit Sorge einen alten Bekannten auf ihn zukommen. Er kannte Walter Immensteiner noch aus der Studienzeit und war gelegentlich bei ihm zum Tee. Immensteiner war Histo-riker, sie hatten zusammen ein Seminar über untergehende Hochkulturen besucht. Leo interessierten die Ägypter, Im-mensteiner vor allem das Römische Reich. Leo hob die Hand, als Immensteiner in Rufweite kam,  und begrüßte ihn. »Leo«, grüßte Immensteiner zurück und erkundigte sich  nach dessen Befinden und Bestimmungsort. »Es geht mir ausgezeichnet«, sagte Leo. »Ist es nicht ein  wunderbarer Tag für einen Spaziergang?« Er wollte schon weitergehen, doch dann besann er sich seiner Höflichkeit: »Und selbst? Was treiben die Kinder?« Immensteiner bestätigte die eigene Gesundheit und be- richtete knapp von seiner Tochter, die gerade einen Preis beim Fußball gewonnen hatte. Dann blickte er bekümmert auf seine Uhr, klopfte zweimal dagegen und verabschiede-te sich, zu Leos großer Erleichterung. Schon im Fortgehen drehte er den Kopf über die Schulter und sprach eine Einla-dung zum Tee aus: »Nächsten Sonntag um fünf?« »Vielleicht kommt auch meine Frau«, sagte Leo und ging  seines Weges.


 44 | ZUKUNFT  DIE SCHRIFT (AUSZUG)  VON SIMON SAILER Kurz nach vier. Es gab keinen Grund, sich zu hetzen. Als  er die Urania passierte, bemühte er sich, nicht verstohlen in Richtung Terrasse zu blicken, wo Peter hoffentlich schon in Stellung saß. Leo ging langsam, den Blick nach vorne ge-richtet. Die Daunenjacke spannte am Nacken, und er hät-te sich fast gestreckt und dadurch, ohne es zu wollen, das Signal gegeben. Er schüttelte den Kopf, um sich aufzuwe-cken, ging über die Brücke, die Rampe hinunter, die zum Kanal führte, und setzte sich auf eine Parkbank. Der grüne Lack war an einigen Stellen abgesplittert und abgerieben. In das freiliegende Holz hatten wahrscheinlich Jugendliche Bot-schaften und Symbole geschnitzt. »S+L forever«, Stefanie und Leo, schmunzelte Leo. Nicht unwahrscheinlich, dass unter den zahllosen Initialen passende dabei waren. Er fand auch »L+P«, Leo und Peter. Eine bieder aussehende Frau kam geradewegs auf die  Bank zu. Sie bewegte sich steif und trug das Haar hochge-steckt. Leo glaubte einen Moment, Greta Kinnel zu erken-nen, aber diese Frau hatte ein dünneres Gesicht und war grö-ßer als die Kollegin. Eigentlich ähnelte sie Professor Kinnel nicht im Geringsten, sondern ging nur wie sie. Leo war kurz-sichtig und verabsäumte es schon seit einer Weile, seine Bril-le anzupassen. Deshalb konnte es vorkommen, dass ihn Per-sonen aus der Ferne an jemanden erinnerten, mit dem sie aus der Nähe betrachtet keinerlei Ähnlichkeit verband. Die Frau setzte sich neben ihn auf die Bank, faltete um- ständlich eine Ausgabe der Zeit auf und vertiefte sich in den Wirtschaftsteil. Das Feuilleton legte sie zwischen Leo und sich auf die Bank. Die Schlagzeile lautete: »Umstrittene Aus-stellung in Kairo«.  »Können Sie mir sagen, wie spät es ist?«, erkundigte sich  Leo. Die Frau warf einen Seitenblick auf seine Uhr, bevor  sie auf die ihre sah, Auskunft gab und ein Stück von Leo wegrutschte. »Beschäftigen Sie sich mit Ägypten?«, fragte er weiter, in- dem er auf den Zeit-Artikel zeigte. »Nein … ach so, nein.« Leo war sein Verhalten plötzlich unangenehm. Die Frau  musste denken, er wolle sie kennenlernen. Er hätte so tun  können, als würde er seine Uhr stellen, kam es ihm. Vermut-lich hätte das nichts geändert. Die dumme Frage nach Ägyp-ten. Am liebsten wollte er gehen, aber damit hätte er das schiefe Bild nur verfestigt. Außerdem musste er in der Ge-gend bleiben, und das würde erst recht unheimlich wirken. Er entschied sich für die Flucht nach vorne: »Darf ich?«  Leo griff nach dem Feuilleton. »Bitte«, sagte die Frau. Leo las den Artikel, ab und zu aufsehend, um festzustel- len, ob sich jemand näherte. Es näherte sich niemand: Ein Pärchen spazierte vorbei, Jogger liefen den Kanal entlang und scheuchten die Tauben auf, die Krümel vom Beton pickten. Der Artikel berichtete von einer Ausstellung im Ägyptischen Museum in Kairo, die Raubgut zeigte, welches Archäologen in Zusammenarbeit mit internationalen Behörden zurückzu-holen gelungen war. Der Druck des Artikels wirkte fleckig, die Buchstaben waren unterschiedlich dick. Gerne hätte Leo seinen Kugelschreiber hervorgezogen und in den Text Her-vorhebungen eingefügt. Er dachte an den Stift in seinem No-tizbuch, aber seine Banknachbarin hielt ihn auch so schon für verrückt genug. Er sah verlegen auf die Uhr: schon fast fünf. »Dürfte ich diese Seite vielleicht mitnehmen?«, fragte Leo. »Darf ich sehen?« Sie beugte sich vor. »Das Feuilleton  können Sie nehmen, das lese ich nie.« Leo bedankte sich und stand auf, rollte die Zeitung ein  und klemmte sie unter den Arm. Er wich einer besonders hurtigen Joggerin aus, schlenderte ein wenig flussabwärts und kehrte, als nichts passierte, zur Urania zurück. SIMON SAILER  wurde 1984 in Wien geboren, wo er nach Aufenthalten in Berlin, Prag  und Paris wieder lebt. Er studierte Philosophie in Wien und Paris sowie  Art and Science an der  Universität für Angewandte Kunst Wien.   Seit 2017 literarische Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien.  2019 erschien sein Debütroman  Menschenfisch (Müry-Salzmann),   2020 die Erzählung  Die Schrift, für die er mit dem Clemens-Brentano- Preis 2021 ausgezeichnet wurde, 2021 folgte die Erzählung  Das Salzfass  (beide Edition Atelier). Der Abdruck des Textauszugs erfolgt   mit freundlicher Genehmigung der  Edition Atelier, Wien.


 ZUKUNFT | 45  Untitled 4 © Gloria Dimmel GLORIA DIMMEL


 46 | ZUKUNFT  Pussy Pairs 04 © Achse Verlag


 ZUKUNFT | 47  GLORIA DIMMEL Pussy Pairs 04© Achse Verlag


 48 | ZUKUNFT  Frauenmuseum Hittisau – Ausstellung© lamprecht.biz


 ZUKUNFT | 49  GLORIA DIMMEL


 50 | ZUKUNFT  VERANSTALTUNGSANKÜNDIGUNG DIENSTAG, DER 21. SEPTEMBER 2021, 18:30 UHR: 75 JAHRE ZUKUNFT Anlässlich des Jubiläums der ZUKUNFT, die nun seit 75  Jahren erscheint, werden wir mit kompetenten Gästen die Geschichte unserer Zeitschrift, ihren (politischen) Aktuali-tätsbezug und auch die Zukunft der ZUKUNFT diskutieren. Dabei soll es um die Rolle und Funktion unserer Diskus-sionszeitschrift im Rahmen der Sozialdemokratie genau-so gehen wie um progressive Ideologie und Programma-tik. Welche Themen soll die ZUKUNFT aufnehmen? Welche Impulse sind nötig, um die Sozialdemokratie neu auszurich-ten? Wir laden unsere Leser*innen dazu ein, sich einzubrin-gen, Fragen zu stellen und mitzudiskutieren! DIENSTAG, DER 19. OKTOBER 2021, 18:30 UHR: GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE Seit jeher ist die Frage nach der (Un-)Gerechtigkeit der  Geschlechterverhältnisse eine, welche die Sozialdemokra-tie mit großem Engagement verfolgt. Geschlechtergerech-tigkeit ist auf so vielen Ebenen ein prägendes Thema, dass es aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet werden kann und muss. Diese Ausgabe der ZUKUNFT und die da-mit verbundene Diskussion stellt daher verschiedenste Fa-cetten dieser Thematik in den Mittelpunkt und zeigt auf wie vielschichtig der Diskurs sein muss, um nachhaltige Ände-rungen und Verbesserungen erzielen zu können. Wir freuen uns auf ein hochkarätiges Podium! Auf dem Weg in die   ZUKUNFT! Nähere Informationen und die Links zur jeweiligen Veranstaltung unter:  https://diezukunft.at/veranstaltungen/


 ZUKUNFT | 51  BESTELLUNG Kupon ausschneiden& einsenden an: VA Verlag GmbHKaiser-Ebersdorferstrasse 305/31110 Wien ICH BESTELLE "EIN LIED BEWEGT DIE WELT"7,90 € INKL. MWST ZZGL. VERPACKUNG UND VERSAND 2,00 € NAME: _________________________________________________________________ STRASSE: _______________________________________________________________ ORT/PLZ: _______________________________________________________________ TEL.: ______________________________ E-MAIL: _____________________________UNTERSCHRIFT: _______________________ ODER BESTELLUNG PER E-MAIL AN DEN VERLAG: OFFICE@VAVERLAG.AT SOLANGE DER VORRAT REICHT KAUM EIN ANDERES SYMBOL EINT DIE INTERNATIONALE ARBEITERBEWEGUNG SO STARK, WIE DIE 1871 IM NACH-REVOLUTIONÄREN PARIS VERFASSTE „INTERNA-TIONALE“. IM ANGESICHT DER NIEDERLAGE DES FRANZöSISCHEN PROLETARIATS, WÄHREND TAUSENDE KÄMPFERINNEN UND KÄMPFER DER COMMUNE VON DER REAKTION ERMORDET WURDEN, MACHTE SICH, ÄNGSTLICH IM VERSTECK SITZEND, EUGENE POTTIER DARAN EIN TROTZIGES, HOFFNUNGSFROHES KAMPFLIED ZU SCHREIBEN. SO ENTSTAND NICHT NUR DIE WELTWEITE HYMNE EINER STOLZEN BEWEGUNG, SONDERN EIN KAMPFLIED VON MILLIONEN BEWUSSTER ARBEITNEH-MERINNEN UND ARBEITNEHMER AUF DER GANZEN WELT.


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