10/2020KULTURKRITIK UND NEOLIBERALISMUSSEIT 19465,– Euro P.b.b. Abs.: Gesellschaft zur Herausgabe der Zeitschrift ZUKUNFT,Kaiserebersdorferstrasse 305/3, 1110 Wien, MZ 14Z040222 M, Nr. 10/2020Auf der StreckeZarah WeissDer EselMichael ScharangKulturelle EmanzipationJulian KroyerKulturhedonismus trotz KriseKarin Moser


 EDITORIALGerade angesichts der COVID-19-Pandemie scheint die Frage im Raum zu stehen, ob der neoliberale Kapitalismus nunmehr ans Ende des – von Francis Fukuyama dereinst prognostizier-ten – Endes der Geschichte gelangt ist. Seit geraumer Zeit wer-den die inneren Widersprüche seiner Logik theoretisch und praktisch in Frage gestellt, was auch mehrfach mit verschiede-nen Formen der Kulturkritik in Zusammenhang stand. Gera-de im Blick auf die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung wird damit erneut deutlich, dass die neoliberale Orientierung an der (unternehmerischen) Individualität nunmehr an ihre buchstäblich  kollektiven Grenzen stößt. Deshalb hat sich die Redaktion der ZUKUNFT entschlossen, dem Thema Kultur­kritik und Neoliberalismus eine eigene Ausgabe zu widmen. Da-bei wird ein theoretischer Reflexionsrahmen eingebracht, der in der Folge auch durch literarische Durcharbeitungen präzi-siert wird.Der Reigen beginnt mit einem Beitrag von Alessandro  Barberi, der das derzeitige Feld von Digitaler Biopolitik und notwendiger Lebensrettung absteckt, um deutlich zu machen, dass nur eine neue Form von Gemeinschaft und Gesellschaft uns am Ende der Krise die Möglichkeit geben wird, aus dem Scheitern des Neoliberalismus wirklich zu lernen. Denn an der Grenze von Leben und Tod insistiert derzeit das Virus im Sinne einer harten materiellen Naturgewalt, die gleich-zeitig und fataler Weise den Blick auf die dahinterliegende fundamentale Wirtschaftskrise verstellt. Insofern stellt sich die Frage, wie Emanzipation, Freiheit und Widerstand künftig in-dividuell und kollektiv artikuliert werden können, um einer anderen Gesellschaft Platz zu machen, in der eben nicht mehr die „nackte Gier“ regiert.Genau diese Widerstandslinie untersucht dann auch Julian Kroyer, der betont, dass soziale und kulturelle Emanzipation seit jeher damit verbunden sind, eine Gegenkonstruktion von Identität ins (politische) Spiel zu bringen. Gerahmt von Anto-nio Gramscis Hegemonietheorie erläutert der Autor im Blick auf Tsenay Serequeberhan und die Geschichte Afrikas, dass die aktuellen Formen des Neoliberalismus den Endmäander einer Entwicklung darstellen, der mit Kolonialismus und Im-perialismus seit jeher die brutale und versklavende Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise begleitete. Dabei zeigt er etwa an der Harlem Renaissance der amerikanischen 1920er Jahre, dass auch die kulturkritische Emanzipation (hier von Schwarzen) uns ein Vorbild sein kann, wenn es darum geht, eine progressive Hegemonie in Aussicht zu stellen.Die Historikerin Karin Moser stellt in ihrem Artikel Kon­sumhedonismus trotz Krise angesichts der COVID-19-Pandemie den österreichischen Werbefilm ins Zentrum ihrer Überle-gungen und kommt so ebenfalls auf die 1920er Jahre – nun in der österreichischen Geschichte – zu sprechen. Denn anhand ausgewählter Beispiele aus der Zwischenkriegszeit arbeitet sie Produktions- und Rezeptionsmuster ebenso schlüssig heraus wie die thematische Ausgestaltung der Werbestreifen, die der (neoliberalen) Aktualität nicht entbehren. Die Indienstnahme des damals noch recht jungen Mediums Film ging nicht zu-letzt mit der Bewerbung von Produkten einher, die für den Großteil des Publikums mitunter nur schwer oder auch gar nicht erschwinglich waren. Auch geht es bereits in diesem historischen Zusammenhang um einen kleinbürgerlichen Ha-bitus, der angesichts der heutigen Krise des Neoliberalismus mehr als weit verbreitet ist.Kulturkritik und  NeoliberalismusALESSANDRO BARBERI UND THOMAS BALLHAUSEN


 ZUKUNFT | 3  In ihrer kulturkritischen Erzählung Auf der Strecke macht in der Folge auch die Autorin Zarah Weiss den Titel zum Pro-gramm: In deutlicher Bezugnahme zum posthum veröffent-lichten Text Mary Ventura and the Ninth Kingdom der US-ame-rikanischen Dichterin Sylvia Plath und unter Einbindung so diverser Impulsgeber wie Heinrich Heine oder auch Paul Viri-lio schildert sie anhand einer symbolisch bedeutsamen Zugreise eine Gesellschaft, die sich dem Leben auf der sprichwörtlichen Überholspur verschrieben hat. Gier, Konkurrenz und Rück-sichtslosigkeit kennzeichnen auch die von Weiss kritisierte (neoliberale) Gesellschaft, die auf Kosten der Schwächeren und Unterdrückten ihr Programm ungebremster Beschleunigung und Rücksichtslosigkeit umsetzt.Eine ähnliche Tonlage schlägt auch Thomas Ballhausen in seinem dystopischen Text Kummerbund an. Der bewusst mehr-fach zu lesende Titel weist auf die Pervertierung eines eigent-lich notwendigen gesellschaftlichen Vertrags hin, der von den Mächtigen missbraucht wird: Im Zentrum der Erzählung steht ein namenloser Protagonist, der beruflich wie auch privat un-ter Druck gerät und in den Wirren einer allgemeinen Krisen-situation unterzugehen droht. Getragen vom Taktgeber eines fiktiven Ratgebers zur permanenten (neoliberalen) Selbstopti-mierung läuft Ballhausens Figur Schritt für Schritt in Richtung Untergang, bis das zu hinterfragende, kaum greifbare System ihn zum Komplizen der eigenen Niederlage gemacht hat.Es ist der Redaktion der ZUKUNFT zum Ende hin eine große Freude, dass Michael Scharang zugestimmt hat, einen Auszug aus seinem nächsten Roman Der Esel präsentieren zu dürfen. Es handelt sich dabei um eine Erzählung, die in den letzten Jahren des 2. Weltkriegs einsetzt und so angesichts der „Teufel“ des Nationalsozialismus von berührender Widerstandskraft ist. Da-bei ist insbesondere hervorzuheben, dass in diese liebevolle Ge-schichte ein Datum eingelassen ist, dass für die österreichische Zeitgeschichte von besonderer Bedeutung ist. Ging es doch auch – wie heute – am 12. Februar 1934 angesichts des Kleri-kal- und Austrofaschismus um die Verteidigung der Demokratie. Eine mehr als notwendige Verteidigung, die auch angesichts der heutigen politischen Verhältnisse von großer Dringlichkeit ist.Einen herzlichen Dank wollen wir an dieser Stelle Dobroslav Houbenov aussprechen, der uns im Sinne von Creative Com­mons eine mehr als beeindruckende Bildstrecke zur Verfügung gestellt hat. Seine Terrorscans markieren angesichts unseres The-mas auch den Ausbau einer (neoliberalen und brutalen) Kriegs-maschine, die mit dem war on terror den gesamten sozialen Raum überflutet hat. Auf Seite 26 gibt uns der Künstler auch einen kurzen Einblick in die bemerkenswerten Produktions-bedingungen dieser Serie, um uns daran zu erinnern, wie stark der Krieg im Rahmen des Neoliberalismus (fast) nur mehr als mediales Simulakrum vor unseren Augen erscheint.Abschließend meint die Redaktion der ZUKUNFT angesichts der Problembereiche von Kulturkritik und Neoliberalismus interes-santes Diskussionsmaterial zur Verfügung gestellt zu haben und hofft dahingehend auch auf die Zustimmung ihrer Leser*innen. Wir wünschen Ihnen einen guten Rutsch ins neue Jahr 2021 und wenden uns dann auch mit einer neuen Ausgabe an Sie …ALESSANDRO BARBERIist Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Wien und Magdeburg. Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter:  https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/THOMAS BALLHAUSENlebt als Autor, Kulturwissenschaftler und Archivar in Wien und Salzburg. Er ist international als Herausgeber,  Vortragender und Kurator tätig.




InhaltIMPRESSUM Herausgeber: Gesellschaft zur Herausgabe der Zeitschrift »Zukunft«, 1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3 Verlag und Anzeigenannahme: VA Verlag GmbH, 1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3, office@vaverlag.at Chefredaktion: Caspar Einem, Ludwig Dvořak (geschäftsführend) Redaktion: Alessandro Barberi, Bernhard Bauer, Elisabeth Felbermair, Senad Lacevic, Philipp Oberhaidinger, Armin Puller, Thomas Riegler, Michael Rosecker, Jennifer Sommer, Artur Streimelweger, Anna Vukan Gastredakteur: Thomas Ballhausen Cover: Dobroslav Houbenov (2014) Terrorscan, American Flag in the Wind, © Dobroslav Houbenov6     Digitale Biopolitik und notwendige Lebensrettung   VON ALESSANDRO BARBERI12    Kulturelle Emanzipation und Konstruktion     von Identität   VON JULIAN KROYER16    Konsumhedonismus trotz Krise   VON KARIN MOSER22    Auf der Strecke   VON ZARAH WEISS26     Terrorscans   VON DOBROSLAV HOUBENOV 28     Kummerbund   VON THOMAS BALLHAUSEN32    Der Esel   VON MICHAEL SCHARANGDOBROSLAV HOUBENOV (2014) TERRORSCANAMERICAN FLAG IN THE WIND© DOBROSLAV HOUBENOV


 6 | ZUKUNFT Dass die Linke im Blick auf Corona in ein Pendeln zwischen Revolution und Apokalypse gerät, ist für ALESSANDRO  BARBERI Ausgangspunkt einer Analyse der digitalen Biopolitik im Neoliberalismus. Denn das Virus stellt eine Naturgewalt dar, die ganz materialistisch die menschlichen Interpretationen an der Grenze von Leben und Tod neutralisiert.Digitale Biopolitik  und notwendige  LebensrettungDIGITALE BIOPOLITIK UND NOTWENDIGE LEBENSRETTUNG VON ALESSANDRO BARBERISelig, wer diese prophetischen Worte vorliestund wer sie hört und wer sich an das hält, was geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe.Offenbarung des Johannes, Kapitel 1.3Also liegt nun der Inhalt des geheimnisvollen Buchs in voller Klarheit vor uns. „Johannes“ sagt die Rückkehr Neros ungefähr für das Jahr 70und seine Schreckensherrschaft voraus, die 42 Monate oder 1.260 Tage dauern soll. Nach dieser Zeitspanne erscheint Gott, überwältigt Nero, den Antichrist, zerstört die große Stadt durch Feuer und fesselt den Teufel für ein Jahrtausend. Das Tausendjährige Reich beginnt etc.Friedrich Engels: Das Buch der Offenbarung, London 1883I.  DIE LINKE ZWISCHEN REVOLUTION   UND APOKALYPSELuther – Das Neue Testament – Apokalypse© Wikimedia Commons (author: Catrin)Dass der Spätkapitalismus mit seiner breit angelegten De-regulationsstrategie seit rund dreißig Jahren das umkämpf-te Gebiet der Individualität und Subjektivität besetzt, wur-de mehrfach im Sinne einer Kritik am Neoliberalismus und seinen Schockstrategien argumentiert. Auch in diesem Zu-sammenhang pendelt, wie Georg Fülberth angesichts des 200. Geburtstags von Friedrich Engels jüngst in konkret in Erin-nerung rief, nicht nur der General, sondern die Linke insge-samt und erneut angesichts der Corona-Pandemie zwischen Revolution und Apokalypse, zwischen Durchsetzung einer neuen gemeinschaftlichen Ordnung und Weltuntergang. Sie untersteht damit nach wie vor der „Symbolischen Macht der 


Apokalypse“ (Christian Zolles). So machen die Jünger*innen des Giorgio Agamben in der derzeitigen Situation gar die ab-solute Zuspitzung des Schmittschen Ausnahmezustands aus, indem die Menschheit angeblich kollektiv auf das „nackte Leben“ (homo sacer) zurückgeworfen und die Krise zum Nor-malfall wird. Und seichte Foucaultianer*innen, die eine Re-duktion des Virus auf seine konstruktivistischen Anteile vor-nehmen, haben die endgültige biopolitische Durchsetzung der neoliberalen Regierungsmentalität vor Augen, wenn al-les gut geht und sie nicht schon selbst zum Teil dieser Menta-lität geworden sind.II.  AN DER GRENZE VON LEBEN UND TODDenn die normative Macht über Leben und Tod scheint nun angesichts der quantitativ vor Augen stehenden COVID-19-Mortalität kaum deutlicher hervortreten zu können als in der kollektiven Option für biopolitische Lebensverlängerung. So wird eine historische Linie zu Ende gebracht, die von Le-pra, Pest, Pocken, Spanischer Grippe und AIDS bis in unsere Lockdown-Gegenwart reicht und noch den heutigen Gesell-schaftszustand als „Kerkerstadt“ begreift. Dabei ist nicht ganz zu übersehen, dass auch der „rationale Kern linker Verschwö-rungstheorie“ (Peter Brückner) die blanke Materialität und Natur des Virus aus dem Blick drängen kann, ist er doch als biologische Tatsache und als „Reales“ der deutliche Grenz-wert menschlicher (De-)Konstruktionen. Das Virus insistiert als materielle Gegebenheit auch vollkommen ungeachtet der menschlichen Interpretationen bzw. Sinn- und Bedeutungs-zuschreibungen an der Grenze des Symbolischen. Des Wei-teren wird deutlich, dass „die Macht“ die derzeitige Situation nicht – ausgehend von einer panoptischen Zentrale – geplant haben kann, weil sie ihrerseits angesichts dieser „natürlichen Tatsache“ mit den eigenen internen Widersprüchen an die Grenze ihrer (vitalen) Existenzmöglichkeiten gebracht wurde. Insofern ist auch angesichts von Corona-Leugner*innen und rechten Verschwörungstheorien eine rationale und aufgeklär-te Kritik jeder paranoischen Weltsicht vonnöten. Zu raten ist uns allen also in Isolationszellen und selbst noch Isolierstatio-nen: Stay open minded and avoid paranoia!III.  EINE DIGITALE HÖLLENMASCHINEFreilich war etwa die Durchsetzung der menschlichen Ar-beits- und Lebenswelten durch und mit Kybernetik, Infor-mations- und Kommunikationstechnologien (IKT) sowie Di-gitalisierung ein Kernelement des möglichst präzisen Ausbaus der kapitalistischen Höllenmaschine im Sinne einer „tech-nologischen Konterrevolution“ (Hermann L. Gremliza), die einer ausbeuterischen Durchtaktung und Verknappung der Lebenswelt(en) entsprach. Insofern wurden mit den beiden Lockdowns nun annähernd alle Menschen auf die Notwen-digkeit gestoßen, digitale Medien zu nutzen, was durchaus den Vorstellungen aktueller Betriebswirtschafter*innen zu-gutekommen könnte, die etwa das home office begrüßen, weil es einem rentablen outsourcing entspricht. Die digitalisierten Arbeitsplätze und die Kommunikation(en) über Videokonfe-renzsysteme sind aus dieser Sicht der Endmäander einer In­dustrie 4.0, die aber auch zu einer Schule 4.0 werden könnte. Denn – zumindest dem Wunsche nach – waren die digitalen Medien mit dem Aufkommen des world wide web auch mit der Möglichkeit einer radikalen Demokratisierung und technolo-gischen Revolution aufgeladen, wie jüngst auch mit der Au-tobiografie von Edward Snowden deutlich wurde. Eine Re-volution, die sich nunmehr insofern ankündigt, als der Vampir des kapitalistischen Produktionssystems zwar auf den Finanz-märkten horrende Profite absaugt, nichtsdestotrotz auf der Ebene der Realwirtschaft eine der schlimmsten Wirtschafts-krisen seit Menschengedenken vor Augen steht.Das Virus ist aus dieser Perspektive nur oberflächliches Symptom einer mehr und mehr zerfallenden (sozioökonomi-schen) „Anatomie der Gesellschaft“ (Marx). Wir können da- ZUKUNFT | 7 Pest-AIDS-Projekt © Wikimedia Commons (author: AIMare)G. M. Siewert, Ärzte im Operationssaal, Ölbild© Wikimedia Commons (author: wdwdbot)


 8 | ZUKUNFT DIGITALE BIOPOLITIK UND NOTWENDIGE LEBENSRETTUNG VON ALESSANDRO BARBERIher die These und Prognose wagen, dass zwischen digitaler Biopolitik und aktuell notwendiger Lebensrettung der gravie-rende Charakter dieser Krise des Kapitalismus erst dann klar vor Augen steht, wenn das Virus durch das starke Sinken oder Verschwinden der Mortalität aus der individuellen und kol-lektiven Wahrnehmung verschwunden ist und sei es durch das Einsetzen eines sich ankündigenden Impfstoffs. Eben weil die Produktivität der Lebens- und Arbeitskraft mit den Lock-downs weitgehend gelähmt ist, kommt das kapitalistische Ge-triebe sozusagen hinter dem Virus also (fast) an einen Null-punkt, liegt damit erneut am Sterbebett und in zuckender Agonie. Mit Jean-Luc Godard gesprochen stehen wir mithin an einer nur scheinbar paradoxen Grenze, an der Sauve qui peut (la vie) – Rette sich, wer kann (das Leben) gilt und gleichzei-tig der Körper des Kapitalismus gerade nicht am Leben erhal-ten werden sollte. Denn nur in dieser aktuellen „Dialektik im Stillstand“ (Walter Benjamin) können die Toten der Corona-Pandemie nicht kausal auf das Wirtschaftssystem bezogen wer-den, das aber systematisch damit verbunden war, die öffentli-chen Gesundheitssysteme auszuverkaufen. Insofern brauchen wir öffentlich finanzierte Krankenbetten für alle, aber si-cher keines für die kapitalistische Produktionsweise. Applaus, Applaus!IV.  WIDERSTAND UND FREIHEITDoch wie zuvor kann angesichts der Zerstörung kollek-tiver Organisationen des Widerstands seit Reagan und That-cher nicht präzise ausgemacht werden, ob „das System“ sich nunmehr wie nach dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 und der Finanzkrise von 2007/2008 restabilisieren wird, eben weil im Neoliberalismus dem Freiheitskampf fast nur in-dividuelle Nischen der Subjektivität zur Verfügung stehen. Für den Widerstandskampf bedeutet dies aber auch unter den extremen gegenwärtigen (Produktions-)Bedingungen auf je-den Fall, sich mit „kalter Wut“ (Dietmar Dath) daran zu er-innern, dass die Problemlagen unserer Gesellschaften und Aus der Sammlung des Red Carpet Art AwardLeunam Sarg, Corona Wars – part oneBleistift auf Papier, 30 x 40 cm, 2020© RCAAKulturen sich nicht durch wie auch immer wirkende Techno-logien und Maschinen ergeben, sondern durch die Brutalität der Eigentums- und d. h. Klassenverhältnisse, die gerade an-gesichts der COVID-19-Pandemie (denken wir nur an den digi­tal divide) mehr als deutlich vor Augen stehen. Vom Faustkeil über das Pulver bis zum Siliziumchip gilt also gerade jetzt die Regel, dass es darauf ankommt, wie Menschen die von ihnen produzierten Gegenstände sowie Instrumente – und auch di-gitale Medien sind nichts anderes – einsetzen. For good or for bad. Mit einem Faustkeil konnte der Nächste erschlagen oder aber auch Feuer gemacht werden. Mit den Worten Marxens: „Das Pulver bleibt das gleiche, ob man sich seiner bedient, um einen Menschen zu verletzen oder um die Wunden des Ver-letzten zu heilen.“V.  DIGITALER KAPITALISMUS 4.0?   DIGITALER HUMANISMUS 4.0Insofern sind die existenziellen Grenzwerte, an die wir durch die verkehrte (neofeudale und nicht nur neoliberale) Welt der Lockdowns gedrängt werden, individuelle Nischen der biopolitischen Steuerung durch digitale Architekturen der Big Five (Google, Amazon, Facebook, Microsoft und Apple) und damit der California Ideology aus Palo Alto und Stanford, wie jüngst auch mit Jeff Orlowskis Dokumentarfilm The So­cial Dilemma (2020; vgl. netflix) deutlich wurde. So erkannte etwa der Erfinder des Like-Buttons auf Facebook, dass seine durchaus menschlichen Intentionen schlussendlich mit Fran-kensteins Monster verbunden waren und sich in ihr Gegen-teil verkehrten. Parallel dazu sind aber digitale Medientech-nologien auch der Ort, an dem medialer Widerstand – etwa im Sinne eines kollektiven Medienaktivismus – sich im Sinne neuer Gemeinschaftsformen (creative commons, common wealth, open source, Gemeinwohlökonomie etc.) bündeln und sam-meln kann. Denn selbst die digitalen Welten des social dis-tancing haben neuartige Formen der menschlichen Nähe mit Orlowski Jeff (2020): The Social Dilemma© netflix


 ZUKUNFT | 9 Leonardo Da Vinci – Vitruvian Man, © Wikimedia Commons (author: Andreagrossmann)sich gebracht, auch wenn auf emotionaler Ebene der mensch-liche Kontakt und die zwischenmenschliche Kommunikation gerade nicht digitalisiert werden können (Vgl. Barberi et al.: MEDIENIMPULSE 02/2020). Auch deshalb bleibt angesichts des Digitalen Kapitalismus 4.0 weiterhin darauf zu bestehen, dass eine andere, eine alternative Welt der Freiheit möglich und umsetzbar ist. Eine Welt im Sinne des Digitalen Humanismus 4.0 und des Digitalen Sozialismus 4.0.VI. CONCLUSIOInsgesamt sollte also nicht vergessen werden, dass – wie auch Slavoj Žižek mehrfach betonte – angesichts der blanken empirischen und biologischen Materialität und Lebensgefähr-dung des Virus wahrlich nicht die Zeit für feinnervige Dis-kursanalysen und (De)Konstruktionen ist, weil es der Linken auch angesichts des Digitalen Kapitalismus um nichts ande-res gehen kann, als darum, die Menschenrechte (gerade auch für mehrfach leidende Flüchtlinge) beinhart zu verteidigen. Die oberste Ethik – durchaus more geometrico im Sinne Spi-nozas – ist in diesem Fall also die der individuellen und kol-lektiven Rettung von konkreten Menschenleben, die sich am Ende der Krise zusammenfinden könnten, um nach überstan-dener Krankheit auf freiem Feld neue Formen der Genesung und Gemeinschaft auszuhandeln und zu finden. Ein Gespenst geht um in Europa …SPINOZADIE ETHIKDitzingen: Reclam755 Seiten | € 27,88ISBN: 978-3150008515Erscheinungstermin: Januar 1986ALESSANDRO BARBERIist Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Wien und Magdeburg. Politisch ist er in der SPÖ Land-straße aktiv. Weitere Infos und Texte online unter:  https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/Dieser Beitrag erschien zuerst am 27.11.2020 exklusiv in der Wiener Subkultur und ihrem Underground (skug) und fin-det sich daher in früherer Form online unter https://skug.at/digitale-biopolitik-und-notwendige-lebensrettung/


 10 | ZUKUNFT DIGITALE BIOPOLITIK UND NOTWENDIGE LEBENSRETTUNG VON ALESSANDRO BARBERILiteratur:Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Le-ben, Frankfurt am Main: Suhrkamp.Barberi, Alessandro (2020, in Druck): Medienpädagogische Elemente einer Medie-nethik nach Dieter Baacke: Psychoanalyse, Sprachspiel und Diskursethik als Vor-aussetzungen eines digitalen Humanismus, Baden-Baden: Nomos, Autorenversion online unter: https://tinyurl.com/y5nxjd5n (letzter Zugriff: 01.11.2020).Barberi, Alessandro/Grünberger, Nina/Schmölz, Alexander (Hg.) (2020): ME-DIENIMPULSE 02/2020: Nähe(n) und Distanz(en) in Zeiten der COVID-19-Kri-se, online unter: https://tinyurl.com/y6lyy4e9 (letzter Zugriff: 01.11.2020).Brückner, Peter (2006): Ulrike Meinhof und die deutschen Verhältnisse, Berlin: Wagenbach.Dath, Dietmar (2018): Karl Marx. 100 Seiten, Ditzingen: Reclam.Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1974): Anti-Ödipus, Kapitalismus und Schizophre-nie, Frankfurt am Main: Suhrkamp.Engels, Friedrich (1975): Das Buch der Offenbarung, MEW 21: 9–15, online unter: https://tinyurl.com/yxgcuk73 (letzter Zugriff: 01.11.2020).Foucault, Michel (1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frank-furt am Main: Suhrkamp.Fülberth, Georg (2020): Revolution vs. Apokalypse, in: konkret 11/2020, 34–35.Gremliza, Hermann L. (2017): Die technologische Konterrevolution, in: konkret 2/2017, 9.Hardt, Michael/Negri, Antonio (2010): Common Wealth. Das Ende des Eigen-tums, Frankfurt am Main: Campus.Nida-Rümelin, Julian/Weidenfeld Nathalie (2018): Digitaler Humanismus. Eine Ethik für das Zeitalter der Intelligenz, München: Piper, Verlagsseite mit Leseprobe online unter: https://tinyurl.com/y5wwqhl3 (letzter Zugriff: 01.11.2020).Orlowski, Jeff (2020): The Social Dilemma (Dokumentarfilm), Trailer online unter: https://tinyurl.com/y67qpsm6 (letzter Zugriff: 01.11.2020).Snowden, Edward (2019): Permanent Record. Meine Geschichte, Frankfurt am Main: Fischer.Spinoza (2019): Die Ethik, Ditzingen; Reclam.Staab, Philipp (2019): Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökono-mie der Unknappheit, Berlin: Suhrkamp, Verlagsseite mit Leseprobe online unter: https://tinyurl.com/yyfao8jr (letzter Zugriff: 01.11.2020).Tiedemann, Rolf (1983): Dialektik im Stillstand: Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins, Frankfurt am Main: Suhrkamp.Werthner, Hannes et al. (2019): Wiener Manifest für Digitalen Humanismus, on-line unter: https://tinyurl.com/y6aatkcy (letzter Zugriff: 01.11.2020).Žižek, Slavoj (2020): Der Mensch wird nicht mehr derselbe gewesen sein: Das ist die Lektion, die das Coronavirus für uns bereithält, in: Neue Zürcher Zeitung online, 13.03.2020, online unter: https://tinyurl.com/y3ukklag (letzter Zugriff: 01.11.2020).Zolles, Christian (2016): Die symbolische Macht der Apokalypse. Eine kritisch-ma-terialistische Kulturgeschichte politischer Endzeit, Berlin: De Gruyter Oldenbourg.


 ZUKUNFT | 11 Dobroslav Houbenov (2014) TerrorscanOsama bin Laden© Dobroslav HoubenovTERRORSCAN


 12 | ZUKUNFT Mit seinem Beitrag macht JULIAN KROYER deutlich, dass die heutige Regierungsmentalität des Neoliberalismus in direkter Kontinuität zu Kolonialismus und Imperialismus steht und damit nur als Endmäander der kapitalistischen Produk-tionsweise fassbar wird.Kulturelle Emanzipation und Konstruktion von IdentitätKULTURELLE EMANZIPATION UND KONSTRUKTION VON IDENTITÄT VON JULIAN KROYERI. EINLEITUNGDer hier folgende Beitrag soll Möglichkeiten der kulturel-len Emanzipation im Zeitalter des Neoliberalismus skizzieren und – mit Hilfe einer Analyse der Konstruktion von Identität – anhand eines Textes von Tsenay Serequeberhan Handlungs-möglichkeiten gegen das hegemoniale kapitalistische System aufweisen. Die Grundlage einer solchen Perspektive bietet uns Herbert Marcuse mit seinem Werk Der eindimensionale Mensch (1967), das gegenwärtig aktueller denn je erscheint. Denn nach wie vor geht es um die Entwicklung einer vermeintlichen Gleichstellung aller Individuen, die in ihren sozialen Mustern und im Verhältnis zu ihrer Umwelt allerdings häufig egoistisch und konsumorientiert agieren. Dabei kann festgehalten wer-den, dass die Globalisierung ein komplexer Prozess ist, der wi-dersprüchliche Auswirkungen auf Kultur- und Machtverhält-nisse hat.II.  GRAMSCI UND DIE KOMPROMISSFÄHIGKEIT DER HERRSCHENDENEine Möglichkeit, die Prozesse der Globalisierung zu ver-stehen, bietet sich mit Gramscis Konzept der Hegemonie, das den Zusammenhang beschreibt, nachdem die hegemoniale Klasse einer Gesellschaft durch einen Prozess der „intellektu-ellen und moralischen Führung“ versucht, die Zustimmung der subalternen (untergeordneten) Klasse zu gewinnen. Dabei ist die flächendeckende Indoktrination einer Kultur nach den Vorstellungen der Herrschenden nicht vollends möglich, da Kultur stets subjektiv aus materiellen und sozialen Erfahrun-gen innerhalb der subalternen Klasse produziert wird.Unter diesen Voraussetzungen agiert Kultur mithin als dy-namisches Konstrukt und äußert sich in den ständigen Abfol-gen sozialer Praktiken (Sprache, Religion, soziale Gewohnhei-ten, Kunst, Kulinarik, Musik usw.), die uns auch als Individuum definieren und uns in einem gegebenen Lebenssinn bestätigen.1 Der Widerstand der Zivilgesellschaft kann die hegemonialen Grenzen der herrschenden Klasse indes nicht sprengen, solan-ge sie nicht auch in Besitz der hegemonialen Instrumente ist. So muss sich der Widerstand oft beugen und in „das System“ eingliedern, um einen gesamtgesellschaftlichen Konsens herzu-stellen.2 Die Integration verkörpert damit einen reformistischen Mechanismus, der den gesamtgesellschaftlichen Konsens mit den in den Vordergrund gerückten Bedürfnissen der Zivilge-sellschaft ergänzt. Diese Kompromissfähigkeit ist für die Herr-schenden eine eminente Voraussetzung, da sie primär daran in-teressiert sind, einen gesellschaftlichen Konsens zu bewahren, der ihre Interessen wiederspiegelt. Denn die Überwindung die-ser Klasseneinigung könnte das Übergewicht hegemonialer Ein-flussnahme zugunsten der subalternen Klasse bedeuten.III.  KULTUR ALS DISZIPLINIERUNGSMECHANISMUSSo versuchten die Kolonialmächte (seit dem 19. Jahrhun-dert) z.  B. durch das Aufzwingen ihrer jeweiligen Sprache Ihre Einflüsse auf den hegemonialen Konsens


 ZUKUNFT | 13 Kontrolle über die indigene Bevölkerung zu erringen. Kul-tur fungierte in diesem Fall als Disziplinierungsmechanismus3 zur Reglementierung der indigenen Lebensweise nach Vor-stellung der Autorität (also der kolonialen Invasoren). Aus der Perspektive der Kolonialmächte war es „nur“ die Einführung einer Sprache, für die indigene Bevölkerung war es jedoch eine neue Sprache, die von nun an als Handels- und Kom-munikationssprache zu gelten hatte. Da Kultur aber kein stati-sches Konstrukt ist, welches über Individuen gestülpt werden kann, entwickelte sich aus dem Resultat des hegemonialen Kampfes eine neue Sprache. Das dominierende Element ma-nifestierte sich in der kolonialen Sprache, während durch Be-tonungen, das Ausfallen von Wörtern und Wortneuschöpfung die koloniale Sprache indigen ergänzt wurde, wodurch es ge-lang durch Widerstand und kulturelle Emanzipation die vor-herrschenden Verhältnisse zu adaptieren.4IV.  TSENAY SEREQUEBERHANTsenay Serequeberhan präsentiert in seinem Text Philoso­phy and Post­colonial Africa. Historicity and Thought5 eben diese Erkenntnisse und sieht die Lösung der Problemlagen zwischen kolonialem und indigenem Blick in der hermeneutischen Konstruktion einer neuen Identität, welche abseits der kon-sensualen Grenzen funktionieren und überleben muss. Er be-schreibt eingangs die von Europa erschaffene Verdoppelung Afrikas in das in Afrika „Geschehene“ und das in Afrika zu „Unternehmende“. Dabei wurde, so der Autor, diese histori-sche Kraftlosigkeit des kolonialen Blicks auf einen gesamten Kontinent projiziert. Eine Kraftlosigkeit, die durch eine nicht vorhandene Historizität des Neokolonialismus seitens der Eu-ropäer begründet sei.Auch ist es eben diese Duplizität, welche mit der Inszenie-rung von technologischer und wissenschaftlicher Hilfe ein pa-ternales Machtverhältnis konstruiert und in Afrika umsetzt und „realisiert“. So wird, wie Serequeberhan betont, den ehemali­gen kolonialen Subjekten des imperialen Europas, insbesondere im Raum der Subsahara, durch politische, wirtschaftliche, kultu-relle und historische Beherrschung, das technokratische Ge-stell der europäischen Moderne aufgezwungen. Damit soll ein Typ Mensch hergestellt werden, dem Arbeit zum wesentlichen Identitätsmerkmal und unverzichtbaren Dauerhabitus gewor-den ist. Neoliberale Grunddogmen wie Leistung und Selbst-vermarktung haben sich also bereits hier in den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens gedrängt, die Fähigkeit der Empathie und die Verbundenheit zu sozialen Interaktionen scheinen un-bedeutender zu sein als einst, ein kolonialistischer Prozess der in seiner Substanz eine kulturelle Enteignung zur Folge hatte.Eine Möglichkeit sich aus dieser kulturellen Okkupati-on zu befreien sieht Serequeberhan in der Reinkarnation des subjektiven Seins an sich, die Wiederentdeckung und Neuin-terpretation der eigenen Identität, die in ihrer Beeinflussung äußere Umstände emanzipiert überleben kann. Er besteht da-rauf die kulturelle Befreiung in den Kontext einer afrikani-schen Historizität zu setzen, um durch die Interpretation von Quellen der vor- und kolonialen Zeit sich das anzueignen, was in der Kontextualität der spezifischen Geschichte Afri-kas möglich sei. Die Aufarbeitung und Reflexion der eigenen Geschichte innerhalb der vorherrschenden Verhältnisse steht im Mittelpunkt dieses Prozesses, sowie die Verarbeitung und Integration in kulturelle Abfolgen und Bedeutungen.V.  HARLEM RENAISSANCEDiese Idee erinnert an die Vorstellungen der Harlem  Renaissance (1920er), die sich primär durch die Begründung einer neuen unabhängigen Identität auszeichnete und deren Grundpfeiler auf der hermeneutischen Interpretation älterer afrikanischer Quellen (Texte, Bilder, Musik) in Kombination mit urbaner kultureller Emanzipation basierten. Es war dies der Versuch eine gegenhegemoniale Gesellschaftsform zu etablie-ren, die in ihrer Substanz stets den Anspruch der stetigen Wei-terentwicklung des Individuums stellte. Alain Locke, der zu den berühmtesten Vertreter*innen der Harlem Renaissance zählt, leg-te in seinem Sammelband The New Negro: An Interpretation6 die Entwicklung des schwarzen Mekkas7  und literarische Beispiele einer emanzipierten Reflexion der eigenen Historie dar.  ALAIN LOCKETHE NEW NEGROEstford (USA): Martino Fine Books506 Seiten | € 22,10ISBN: 978-1614278023Erscheinungstermin: März 2015Map of Colonial Africa© Wikimedia Commons (author: Zoozaz1)


 14 | ZUKUNFT KULTURELLE EMANZIPATION UND KONSTRUKTION VON IDENTITÄT VON JULIAN KROYERVI. CONCLUSIODie Absonderung des Individuums vom vorherrschenden System ist – gerade angesichts der neoliberalen Orientierung am Individuellen – physisch und psychisch nicht ohne weite-res möglich, da wir ökonomisch an eben dieses System gebun-den sind. Dennoch haben wir die Möglichkeit, uns innerhalb dieser Umstände kulturell zu lösen und gegen die Hegemo-nie der herrschenden Klasse zu optieren und zu agieren. Mit-hilfe der Konstruktion einer neuen widerständigen Identität, muss die Kompromissfähigkeit an ihre demokratiepolitische Grenze, also an ihr Äußerstes getrieben werden, um durch die Bündelung von kulturellen Emanzipationen ein gesamtge-sellschaftliches Umdenken zu bewirken. Diese Emanzipation und Identitätskonstitution kann sich auf die jahrhundertelang entwickelten Widerstandsformen gegen den Kolonialismus, Imperialismus, Kapitalismus und mithin auch Neoliberalis-mus stützen. Die Ausgestaltung einer solchen neuen Identi-tät ist dabei nach wie vor abhängig von den Interessen der „or-ganischen Intellektuellen“ der jeweiligen Klasse. Denn diese Kopfarbeiter*innen bilden die jeweilige Hegemonie und kön-nen sie in den zivilgesellschaftlichen Diskurs integrieren.JULIAN J. ERNESTO KROYERist Student am Institut für Afrikawissenschaften der Universität Wien und Angestellter.


 ZUKUNFT | 15  ZUKUNFT | 15 Literatur:1 Fiske, John (2010): Understanding popular culture, London: Taylor & Francis Ltd.2 Gramsci, Antonio (1999): Gefängnishefte, 10 Bände, Hamburg: Argument.3 Weber, Max (2017): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Stuttgart: Reclam.4 Storey, John (2015): Cultural theory and popular culture: An introduction, Lon-don: Taylor & Francis Ltd.5 Serequeberhan, Tsenay (1994): Philosophy and Post-colonial Africa. Historicity and Thought, in: Ders (Hg.): The Hermeneutics of African Philosophy. Horizon and Discourse. New York/London: Routledge, 13–30.6 Locke, Alain (2015): The New Negro: An Interpretation, Connecticut: Martino Fine Books.7 Locke, Alain (1980): Harlem: Mecca of the New Negro, Baltimore: Black Classic Press.TERRORSCANDobroslav Houbenov (2014) TerrorscanCNN – Ex-President George W. Bush’s Post 9-11 Speech © Dobroslav Houbenov


 16 | ZUKUNFT I. EINLEITUNGWir befinden uns gegenwärtig in einer gesundheitlichen, wie auch ökonomischen Krise. Viele Menschen haben auf-grund von Kurzarbeit mit Gehaltseinbußen zu kämpfen, viele haben sogar ihren Arbeitsplatz verloren. Trotzdem wird die Be-völkerung über Werbeaufrufe und Portale dazu angehalten die heimische Wirtschaft anzukurbeln und vor einem Einbruch zu bewahren. Ist dies nicht eine höchst paradoxe Situation? Blickt man in die Vergangenheit so zeigt sich, dass derartige Widersprüchlichkeiten aus konsum- und wirtschaftshistori-scher Perspektive nicht neu sind. Nehmen wir als Beispiel die Periode zwischen 1918 und 1938, die von einer durchgehend ökonomischen Stagnation und Schrumpfung geprägt war. Ei-nerseits hatte die Mehrheit der Österreicher*innen mit Man-gel, oft sogar Armut, zu kämpfen. Andererseits wurde über die Massenmedien einem prononcierten Konsumhedonismus gefrönt und einer Vielfalt an Konsumversprechen Raum ge-geben. Produkte, die bislang finanzkräftigen Schichten vor-behalten waren (z. B. kosmetische Erzeugnisse), wurden nun potenziellen Käufer*innen des Kleinbürgertums und der Ar-beiterschaft angeboten. II. WERBEFILMDer Durchbruch der modernen Wirtschaftswerbung war trotz der Dauerkrise nicht aufzuhalten: Mit dem Werbefilm etablierte sich ein neues Reklamemittel, das über visuell be-wegte Bilder und schließlich auch über Farbe, Ton und Ani-mation Produkte und Dienstleistungen sinnlich anpries. Per Film geworben wurde allen voran für Freizeit- und Kultur-dienstleistungen (mehr als 50 % der Titel), wobei nahezu alle dieser Streifen touristisch motiviert waren. Doch auch Rekla-mestreifen für Bekleidung (8,3 %), alkoholische Getränke und Tabakwaren“ (7,2 %), Putz- und Waschmittel (5,4 %), Nah-rungsmittel (4,8  %), Wohnen (4,8  %), Gebrauchsgegenstän-de (3  %) oder auch für Produkte der Körperpflege (2,4  %) gaben die Unternehmen in Auftrag. Auch andere Konsum-gruppen finden sich – wenn auch seltener (Anteil unter 2 %) – in den Filmen wieder, wobei die Durchführung einer Na-senkorrektur (Kosmetische Nasenoperation,1932) für eine Wer-beeinschaltung der frühen 1930er Jahre besonders ungewöhn-lich erscheint.Präsentiert wurden diese Filme nicht nur in Kinos, son-dern etwa auch in Kaufhäusern, Schaufenstern, Gaststätten, Schulen, Gemeindesälen, Waisen- und Pflegeheimen, in Ver-einen, auf Schiffen, im Warteraum des Wiener Südbahnhofs, im Open-Air-Bereich und selbst in Durchhäusern, Litfaß-säulen, Militärkasinos und Haftanstalten. Eine Konzession zur Vorführung von Werbefilmen war begehrt und konn-te mitunter den Lebensunterhalt sichern. Für die Präsentati-on von Reklamestreifen wurden bei den Auftraggeber*innen Einnahmen lukriert. Die Filmproduktion galt als freies Ge-werbe was Amateur*innen dazu bewegte, ihr Glück bei der Herstellung von Werbefilmen zu suchen. Schließlich ka-men von Lai*innen umgesetzte Reklamestreifen immer häu-figer bei Messen, in Schaufenstern oder bei Werbevorträ-gen zum Einsatz. Die professionellen Produzent*innen, die um jeden Auftrag kämpften, sahen sich bedroht und setzten letztlich eine Konzessionierung des Gewerbes durch. Neuen KONSUMHEDONISMUS TROTZ KRISE VON KARIN MOSERDie Historikerin KARIN MOSER stellt Tendenzen und Beispiele aus dem österreichischen Werbefilm vor und zeigt Paral-lelen zu gegenwärtigen Entwicklungen auf. Die analysierten Beispiele zeigen sehr deutlich, wie Armut und Arbeitslosigkeit im Neoliberalismus zumeist ausgeblendet und soziale Verantwortung auf das Individuum abgewälzt wird. Neue Perspektiven scheinen ohne die Kategorie des Glücks nicht mehr denkbar …Konsumhedonismus trotz Krise


 ZUKUNFT | 17 Hersteller*innen wurde damit der Weg erschwert. Die öko-nomische Anspannung hinterließ somit bei den mit der Pro-duktion und Vorführung von Werbefilmen befassten Men-schen ihre Spuren. In den zumeist amüsanten Streifen, die zum Konsum animieren sollten, sind Mangel, Not und Ar-mut – dem Genre entsprechend – nicht greifbar. Nur sel-ten lässt sich auch eine andere Realität erahnen: Auf billi-ges und gutes Essen ohne die Beigabe von Trinkgeld verweist etwa der Film Der geistige Arbeiter (1921/22), der für den Ge-meinschafts-Küchenverein der Eugenie Schwarzwald warb. Eher nebenbei gibt hingegen der Postkraftwagen-Werbefilm Kreuz und quer durch’s Burgenland (1930) Einblick in das einfa-che und sehr bescheidene Leben des Großteils der burgenlän-dischen Bevölkerung. Die städtischen Urlauber*innen wer-den im direkten Vergleich als offensichtlicher Kontrapunkt wahrgenommen.III.  „KAUFT ÖSTERREICHISCHE WAREN!“Die Dauerkrise der Zwischenkriegszeit veranlasste Poli-tik und Wirtschaft 1927 schließlich zu einer Aktion, die den Wirtschaftspatriotismus der Österreicher*innen wecken soll-te. Im Zuge der „Buy national“-Kampagne „Kauft österrei-chische Waren“ versuchte man die Bevölkerung zu einem bewusst patriotischen Konsum zu bewegen. Inserate wurden geschalten, Artikel in Zeitungen publiziert, Werbeplakate in Lokalen, Auslagen und in den Straßenbahnen ausgehängt. Ein  Hausfrauenbüchlein informierte über österreichische Be-darfsartikel. Vorträge und Radiosendungen unterstützten die Kampagne. Auch der Film wurde zur Propagierung der Akti-on genutzt. Im Wochenschauabspann fanden sich Werbeein-schaltungen, 1929 gab die Regierung einen achtminütigen Streifen in Auftrag: Der Film Wohin läufst Du Schilling? hat vor allem Frauen im Fokus, die ihr Kaufverhalten nachhaltig ändern sollten. Im Mittelpunkt steht eine kaufkräftige Kun-din, die in einem modernen Großkaufhaus gezielt zur auslän-dischen Ware greift. Das ausgegebene Geld wird per Anima-tion lebendig, „bekommt Beine“ und marschiert Richtung nächster Grenzposten. Die Münzen vermitteln auf emotiona-ler Ebene, ob der eben getätigte Kauf positiv (tanzende Schil-linge) oder negativ (Geldstücke mit gesenkten Häuptern) zu bewerten ist.Als direkte Folge des Fremdwarenerwerbs werden Sze-nen vor dem Arbeitsamt eingeblendet – frierende Gestalten sammeln sich vor dem Gebäude und suchen verzweifelt nach Arbeit. Zu Hause angekommen, wird der Fehlkauf der Ehe-frau rational erläutert. Eine Tabelle weist die österreichische Handelsbilanz mit einem Passivum von 867 Millionen Schil-ling aus, der Ehemann ermahnt seine Gattin. Die erfolgreiche Umerziehung belegt die anschließende Sequenz: Neuerlich wird das Kaufhaus besucht, doch diesmal gezielt ein heimi-sches Produkt (Handtasche) gekauft. Das Einblenden des ös-terreichischen Warenzeichens demonstriert die Herkunft der Ware, die im Kreis tänzelnden Schillinge unterstreichen den patriotisch richtigen Kauf. Eine Verhaltensänderung hat statt-gefunden, positive Folgen zeichnen sich ab: Der Betriebslei-ter hebt Kündigungen auf und stellt neues Personal ein. Mit dem ausbezahlten Lohn kaufen die Angestellten wieder öster-reichische Produkte. Eine strahlende Kundin hebt eine Viel-zahl an Paketen hoch, wiegt sich glücklich hin und her. Per Trick erscheinen tanzende Schillinge, welche die österreichi-sche Vorzeigekonsumentin umkreisen. Die moralische Logik des Streifens ist offensichtlich: Der Kauf heimischer Waren kommt direkt der Volkswirtschaft zugute und schafft Arbeits-plätze. Jede und jeder Einzelne profitiert von einer aufstre-benden Ökonomie: Die Beschäftigung wird gesichert. Der Lohn, der in heimische Produkte investiert wird, hat nicht nur „ethischen Mehrwert“, er verspricht auch ein positiv besetz-tes, heilversprechendes Konsumerlebnis.IV.  DAS KLEINE GROSSE GLÜCKDer Film Wohin läufst Du Schilling? versuchte neben ei-nem weiblichen Publikum auch möglichst viele soziale Grup-pen einzubinden und anzusprechen. Neben der gehobenen Mittelschicht, wurden Beamte, Handwerker und Angestell-te sowie (in einer kurzen Sequenz) Bauern in die Handlung eingebunden. Doch diese Vielfalt an potenziellen Adressaten stellt eine Ausnahme dar. Tatsächlich sind in den Werbefilmen der Zwischenkriegszeit kaum Arbeiter*innen oder landwirt-schaftliches Personal auszumachen. Das in den Filmen prä-sentierte Klientel gehörte der Kleidung, Szenerie und dem Habitus folgend vornehmlich dem Mittelstand, zuweilen dem gehobenen Milieu an. Sie sind die zentralen Identifikations-figuren, die der Lösung eines Problems oder dem Erleben von Glücksmomenten am nächsten sind. Doch auch bei die-ser Gruppe macht sich im werbenden Film bisweilen die zu-nehmende soziale und ökonomische Unsicherheit bemerkbar. Einzelne Beispiele belegen, dass auch hier der Verlust der Ar-beit zum Thema wird. Gelegentlich werden real-ökonomi-sche Strategien eingeschlagen, um das gute Leben zu sichern (Verehelichung). Die endgültige Problemlösung ist allerdings mit Glück verbunden.


 18 | ZUKUNFT Ein Beispiel dafür ist der Film Der Lohn der guten Tat (1928), der seinen Ausgangspunkt im Stadtpark hat: Eine junge Dame blättert in der Modernen Welt, einer illustrierten Zeitschrift für Kunst, Literatur und Mode, wobei sie von unerreichbar schei-nenden Konsumwelten träumt. Ein junger, ihr unbekannter Mann setzt sich zu ihr, hebt den Hut zum Gruß. Mit melan-cholischem Blick erklärt sie ihm ganz unvermittelt, dass sie keine Stellung finden kann. Obwohl er nur ein „kleiner An-gestellter“ ist, möchte er helfen. Gemeinsam suchen sie die Geschäftsstelle der Klassenlotterie auf, wo er der Frau ein Los kauft. Die Wege der beiden trennen sich wieder. Bald darauf erfährt die Protagonistin, dass sie den Haupttreffer in der Lot-terie gemacht hat. Sie eilt zur Auszahlungsstelle, um das Geld in Empfang zu nehmen. Ihr nachfolgendes Verhalten scheint – angesichts des Umstandes, dass sie bislang mit den Folgen der Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatte – wenig rational. Das Bezahlen der Miete und von etwaigen Schulden oder auch eine Hilfestellung für Familienangehörige oder Freunde wäre zu erwarten gewesen. Was hingegen folgt ist ein hemmungs-loser Kaufrausch in den teuersten Geschäftslokalen Wiens. Die junge Frau scheint einer über Modejournal und Film imaginierten Luxuswelt nachzueifern, zu der das Begutach-ten und Konsumieren ausgewählter Waren zählt, wobei auch die Selbstinszenierung nicht zu kurz kommen darf. Ein Sei-denimporthändler, ein Hutgeschäft, ein Juwelier, ein Mieder- wie auch ein Pelzmodensalon (alle angesiedelt in der Inne-ren Stadt) werden von ihr aufgesucht. Eine Vielzahl an Waren wird dargeboten, was auch dem Ansinnen der Geschäftsleu-te entsprach, die wie der Lotteriebetrieb, die Modezeitschrift und letztlich auch das zum Abschluss präsentierte Nachtlokal, an der Finanzierung des Werbefilms beteiligt waren. V.  DER GENUSS DER NEUREICHENDie Neureiche lässt sich von Verkäuferinnen – kleinen Angestellten, wie sie es eben noch war – mit Genuss bedie-nen. Da nimmt sie (etwa bei der Anprobe der Hüte) den Ha-bitus des modischen Fotomodells an, um sich gekonnt vor der Kamera zu präsentieren. Dort gibt sie die begüterte Dame, die sich Modelle vorführen lässt. Sie begutachtet die Vorführ-damen mit gewisser Anmaßung, betatscht Kleider und Man-nequins, während sie fortwährend an ihrer Zigarette zieht. Sie wird hofiert und umworben und gefällt sich zusehends in der Rolle der „Frau von Welt“. Ein Chauffeur bringt sie schließ-lich zum Neuen Wiener Tagblatt, wo sie eine Suchanzeige auf-gibt. Der junge Mann, der ihr zum Los verholfen hat, möge sich mit ihr abends in der „Bar-Taverne“ treffen. Im Nachtlo-kal findet der letzte Akt des arrangierten Konsumtraums statt. Als die verwandelte junge Frau in der Bar erscheint, springt der galante Retter aus der Not auf und küsst ihr die Hän-de. Die Band spielt flotte Musik, beinahe ein Stück verrucht wirkt die Inszenierung. Man flirtet, tanzt, beide versuchen sich in erotischer Mimik. Schließich zieht sie einen Ring vom Finger, den sie dem jungen Mann ansteckt. Ein leidenschaft-licher Kuss steht am Ende eines filmischen Traums, der eine Collage an Imaginationen aus der Welt des Films und des Lu-xuslebens der vermeintlich „besseren Gesellschaft“ wieder-gibt. Offen bleibt letztlich auch, wer hier wessen Gönner*in ist bzw. wer von wem am Ende verführt wird. Jungen Frauen versprach der Film, mit dem richtigen Los und mit ein we-nig Glück in eine aus Zeitschriften und Spielfilmen bekann-te Scheinwelt eintreten zu können. Die präsentierten Waren selbst waren jedoch nur für eine sehr kleine wohlhabende Eli-te erschwinglich. Glück steht auch im Zentrum des Films Messaliance (1933), der von seiner Anmutung her Volksspielcharakter hat. Ge-schuldet ist dies auch der populären Schauspielerin Hansi Niese, die hier eine kleinbürgerliche Mutter mimt, die sich um die Zukunft ihrer Tochter sorgt. Denn Resi möchte den Briefträger Karl ehelichen. Frau Reisleitner hat aber aus prag-matischen Gründen längst eine andere Wahl getroffen. Im Greißler Wogurka hat sie den idealen Schwiegersohn ge-funden: „Na, olso schee is a ned, aber er ist vermögend und außerdem is er ein Greißler und kommt wia’s wü, Greißler wird’s immer geben. Sie sind das Fundament des Staates! Wie das oba mit den Briefträgern wird, wenn die G’schäftsleut ei-nes Tages draufkommen, dass ihnen die vielen Mahnbriefe do nix nutzen, weu ja do kana zoilt, des was ma natirli ned.“KONSUMHEDONISMUS TROTZ KRISE VON KARIN MOSERKARIN MOSERDER ÖSTERREICHISCHE  WERBEFILMBerlin/Boston: De Gruyter316 Seiten | € 99,95ISBN: 978-3110618969Erscheinungstermin: September 2019


 ZUKUNFT | 19 VI.  EIN ABSURDES SZENARIO?Die Komik liegt hier sowohl im Inhalt als auch in der Darbietung des Gesagten. Ein absurdes Szenario ist erdacht: Schuldner*innen, die auf Mahnbriefe nicht mehr reagieren, schaffen damit den Berufsstand des Postboten ab. Die tatsäch-lich prekäre wirtschaftliche Lage wird somit auf ein kabaret-tistisch-satirisches Niveau gehievt und letztlich entschärft. Das volkstümliche Spiel der Niese trägt dazu bei. In breitem Wienerisch und unter Einsatz ihres ganzen Körpers gibt sie eine bodenständige, lebensnahe Frau aus dem Volk. Nur die-se Leichtigkeit macht die nachfolgende glückliche Wende und die Auflösung des familiären Konflikts ein Stück glaubwürdi-ger, als dies bei einer zu großen Dramatisierung der tatsäch-lichen ökonomisch prekären Zeiten möglich gewesen wäre. Die positive Wende kündigt ein Klopfen an der Tür an. Ein Angestellter des Bankhauses Schelhammer und Schattera be-tritt die Szenerie und erklärt, dass Frau Reisleitner bei der Klassenlotterie 300.000 Schilling gewonnen hat. Die Haus-frau verliert nun jede Contenance. Erregt greift sie sich an die Brust, auf den Mund, zittert am ganzen Körper und schreit nunmehr: „Jessas, jessas, her mit der Marie! Anschauen lassen das Geld!“ Der junge Mann kommt dieser Aufforderung nach und zieht die Geldpakete aus seiner Tasche. Resi fragt nun nach, ob sie denn jetzt ihren Karl heiraten dürfe? Die Mut-ter – sich ihrer neuen Position bewusst – verändert Gestik, Mimik und Tonfall. Sie streckt den Körper, hebt den Kopf, verzieht den Mund und erklärt in leicht näselnden Akzent: „Na ja, es ist zwar eine Mesalliance, aber mia können ma sich das jetzt leisten!“ Dabei wirft sie zwei Geldpakete verächt-lich auf den Tisch. Grotesk ist sowohl ihr äußerer Habitus, als auch ihr Sprachduktus. Nicht nur ist sie nicht in der Lage, das Wort „Mesalliance“ französisch richtig prononciert auszu-sprechen, auch das Hochdeutsch entgleitet ihr letztlich. Geld allein macht – so das Fazit – eben noch keine „Dame“, die Herkunft bleibt in ihrem Wesen festgeschrieben.VII. SCHLUSSSowohl Der Lohn der guten Tat als auch Messaliance vermit-teln dem Kleinbürgertum angesichts der prekären ökonomi-schen Lage ein Stück Hoffnung. Sie geben Anreiz, etwas noch Leistbares (ein Los) zu erstehen, um der Misere der Zeit ent-fliehen zu können. Zugleich ist diesen Filmen aber auch eine gewisse Resignation inhärent. Eine sichere Anstellung zu fin-den scheint zusehends aussichtlos. Eine Verbesserung der ei-genen Position oder gar ein gesellschaftlicher Aufstieg ist an-gesichts der realen wirtschaftspolitischen Situation nur noch über das unverhoffte Glück möglich. Der Blick zurück hat gezeigt, dass Krise und Konsumrausch sich nicht unbedingt ausschließen und dass selbst national protektionistische Kon-zepte nicht neu sind. Auch wenn die ökonomische Ausgangs-position der Zwischenkriegszeit mit heute nicht ansatzwei-se vergleichbar ist, so stellt sich doch die Frage, ob diverse (neoliberale) Marketingkampagnen die Not vieler nicht wie-der tendenziell ausblenden. KARIN MOSERist Medien-, Zeit- und Sozialhistorikerin an der Universität Wien.  Sie forscht u. a. zur Mediengeschichte des Konsums  und zum audiovisuellen Kulturerbe.Zuletzt erschien ihre Monografie  Der österreichische Werbefilm (Berlin/Boston, 2019). Der Titel ist unter folgenden Link frei zugänglich: https://library.oapen.org/bitstream/id/29904798-5d01-44b8-9369-3513a5034a50/1006587.pdf


 20 | ZUKUNFT Dobroslav Houbenov (2014): TerrorscanAlleged suicide bomber on tv© Dobroslav Houbenov


 ZUKUNFT | 21 Dobroslav Houbenov (2014): TerrorscanSchool of Terror© Dobroslav HoubenovTERRORSCAN


 22 | ZUKUNFT Marie sah ihre Eltern an, ihr Vater zuckte mit den Schul-tern und sagte nichts. „Nun geh schon“, drängte ihre Mut-ter sie, sah nach links und rechts. An jeder Tür drängten sich Menschen in den Zug, manche hasteten noch ein paar Me-ter weiter, weil sie hofften, dass es dort weniger voll sein wür-de, andere verabschiedeten sich noch voneinander, ein letzter Kuss, eine letzte Umarmung. Marie zuckte mit den Achseln, dann bückte sie sich nach ihren beiden Reisetaschen und hob sie hoch. Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Sie hatte kei-ne Hand mehr frei, um sie wegzustreichen, pustete vergeb-lich dagegen an. „Ach Liebes“, sagte ihre Mutter, strich ihr die Haare hinters Ohr. Sie umarmten sich nicht mehr. Marie stieg in den Zug, versuchte ihre Taschen über den schmalen Einstieg zu balancieren, sie drehte sich nicht nach ihren El-tern um. Bis sie zu ihrem Sitzplatz kam, verspürte sie immer eine Unsicherheit, eine Fremdheit, die sich erst legte, wenn sie sich hingesetzt hatte. Dann saß sie dort meist ein paar Mi-nuten, bevor sie ihre Jacke auszog, Proviant und Beschäfti-gung aus der Tasche nahm und wirklich, vollständig ankam. Erst dann wurde dieser Platz zu ihrem Zuhause auf Zeit, zu einer kleinen Oase, von der sie sich kaum traute aufzustehen. Sie fragte sich, ob die anderen Reisenden sie genauso inten-siv beobachteten wie sie es tat. Manchmal saß sie dort mit Kopfhörern und gab vor, ins Leere zu starren, dabei lausch-te sie dem Gespräch zwei Sitze weiter. Zuerst fragte sie sich immer, wie die Menschen hießen. Dann, was sie am liebsten hatten. Dann, womit sie sich überhaupt nicht gern beschäf-tigten. Dann, welche Beziehungen sie in ihrem Leben pfleg-ten. Ganz zum Schluss erst überlegte sie, woher die anderen Mitreisenden kamen und wohin sie fuhren. Saß eine Person neben ihr, versuchte sie einen Blick auf ihr Ticket zu erha-schen. Oft tat sie so, als würde sie lesen und schielte dabei doch in Wahrheit auf den Laptopscreen des Menschen neben ihr. Über eine Entfernung von drei Sitzreihen konnte sie er-kennen, welchen Film sich jemand ansah oder welches Buch jemand las. Für die Dauer einer Fahrt wurde sie zur Detekti-vin, zur Geschichtendiebin.Dieses Zugabteil war außergewöhnlich leer. Marie drück-te sich an einem älteren Mann vorbei, der in aller Seelenruhe mitten im Gang seinen Koffer auspackte und seine Jacke fal-tete, sie überflog die Sitznummern mit flüchtigem Blick, als wäre sie der Situation erhaben. Aus dem Augenwinkel sah sie ihre Eltern, die am Bahngleis entlanggingen und versuchten, sie im Inneren auszumachen. Sie ignorierte die beiden, ging weiter, eine Tasche vor und eine hinter sich balancierend. Da war ihr Platz. Ein Vierertisch. Eine Frau im Kostüm saß be-reits dort. Sie hatte die Haare zu einem strengen Knoten zu-sammengebunden, ihr Make-Up saß perfekt, sie las die aktu-elle Ausgabe vom „Economist“. „Ich habe hier reserviert“, sagte Marie und deutete entschuldigend auf den Sitz gegen-über. Sie kam sich verschwitzt und dick vor. Ihr Mantel war viel zu warm, die Taschen viel zu schwer. Die Frau lächelte sie an und widmete sich dann wieder ihrem Magazin. Marie versuchte ihre Taschen möglichst elegant auf die obere Abla-ge zu befördern, ihre Jacke legte sie darüber. Sie ließ sich in den Sitz fallen und die Frau schaute erneut auf. Marie wur-de unangenehm bewusst, wie außer Atem sie war. Neben ihr am Fenster winkte jemand wild – ihre Eltern, ihre Gesichter hinter der Scheibe klar, während Marie selbst doch wie hin-ter einem kaltblauen Schleier, wie aus einem Traum wirken musste. Sie winkte dezent zurück, schielte zur Frau, die nicht aufsah. Als der Zug sich in Bewegung setzte, atmete sie er-leichtert auf.Sie drehte den Kopf zur Seite, im Vierersitz links neben ihr saßen zwei Männer, der eine vermutlich der Sohn des an-deren. Marie nahm ihr Buch aus der Tasche. Sie liebte es, AUF DER STRECKE VON ZARAH WEISSAuf der StreckeAusgehend von Sylvia Plaths posthum veröffentlichter Erzählung Mary Ventura und das neunte Königreich sowie Impulsen von Paul Virilio und Heinrich Heine entwickelt ZARAH WEISS mit Auf der Strecke eine literarisch-kritische Perspektive auf Lebensentwürfe im Zeitalter des Neoliberalismus …


die Klassiker der Weltliteratur durchzuwälzen, während an ihr grau-grüne Landschaften verschwommen vorbeirausch-ten. Heinrich Heines Gedichte lagen vor ihr. Das Buch war gebraucht, der Schutzumschlag irgendwo verloren gegangen. Die beiden Männer begannen sich leise zu unterhalten. Ma-rie beugte sich unmerklich ein Stück nach vorn. Sie konnte nicht verstehen, was sie sagten, es schien fast, als würden sie in einer ihr unbekannten Sprache sprechen. Dann nahm sie den Gedichtband in die Hand, blätterte darin herum, tat so, als würde sie lesen. Der Buchrücken lag glatt in ihrer Hand. Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht, durch einzelne Strähnen konn-te sie einen Blick auf die Männer erfassen. Carl und Adam, dachte sie, so heißen sie wahrscheinlich. Sie lieben beide kräf-tigen Bergkäse mit Senf und hassen aber das Gefühl, diesen Käse zu schneiden. Sie sind Vater und Sohn und wenn sie beieinander sind, tanzen sie in der Küche einen unerkann-ten, vielleicht sogar unsichtbaren Tanz um das Messer, sie drü-cken sich vor dem Schneiden. Sie sind alleinstehend, der eine frisch getrennt, der andere mit verstorbener Frau und jetzt ist da niemand mehr, um ihnen den Käse zu schneiden. Sie sind auf dem Weg zu dem Ort, an dem der Vater die Mut-ter kennenlernte, um ihre Geschichte aufzuarbeiten. Sie kom-men aus dem Süden und fahren in den Norden. So wie ich, dachte Marie, ich fahre auch in den Norden, ins Neunte Kö-nigreich. Es lässt sich nicht leugnen, dachte sie, ich bin süch-tig nach Geschichten.Sie hob den Kopf, ihre Haare teilten sich, ein Vorhang, der sich öffnete. Die Menschen um sie waren ihr Theater, sie waren ihre Bretter, sie bedeuteten ihr die Welt. Ohne Ge-schichten kann ich nicht leben, dachte Marie.  „Entschuldigung, hätten Sie vielleicht ein Taschentuch?“, fragte sie die Dame vor sich. Sie blickte auf, ihre geschmink-ten Lippen verzogen sich zu einem perfekten Lächeln. Ma-rie verspürte das Bedürfnis, die Kurve ihres Mundes nachzu-zeichnen. Eva. Liebte Kirschtorte, hasste Spazierengehen. Auf Geschäftsreise. Die Frau griff in ihre Handtasche, reichte Ma-rie eine Packung Taschentücher. Sie schnäuzte sich so diskret wie möglich, blickte aus dem Fenster. Der Zug fuhr an einem See vorbei. Auf einmal kam es ihr vor, als säße sie schon ewig an diesem Platz. Draußen war weit und breit kein Schild oder keine Ortschaft erkennbar, eine unberührte Seenlandschaft. Marie war den Anfang der Strecke schon ein paar Mal gefah-ren, aber dieser Teil kam ihr unbekannt vor. Waren sie also schon weitergekommen, als sie gedacht hätte? Marie schüttel-te verwirrt ihren Kopf, ganz leicht nur, kniff sich in die Ober-schenkel. Sie räusperte sich, rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her. Ihr Handyakku war noch am Bahnhof leer gewesen.„Ist alles in Ordnung?“Marie sah hoch, die Dame blickte sie direkt an. Sie nick-te, biss sich auf die Lippen. „Könnten Sie mir vielleicht sa-gen, wie spät es ist?“, fragte sie. Die Frau lachte leise, zeig-te ihre Armbanduhr. Keiner der Zeiger bewegte sich. „Die ist mir vorhin kaputtgegangen, als ich mit dem Koffer dage-gen gestoßen bin“, sagte sie und warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. „Aber der Sonne nach zu urteilen wohl später Vormittag.“„Müssten dann nicht schon ein paar Stationen gekommen sein?“, fragte Marie. Die Frage rutschte ihr schnell heraus, sie hatte nicht so unsicher klingen wollen. Aber auf einmal kam es ihr so vor, als bewegte sich der Zug mit jeder Millisekunde viele Kilometer weiter von ihrem Zuhause weg.Der ältere Mann vom Sitz gegenüber mischte sich ein: „Ach, Mädchen!“ Er hatte eindeutig irgendeinen Akzent, aber Marie fühlte sich zu unruhig, um auszumachen, welcher es sein könnte. Auf einmal war sie sicher, dass er nicht zum Ort des Kennenlernens seiner Frau fuhr. Wahrscheinlich war er geschäftlich unterwegs. Seine Lebenswelt schien meilen-weit von ihrer Realität entfernt zu sein. „Hast Du nicht mit-bekommen, dass der Zug nur noch bedeutende Stopps an-fährt? Wir halten nur noch in den großen Städten oder dort, wo wirklich wichtige Passagiere einsteigen.“Marie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber er unterbrach sie sofort wieder: „Das ist einfach und genial! So kommen wir schnell zum Ziel, effektiv für alle!“Marie war sich nicht sicher, ob sie das richtig verstanden hatte. „Und wonach wird das bemessen?“, fragte sie leise. „Wo wir anhalten?“Just in diesem Moment raste der Zug durch eine Bahn-station. Erst jetzt wurde Marie bewusst, wie schnell sie wirk-lich unterwegs waren: Bänke, Schilder, Rolltreppen, alles flog schneller an ihrem Fenster vorbei, als sie schauen konnte. Sie versuchte den Namen des Bahnhofs zu lesen, aber sie hat-te keine Chance. Ein junges Paar winkte, schrie, eine Mut-ter, die mit mehreren Kindern allein am Bahngleis stand, hatte  ZUKUNFT | 23 


 24 | ZUKUNFT den Mund weit offen, hielt mit Mühe und Not ihre Kleinsten zurück. Ein älterer Mann versuchte dem Zug ein Stück hin-terherzurennen. Marie verbog den Kopf nach hinten, bis sie nach wenigen Sekunden schon keinen dieser Menschen mehr sehen konnte. So schnell wie der Bahnhof gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden.Fassungslos drehte Marie sich zu den beiden Männern um: „Ich glaube, die wollten alle mitfahren?“ Sie grinsten le-diglich. Marie spürte eine Hand auf ihrer Hand. Die Frau ge-genüber lächelte sie beruhigend an: „Wenn wir ankommen wollen, können wir nicht alle mitnehmen. Ein paar bleiben auf der Strecke.“ Marie sah sie erstarrt an. Ihr Lächeln kam ihr auf einmal nicht mehr perfekt vor, sondern perfide, bit-terböse. Die Frau verstand ihren Blick: „Du bist noch sehr jung. Aber je älter Du wirst, desto eher wirst Du verstehen, dass es nur so funktioniert. Das ist das einzig mögliche Mo-dell. Wir tun alles dafür, um rechtzeitig im Neunten König-reich anzukommen.“„Aber was ist mit den Menschen an diesem Bahnhof!?“, rief Marie. Die Frau setzte zu einer Antwort an, da rann-te plötzlich ein junges Mädchen durch den Waggon, kaum älter als Marie selbst. „Halt!“, rief es panisch. „Moment!“ Sie blieb vor der automatischen Schiebetür stehen, wink-te, drückte dagegen. Die Tür öffnete sich keinen Millime-ter. Das Mädchen drehte sich hilfesuchend um, etwas Has-tiges, Rastloses lag in ihrem Blick: „Entschuldigung, sollten wir hier nicht anhalten? Wissen Sie… Ist nicht irgendwo je-mand vom Bordpersonal? Ich … ? “ Irgendetwas in ihrem Gesicht irritierte Marie, sie sah kränklich aus und trug trotz der milden Temperaturen Schal und Haube. Abwechselnd blickte Marie aus dem Fenster und das Mädchen an. Sie ras-ten tatsächlich schon wieder durch die nächste Bahnstation, mit einer Geschwindigkeit, dass Marie die Menschen drau-ßen nur noch als Schemen wahrnahm, geschweige denn ir-gendein Schild lesen konnte. Es waren höchstens drei Minu-ten vergangen, wie konnten sie so unfassbar schnell von der einen in die nächste Stadt gelangt sein?„Ach Schätzchen“, sagte der junge Mann gegenüber, er-haben, als sei er viel älter und weiser als das aufgelöste Mäd-chen. „Ich fürchte, die nächste Station ist das Neunte König-reich. Reg Dich nicht so auf.“„Aber … Ich hatte hier einen Arzttermin …“Die Stimme des Mädchens wurde leiser. Marie sah, wie sie resignierte, wie sie aufgab, wie ihre Schultern sich senkten. Ihr war kalt. Ihr war nach Weinen zumute. Sie streckte eine Hand aus, als könnte sie so auf irgendeine Art Trost geben. Die Frau gegenüber sah sie an, schüttelte milde lächelnd den Kopf. Es hat keinen Zweck, schien ihr Blick zu sagen. Das Mädchen drehte sich um. Mit gesenktem Kopf ging sie zurück durch die Sitzreihen. Marie konnte ihr Gesicht nicht sehen. Sie versuchte ihr nachzublicken, sah nur noch die Haube. Die anderen wenigen Mitreisenden saßen vertieft in ihre Lektüre oder Laptops auf den Plätzen und gaben vor, nichts mitbekommen zu haben. Erst jetzt fiel Marie auf, dass sie sich keine Gedanken über den Namen des Mädchens ge-macht hatte. Sie kam sich lächerlich vor. Alles schien an Be-deutung verloren zu haben.Marie ließ sich in den Sitz sinken. Sie vermied es, die an-deren anzusehen, starrte aus dem Fenster. Noch nie zuvor hatte sie eine solche Geschwindigkeit erlebt, sie spürte das Dröhnen unter ihrem Sitz. Es war, als wäre eine neue Epoche von Raum und Zeit angebrochen. Ihr wurde übel. Die Son-ne stand noch nicht einmal ganz oben am Horizont, es musste immer noch Vormittag sein und sie war schon weiter gereist als je in ihrem Leben. Und gleichzeitig war kaum eine Stunde vergangen, seit sie eingestiegen war. Die Welt außerhalb der Zugfenster verschwamm zur Bedeutungslosigkeit, die Zeit schien sich zu einer Endlosigkeit auszubreiten.In dieser Sekunde hielt der Zug ruckartig, Marie wur-de gegen den Tisch vor ihr gepresst. Draußen war weit und breit kein Bahnhof zu sehen, nur eine schmale Straße zwi-schen Feldern, auf der sich aus einiger Entfernung schnell eine Autokolonne näherte. Es waren insgesamt drei Fahrzeuge, aus denen mehrere Männer in Anzügen sprangen, die einem wei-teren Mann die Tür öffneten. Jetzt sah Marie zum ersten Mal eine Schaffnerin, die aus dem Zug trat und den Mann be-grüßte. Sie fragte sich, um wen ein solches Aufsehen gemacht wurde und nahm ihn genauer unter Augenschein. Er hatte glatte Gesichtszüge und kam ihr bekannt vor, aber sie konn-te nicht ausmachen, an wen er sie erinnerte. Zwei andere Be-gleiter stiegen mit ihm ein. Marie starrte die Tür an, warte-te, dass er ihr Abteil betreten würde, aber nichts geschah. Der Zug machte einen Ruck und noch ehe die Menschen drau-ßen wieder in ihre Autos gestiegen waren, beschleunigte er. Marie zählte die Sekunden, bis sie die einzelnen Konturen der Bäume schon nicht mehr ausmachen konnte. Vier. Nach vier AUF DER STRECKE VON ZARAH WEISS


 ZUKUNFT | 25 Sekunden rasten sie dahin, sie rasten und es dröhnte und die Welt draußen wurde vernichtet und von der Zeit blieb zu viel übrig. Marie hielt sich an der Lehne fest, sie schluckte.„Keine Sorge, das war es dann, jetzt halten wir nirgendwo mehr. Volle Kraft voraus, sensationell!“, rief der ältere Mann vom Vierertisch nebenan ihr zu, wie um sie zu beruhigen. Sie rieb sich den Hals, tat so, als hätte sie ihn nicht gehört. „Leis-tung, Leistung, Leistung!“, rief er noch lauter und klatschte dem jüngeren Mann mit jedem Ausruf auf die Knie. Der lach-te heiser. Aus dem Augenwinkel sah Marie, wie die Frau ihr gegenüber die Augen verdrehte, aber nichts sagte.Marie wurde wütend. Sie stand auf, ging entschlossenen Schrittes durch den Wagen, zurück zu der Tür, bei der sie ein-gestiegen war. Sie erinnerte sich, dort eine Notbremse gese-hen zu haben. Die anderen Mitfahrenden hoben nicht einmal müde den Kopf, als sie an ihnen vorbeistapfte. Apathisch starr-ten sie in ihre Laptops. Marie schnaubte verächtlich und mach-te einen letzten Schritt zur Schiebetür. Sie bewegte sich nicht. Genau wie vorhin. Marie hob die Arme, bewegte sie hin und her, drückte sich mit ihrem ganzen Körpergewicht gegen das Glas. Nichts geschah. Sie schrie, aber genau in diesem Mo-ment fuhr der Zug durch einen Tunnel, es dröhnte, niemand hörte sie. Sie biss sich auf die Lippen, bohrte die Fingernägel in ihre Handinnenflächen. Durch die Glasscheibe konnte sie die Notbremse erkennen, unerreichbar weit weg. Sie war ge-fangen. Langsam ließ sie sich an der Scheibe nach unten sin-ken, bis sie den Boden berührte. Den Kopf senkte sie auf die Knie, schüttelte sich, weinte. Das war es also. Sie war in diesem Waggon, sie war mit diesen Menschen in einem Boot und sie alle würden erst aussteigen, wenn sie im Neunten Königreich angekommen waren, irgendwann, und je schneller sie fuhren, desto eher wurde die Welt hier drinnen zum Stillstand. Nichts bewegte sich mehr, eine Verdichtung, während draußen alles verschwand. Vielleicht wurde es ein Zugunglück geben, einen Unfall. Vielleicht würden sie dann alle entkommen können. Sie fühlte sich gegen die Scheibe gepresst von der Geschwin-digkeit und fragte sich, wie sie sich so rasend schnell fortbe-wegen konnte und gleichzeitig doch nur Stillstand war, um sie herum, in ihr, so still, so unfassbar still, dass da nahezu nichts mehr übrigblieb von ihr.ZARAH WEISSlebt als Autorin und Literaturwissenschaftlerin in Wien.  Zuletzt erschien ihre Erzählung „Die Kemenate“ (Czernin Verlag 2020).


 26 | ZUKUNFT NOTIZEN ZU „TERRORSCANS“ VON DOBROSLAV HOUBENOVIm Zuge meiner Auseinandersetzung mit Medientechno-logien ist mir aufgefallen, dass es nicht nur möglich ist, durch Reproduktionsmaschinen (Videosoftware, Scanner, Monitore etc.) Bilder zu verzerren, sondern – unter Verwendung dersel-ben Technologie – Videos auch zu komprimieren. In diesem Zusammenhang wollte ich den Unterschied zwischen Propa-gandavideos der „freien“ und der „unfreien“ Welt herausar-beiten und so begann ich meine künstlerische Arbeit. Die bes-te Möglichkeit zur praktischen Umsetzung bestand darin, die durchwegs auf YouTube verfügbaren Propagandavideos kom-primiert auf ein Blatt zu bringen, um sie in der Folge auch vergleichen und in einer Serie präsentieren zu können. Dazu wurden die Videos mittels eines Monitors auf einem hoch-auflösenden Scanner in der jeweiligen Filmdauer eingescannt, wodurch das gesamte Video sich in einem Bild verdichtete.Das Resultat können die Leser*innen der ZUKUNFT ent-lang der Bildstrecke dieser Ausgabe als Betrachter*innen se-hen. Gestik, Mimik, Farbe, Bewegung und Art der Präsen-tation der Videos werden in einem Zeitraffer von oben nach unten sichtbar. Wenn der Hintergrund unbeweglich und starr gefilmt wurde, wird er durch diese Technik ebenfalls starr und unbeweglich abgebildet. Mich hat dabei immer fasziniert, wie der Zeitpfeil von der Vergangenheit hin zur Gegenwart ab-gebildet wird, wobei ich dafür verschiedene druckgrafische Techniken verwendete. Verbunden mit der damaligen politi-schen Lage lieferte diese ästhetische Praxis eine herausragen-de Möglichkeit zu sehen, wie sich menschliches Verhalten in Medien manifestiert. Die hier präsentierte Serie Terrorscans präsentiert mithin die Ergebnisse der Verwendung der ge-nannten Technologie und stellt dieses Verhalten künstlerisch dar.DOBROSLAV HOUBENOV ist Druckgrafiker, Zeichner und Absolvent der Universität  für angewandte Kunst WienNotizen zu „Terrorscans“DOBROSLAV HOUBENOV gibt Einblick in die Produktionsbedingungen der Bildstrecke dieser Ausgabe der ZUKUNFT.


 ZUKUNFT | 27 Dobroslav Houbenov (2014): TerrorscanGaza Hamas Prepares Suicide Bomber Rhetoric of Hatred© Dobroslav HoubenovTERRORSCAN


 28 | ZUKUNFT KUMMERBUND VON THOMAS BALLHAUSENKummerbundIn seiner Dystopie Kummerbund schildert der Wiener Autor THOMAS BALLHAUSEN den Zusammenbruch eines in mehrfacher Hinsicht unter Druck geratenen Individuums. Angesiedelt zwischen Fiebertraum und politischer Parabel nutzt er Literatur als kritisches Instrument und erzählt von Erschöpfung in Zeiten unaufhörlicher, alles durchdringender Optimierung.Eine der wenigen Erinnerungen, die ich noch habe, ist, wie man mir beigebracht hat, mich auf die goldenen Regeln des Überlebens und Verhaltens einzulassen, auf diese seit vie-len Generationen tradierten Weisheiten und Hinweise, die ich in Form eines handlichen Bändchens bei mir trage, zu ver-trauen. Diese Instruktion ging beinahe zeitgleich mit der Be-obachtung eines punktuellen, schmerzhaften Eingriffs einher, den ich nur begleiten, aber nicht in vollem Umfang nachvoll-ziehen oder gar empfinden konnte. Die goldenen Regeln er-schienen mir damals, inmitten dieser unerträglichen Situati-on und ihren meine Kräfte übersteigenden Anforderungen, plump und phrasenhaft, ein ewiges Geleier Ahnungsloser. Eine weitere, damit zumindest indirekt verbundene Begeben-heit, die mir mit gleicher Schwere im Gedächtnis haftet, ist ein unwirtlicher Vormittag, an dem ich den Unterschied zwi-schen oben und unten tatsächlich verstanden habe. Der Wind blies damals den Schnee vor mir her, mein Blick war, die mich Begleitenden ausblendend, auf einen kleinen Karren gehef-tet, der vor mir her rumpelte und eine traurige Last mit ei-ner an Frechheit grenzenden Leichtigkeit transportierte. Als das Fahrzeug an seinem Bestimmungsort angelangt war und ich, ohne die Trauergäste ringsum wirklich wahrzunehmen, beobachtete, wie der eben noch beförderte Körper hastig verscharrt wurde, erkannte ich den erwähnten Unterschied und verstand darüber hinaus erstmals die schändliche Natur all meiner Empfindungen und Wünsche in vollem Ausmaß. Das Handbuch habe ich, nicht nur wegen der Kälte, die mei-ne Finger betäubte, nicht hervorgeholt. Die in ihm enthalte-nen, eher entmutigenden Sätze waren mir ohnehin geläufig, und so beließ ich es dabei, eine der Regeln wie gewohnt lei-se flüsternd und von den anderen beinahe unbemerkt aufzu-sagen: Die zwei größten Gefahren in jeder Situation, eine passive Lebenseinstellung und die Tendenz zu übermäßiger Bequemlichkeit, gehen von Dir selbst aus.Ich hätte den Regeln, abseits von dem mich beruhigen-den Ritual des Aufsagens ausgewählter Sätze, auch weiterhin gerne vertraut. Doch auf diese Situation und die Verschlim-merung der allgemeinen Lage, das Durcheinander der letz-ten Tage des Kombinats, hatte mich keine Ausbildung, kein Handbuch und kein noch so wohlmeinend formulierter Rat-schlag vorbereiten können. Rückblickend waren meiner in-dividuellen als auch der generellen Situation wohl Entschei-dungen vorausgegangen, die aufgrund ihrer Auswirkungen zu wesentlicheren Anteilen ohne mich gefällt worden wa-ren, hätten sie meine Möglichkeiten und Expertise als Mensch und Analyst doch bei weitem überschritten. Mein Urteil war schon in den Monaten davor immer mehr in Verruf geraten, auf mich hatte man sich, so die Einschätzung meiner Kolle-gen in der Agentur, immer weniger verlassen können. Trotz meiner Bemühungen, mich ganz meinen alltäglichen Aufga-ben zu widmen und alle anderen Umstände einfach zu ig-norieren, war die Verschlechterung der Zustände nicht mehr aufzuhalten. Innerhalb der Agentur war ich der Abteilung Vergangenheit zugeordnet gewesen, uns unterlag die sach-THOMAS BALLHAUSEN IN DUNKLEN GEGENDENWien: Edition Atelier104 Seiten | € 14,95ISBN: 978-3902498946Erscheinungstermin: August 2014


 ZUKUNFT | 29 gerechte Veränderung der Geschichtsschreibung je nach Be-darf und veränderter politischer Situation. Ich war mit mei-ner Spezialisierung alles andere als unglücklich, war ich doch auch nicht imstande, für die beiden anderen Abteilungen wir-ken zu können: Die Zukunft konnte ich nicht prognostizieren und für die Auseinandersetzung mit der Gegenwart mangelte es mir schlicht an Konsequenz, Stärke und Gewaltbereitschaft. Ich flüsterte: Verfolge so lange wie möglich die Berichterstattungen, um die tatsächlichen Gefahren gut einschätzen zu können. Dann tue das Unerwartete.Mit der Rolle einer Nebenfigur konnte ich mich eher ab-finden als mit dem Gedanken, für meine unausgesprochenen Wünsche und den damit verbundenen Katastrophen in einem unerwarteten Moment zur Rechenschaft gezogen zu werden. Als unser letztes Luftschiff schon beim Steigflug zerbrach und in Form eines glühenden Regens auf das Flugfeld und die umliegenden Bezirke niederging, fühlte ich mich dafür eben-so verantwortlich wie für die Notwendigkeit, meine kleine, kärglich eingerichtete Unterkunft in einem der Vororte der Hauptstadt aufzugeben, um den eindringenden feindlichen Truppen zu entgehen. Nur meine Kartentasche und weni-ge andere Gegenstände mit mir nehmend, machte ich mich in Richtung der im Zentrum gelegenen unterirdischen Schutz-räume auf. Doch statt in den mir vorgeschriebenen Bereich hinabzugehen und dort gemeinsam mit meinen von Fieber und Angst angetriebenen Kollegen eine mir angesichts der unaufschiebbaren Niederlage nutzlos vorkommende Tätigkeit weiter auszuführen, nahm ich den Abstieg in einen der ande-ren, weit verzweigten Bauten. Ich flüsterte: Bestreue verräteri­sche Abfälle mit Asche oder vergrabe sie sorgfältig.Die Narben an meinen Unterarmen sind in dieser neu-en Zeit ohne Lichtbilder die einzigen Zeichen von Identität und Legitimität geworden. Sie sind Kennzeichen meiner ver-meintlichen Unverwechselbarkeit, ein Gewebe, das Bahnen zu meinem früheren Leben schlägt. Die Verläufe der Nar-ben sind die Landkarte einer fremd gewordenen Ära, nur die-se Repräsentationen alter Wege und Vertrautheiten sind ge-blieben. Nach und nach ist alles verschwunden, habe ich mir meine Bedürfnisse verkleinert und mich mit immer weniger zufriedengegeben. Jetzt möchte ich nichts mehr nötig haben, um hier weitermachen zu können. Wenig Essen, keine Moral, keine Prinzipien oder Gesetze, von Linearität habe ich oh-nehin noch nie viel gehalten. Hier gilt, woran ich mich erst mühsam gewöhnen musste, nur die Gegenwart und was uns verbindet, was wir wie eine gute Hoffnung in bunten Stoff und Zeitungspapier einschlugen, spiegelt sich in den mittler-weile ungültigen Fahrplänen an den Wänden. Eine Wahrheit wird hier mit der nächsten überklebt, entblößt werden nur die Körper meiner verzweifelten, vielleicht weniger freiwilligen Mitbewohner. Ich versuche nicht auf die aufgerissenen Klei-der und offenstehenden Hosen zu achten, auf die verzwei-felten Umarmungen und Haltungen, in denen man Schläge oder Liebkosungen empfängt. Ich taste nach meinem Be-steck, überprüfe insbesondere das Vorhandensein meines an den Rändern scharf geschliffenen Löffels. Ich flüstere: Wenn Du, weil Dein Wert überschätzt wurde, verschleppt wirst, brauchst Du vielleicht unsichtbare Tinte.Unter der zentralen Bahnstation Kimmeriens, diesem Land der Schatten und Turbulenzen, habe ich mich also eingerich-tet und mit den anderen Flüchtenden arrangiert. Hier gibt es weniger Türen, an die geklopft werden kann. Das ist beruhi-gend, fühlen sich doch alle, wie sie da sitzen und stehen, ihre Kerne kauend und sich so an diesen Ort bindend, wie Ver-räter. Was ich in meiner Kartentasche mit mir trage, hilft mir zumeist, den Überblick zu bewahren. Indem man die Zeit wie ein erlegtes Tier häutet und ihre Strukturen freilegt, ent-faltet man den umgebenden Raum wie ein Blatt Papier. Mit einer schnellen Handbewegung wische ich Blut und Gewe-be weg. Ich möchte gerne genau hinsehen, dort, wo alles auf-klafft und die Wirklichkeit schmerzhaft hervortritt. Ein Blick pro Tag erscheint mir da ausreichend, mehr möchte ich mir nicht mehr zumuten, mehr kann ich mir nicht mehr zutrauen. Nachts gehe ich manchmal zurück zu einem der Eingangsto-re, die immer noch offenstehen, und sehe nach draußen. Die oben liegende Welt ist zu einem Übungsgelände verkommen, das von mechanischem Knattern und im Dunkel gut sichtba-ren Feuern durchzogen ist. Die Architektur der unterirdisch gelegenen Struktur erschwert es mir auszumachen, woher die Geräusche kommen. Im Dunkel fühle ich mich ein wenig si-cherer, ich glaube, ungesehen zu bleiben, weil ich selbst kaum etwas ausmachen kann. Ich flüstere: Wenn Du vollständig ver­schüttet bist, bist Du wahrscheinlich zu schwer verletzt, um Dich selbst zu befreien. Auch unterhalb der Stadt, die, so meine Überzeugung, von einem unhintergehbaren Ereignis, einer heimlich ersehn-ten Katastrophe eingeholt worden ist, bin ich fast immer in Bewegung. Das Netz aus Tunneln und Übergängen, die Pas-sagen, die immer nur zu weiteren Plateaus und Zwischenstati-onen führen, verleiten dazu. Wie alle anderen taumle ich un-ausgesetzt weiter und sinke nur hin und wieder für ein paar 


 30 | ZUKUNFT KUMMERBUND VON THOMAS BALLHAUSENMomente zu Boden. Müde bin ich nicht, es gibt ja nichts zu tun, um müde werden zu können. Ich bin erschöpft, eben weil nichts mehr zu schaffen, weil nichts mehr möglich ist. Wir bewegen uns wie die Schlafwandler, sind aber eigent-lich Schlaflose. Wir träumen, ohne zu schlafen, inspiriert von ein paar zerschlagenen Schaukästen und einem kleinen Boot, das, durch dicke Holzbalken abgestützt, einen der größeren Räume des Komplexes völlig einnimmt. Diese Zwischenräu-me voll aufbereiteter Luft haben uns gleichgemacht, versorgen sie uns doch mit einer Vielzahl fremdartiger, sich aufbauender und wieder zerfallender Bilder. Schweigend gehen wir uns zumeist aus dem Weg, stolpern im künstlichen Zwielicht über jene, die gestrauchelt sind und auf das Unvermeidliche war-ten. Wer sich hingesetzt und ausgeatmet hat, steht nur ganz selten wieder auf. Sitzend kann man besonders gut erschöpft sein, und ich frage mich erneut, ob ich damals vorsätzlich in den falschen Bereich hinabgestiegen bin, um jemanden zu su-chen. Die Vorstellung, ich könnte hier jemanden auslösen und wie ein selbstloser Held an die Stelle des Gesuchten tre-ten, gefällt mir. Übertroffen wird diese Fantasie nur durch die absurde Vorstellung, dass ich diese Tat bereits vollbracht haben könnte und mich deshalb mit meinen schwindenden Erin-nerungen abmühe und mich nicht zurück an die Oberfläche wagen darf. Wenn mein Aufenthalt hier tatsächlich einen tie-feren Sinn hat, so sage ich mir, darf es nur dieser sein. Zumin-dest dahingehend will ich über mich hinauswachsen, etwas wie ein neues Zeitalter wird ohnehin nicht mehr anbrechen. Alles, was es künftig geben wird, ist Erde. Ich hocke mich hin, die anderen Schemen ignorierend und von dieser Hoffnung auf die Annahme meines Opfers erfüllt, beginne den locke-ren Boden aufzuwühlen, noch tiefer vorzudringen. Ich grabe, schiebe meine Finger zwischen die lehmigen Schichten und dränge mich, schwimmend und beißend, mit voller Wucht in den Boden. An den bitteren Geschmack des Elements und die Feuchte zwischen den Zähnen werde ich mich wohl niemals gewöhnen können. Als ich mit den Händen nicht mehr wei-terkomme, stoße ich immer und immer wieder meinen Löffel in das feuchte Nass, schaufle Erde hinter mich und in meinen Mund, grüble währenddessen nach, rechne und frage mich, ob man mich wegen meiner früheren Rolle und die daran ge-knüpften Verantwortungen vielleicht belogen hat. Ich flüste-re: Fang nicht an, die Schläge oder Schüsse zu zählen. Wirf Dich auf den Boden und bleib liegen.THOMAS BALLHAUSENlebt als Autor, Kulturwissenschaftler und Archivar in Wien und  Salzburg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig. Der Abdruck des vorliegenden Textes, der aus dem Erzählband In dunklen Gegenden stammt, erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Edition Atelier (Wien). 


 ZUKUNFT | 31 TERRORSCANDobroslav Houbenov (2014): TerrorscanObama Warns Not To Challenge Official 9-11 Story© Dobroslav Houbenov


 32 | ZUKUNFT DER ESEL VON MICHAEL SCHARANGDer EselDie Redaktion der ZUKUNFT freut sich für ihre Leser*innen, dass MICHAEL SCHARANG sich bereit erklärt hat, einen Auszug aus dem ersten Kapitel seines kommenden Romans Der Esel und damit auch eine Geschichte des 12. Februar 1934 zum Vorabdruck freizugeben …KAPITEL 1Dieses seltsame Ereignis trug sich im Februar 1945zu. Moritz, ein Bub von fünf Jahren, stieg mit seinerGroßmutter auf den Berg, um vom Bauern Brotund Butter zu holen. Der Krieg, man sprach damalsschon vom Zweiten Weltkrieg, dauerte bereitseinige Jahre, die Lebensmittel wurden knapp.Die Großmutter half jeden zweiten Tag auf demBauernhof aus, dafür bekam sie für sich und dieFamilie ihres Sohnes zu essen. Der Bäurin war dieArbeit zu viel, ihr Mann konnte ihr nicht zur Seitestehen, er hatte im Krieg ein Bein eingebüßt. Andiesem Tag mistete Großmutter den Stall aus.Moritz spielte in der Stube mit dem Bauern Karten.Nachdem der dreimal verloren hatte, fluchte er undbehauptete, im Krieg nicht nur ein Bein, sondernauch den Verstand verloren zu haben. Moritz wardie Karten auf den Tisch, ging über dentiefverschneiten Hof zum Stall, wollte zurGroßmutter, hörte aber hinter dem Stall ein leisesWimmern.In einem Bretterverschlag stand ein kleiner, dürrer,vor Schmutz starrender Esel. Moritz schob zweiBretter weg, umfaßte den Kopf des Esels unddrückte ihn an sich. Der Esel schnaubte vor Freude.Du armer, kleiner Esel, sagte der Bub, stehst in derKälte und im Dreck, bist halb verhungert. Ichnehme dich mit ins Tal und sorge für dich. Der Eselmachte einen Schritt zurück, hob den Kopf undsagte: Ich danke dir. Moritz stand da mit offenemMund. Gib mir die Hand, sagte der Esel und hobeinen Vorderfuß. Moritz umfaßte mit seiner Handden Vorderfuß des Esels.Seit ewiger Zeit, fuhr der Esel fort, kann ein kleinerEsel, dem es schlecht geht, um den sich aber einkleines Kind kümmert, nicht nur in seiner Sprache,sondern auch in der Sprache der Menschen reden.Seit ewiger Zeit ist das so. Ich weiß das von meinerMutter.Hast du auch gewußt, fragte Moritz, daß ich zu dirkommen und dich mit ins Tal nehmen werde? Nein,antwortete der Esel. Ich weiß von meiner Mutter,daß wir Esel anders als die Menschen ohneHoffnung leben. Wir hoffen nie, daß sich etwaszum Guten wendet. Wir haben aber auch keineAngst, daß etwas Schlimmes passiert. Ich habe nichtdamit gerechnet, daß jemand, noch dazu ein Kind,kommen und mich aus diesem Elend erlösen wird.Michael Scharang © Isolde Ohlbaum


 ZUKUNFT | 33 Moritz befreite den Esel aus dem Verschlag undging vor ihm her zum großen Tor des Stalls. DerEsel konnte nicht mit ihm Schritt halten, seineBeine waren steif vor Kälte. Hüpf doch, schlugMoritz ihm vor, vielleicht wird dir dabei warm. DerEsel versuchte es, mit Erfolg. Das sah lustig aus.Moritz mußte lachen. Er hüpfte neben ihm her.Daran wieder hatte der Esel seinen Spaß, und sohüpften sie um die Wette bis zum großen Tor.Im Stall schob Moritz Stroh zusammen und sagtezum Esel, er solle sich darauf betten und am Strohwärmen, er, Moritz, werde Heu bringen, damit derEsel sich sattessen könne. Ja, erwiderte der Esel,und bei der Stalltür sehe ich Rüben. Bekommst du,sagte Moritz. Der Esel kuschelte sich ins Stroh,legte den Kopf auf die Vorderfüße, schautezufrieden vor sich hin, beobachtete dengeschäftigen Moritz, und am Ende des Stalls sah ereine Frau, die Mist auf eine Scheibtruhe lud.Während der Esel fraß, streichelte Moritz dessenMähne und fragte ihn, warum er in einen Verschlaggesperrt worden sei. Für den Bauern und dieBäurin, antwortete er, aber auch für die Nutztieregibt es noch genug Nahrung. Ein kleiner Esel hatkeinen Nutzen. Die Bauersleute würden michverhungern lassen. Meine Mutter brachte mirheimlich zu essen, nicht viel, aber es reichte. Eselsind genügsame Tiere.Glückselig betrachtete Moritz den Esel, der,nachdem er das Heu gefressen hatte, an der Rübeknabberte. Der Esel hielt inne, hob den Kopf undstellte die Ohren auf. Was für schöne, lange Ohren,dachte Moritz. Meine Mutter, sagte der Esel,befindet sich auf dem Nachhauseweg. Willst dunicht zu ihr?, fragte Moritz. Sie ist noch weit weg,war die Antwort. Esel haben ein sehr gutes Gehör.Du darfst dich nicht wundern, wenn ich währenddes Gehens immer wieder stehenbleibe und dieOhren spitze. Ich merke eine Gefahr, ehe du siesiehst.Wo ist deine Mutter?, fragte Moritz. Im Wald, sagteder Esel. Die Bäurin sammelt Brennholz, meineMutter trägt es auf dem Rücken zum Bauernhof.Wenn sie hier ist, werde ich mich von ihrverabschieden. Moritz stellte sich vor, er müßtesich, wenn auch nur für einige Zeit, von seinerMutter verabschieden, und wurde traurig. Was wirdsie sagen?, fragte er. Sie wird froh sein, daß du michmitnimmst, antwortete der Esel. So hat sie eineSorge weniger.Du hast recht, sagte Moritz. Außerdem ist es keinAbschied für immer. Ich kehre nicht zurück,erwiderte der Esel. Moritz war überrascht undfragte: Das weißt du? Ja, das weiß ich, antwortete er.Ich bin, mußt du wissen, nie ganz getrennt vonmeiner Mutter. Wir sind über andere Tiere, vorallem die Krähen, stets in Verbindung. Du wirst siekennenlernen, ich werde ihnen von dir erzählen.Übrigens, wie heißt du?, fragte er. Moritz, war dieAntwort. Und du? Ich heiße Esel.Du solltest, fuhr er fort, zu deiner Großmuttergehen und ihr sagen, daß du mich mitnimmst. Sieist mit der Arbeit noch nicht fertig, sagte Moritz,legte sich neben den Esel ins Stroh und streicheltesein weißes Maul. Du bist ein schönes Tier, sagte er.Und du ein kräftiger Bub. Meine Großmutter, sagteMoritz, wird nichts dagegen haben. Sie wird,erwiderte der Esel, sicher nichts dagegen haben.Woher weißt du das?, fragte Moritz. Das sehe ich,antwortete der Esel. Ich sehe, wie sie arbeitet, wiesie die Mistgabel bewegt, wie sie den Mist mit derScheibtruhe wegkarrt, wie sie geht und wie sie sichniedersetzt, um zu rasten. Daran erkenne ich, wasfür ein Mensch sie ist.Wie ist das, fragte Moritz, wenn ich mit meinerGroßmutter zu dir komme? Wirst du mit ihr redenwie mit mir? Moritz, sagte der Esel, seit einerEwigkeit ist es so, daß ein kleiner Esel, der voneinem Kind aus seinem Elend erlöst wird, mitdiesem Kind sprechen kann. Aber nur mit diesemKind. Würde ich das Wort an deine Großmutterrichten, verlöre ich auf der Stelle die Fähigkeit zusprechen. Ich rede mit dir auch nur, wenn niemandin der Nähe ist, der sehen oder hören könnte, daßwir miteinander sprechen. Du kannst immer mit mirreden, und ich werde, wenn andere dabei sind, sotun, als würde ich dich nicht verstehen.


 34 | ZUKUNFT DER ESEL VON MICHAEL SCHARANGMoritz nickte beiläufig, als hätte er, was der Eselgesagt hatte, ohnehin gewußt, ging zu seinerGroßmutter, setzte sich auf einen Melkschemel,wartete, bis sie die letzte Scheibtruhe voll Mist ausdem Stall gefahren hatte. Es war schon dämmrig, imFebruar wurde es früh dunkel, Zeit, ins Tal zugehen, ehe die Finsternis hereinbrach und man denWeg, schon gar im Wald, nicht mehr sehen konnte.Moritz ging mit der Großmutter zum Esel.Er sieht gar nicht verhungert aus, sagte sie. Er hatsich rasch erholt, erwiderte Moritz, vor einer Stundehat er sich kaum auf den Beinen halten können. Ichkann ihn nicht hierlassen, fuhr er fort, der Bauersperrt ihn wieder in den Verschlag, wo er hungertund friert. Ich nehme ihn mit ins Tal.Wir werden einen Platz für ihn finden, sagte dieGroßmutter und ging ins Bauernhaus, wo sie beimEingang die Arbeitsstiefel auszog, in der Stube indie Bergschuhe schlüpfte und Brot und Butter, vonder Bäurin bereitgestellt, in den Rucksack packte,nachdem sie zwei Pullover, einen für sich, einen fürMoritz herausgezogen hatte, denn mit Einbruch derDämmerung war es noch kälter geworden.Moritz, erschöpft von dem ereignisreichen Tag,streckte sich im Stroh aus und machte einSchläfchen. Der Esel ging seiner Mutter entgegen,die nicht mehr weit bis zum Bauernhof hatte, underzählte ihr, was vorgefallen war. Die Mutter freutesich, daß ihr kleiner Esel auf ein mitfühlendes Kindgestoßen war, nun in der Sprache der Menschenreden konnte und von dem Kind ins Talmitgenommen wurde.Ihre Sorge war, daß während der eineinhalbStunden, welche die drei brauchten, um ins Tal zukommen, ein Fliegerangriff drohte. Seit demSommer war kaum ein Tag ohne mehrereBombenexplosionen vergangen. Unten im Tal, daswußte die Mutter des Esels aus Erzählungen derKrähen, befand sich eine kleine Stadt mit einergroßen Fabrik. Den Krähen zufolge wurde dieFabrik von Flugzeugen angegriffen. Warumausgerechnet die Fabrik, das wußten die Krähennicht.Sehr wohl aber hatten sie berichtet, daß vieleAngriffe fehlschlugen, und sie hatten den Grunddafür herausgefunden. Das Tal lag tiefeingeschnitten zwischen zwei Bergen, dadurchentstanden starke Luftströmungen. Je nachWetterlage gab es entweder eine Strömung deneinen Berghang oder aber den anderen Berghanghinauf. Nichts machte den Krähen mehr Freude, alssich von dieser Strömung tragen zu lassen und indiesen Luftturbulenzen Fangen zu spielen. Siewurden nicht müde, den anderen Tieren, die sichnicht in die Lüfte erheben konnten, davon zuerzählen.Immer wieder hatten die Krähen die Flugzeugebeobachtet. Die wagten es nicht, ins schmale Tal zufliegen, blieben über den Bergrücken, und von dort,viel zu hoch oben, warfen sie die Bomben ab. Nurwenige schlugen in die Fabrik ein, einige inWohnhäuser, in denen die Fabrikarbeiter lebten, diemeisten aber, von der Luftströmung erfaßt undseitlich abgetrieben, explodierten in den Bergen.Das wußte die Mutter des Esels. Sie stieß einenlauten Schrei aus, einen Hilferuf an die Krähen. EinDutzend von ihnen kam angeflogen und setzte sichauf die Holzstücke, die auf dem Rücken des Eselsfestgebunden waren. Die Bäurin, die das Holzabladen wollte, versuchte vergeblich, die Vögel zuverscheuchen, worauf sie verängstigt ins Haus eilte,um ihren Mann zu Hilfe zu rufen.Die Mutter des Esels trug den Krähen ihr Anliegenvor, die schwärmten aus und informierten andereKrähen, welche dann weiterflogen, um sich beiihren Artgenossen kundig zu machen. Keine Stundedauerte es, und die Krähen waren zurück auf demBauernhof. Die Bäurin hatte das Holz abgeladen,der Bauer, den sie geholt hatte, damit er die Krähenverscheuche, hatte sie ausgeschimpft, weil keineKrähe zu sehen war. Die Eselin stand mit demEselskind in der Stalltür, hinter ihnen lag Moritz aufeinem Strohballen und schlief.Die älteste Krähe setzte sich auf den Kopf derEselin und krächzte ihr ins Ohr, daß man bald miteinem Fliegerangriff rechnen müsse. Die


 ZUKUNFT | 35 Luftströmung sei zurzeit dergestalt, daß dieBomben auf den Berg zugetrieben würden, auf demder Bauernhof stand. Auf keinen Fall dürfe mannun ins Tal absteigen. Der kleine Esel, dermitgehört hatte, weckte Moritz und schilderte ihmdie Lage. Der lief ins Bauernhaus und zog dieGroßmutter, die dabei war, Brot und Butter in denRucksack zu verstauen, beiseite.Wir können, sagte Moritz, jetzt nicht ins Tal gehen.Der Esel steht in der Stalltür und ist zu keinemSchritt zu bewegen. Ich habe meinen Arm umseinen Hals gelegt und versucht, ihn mit mir zuziehen. Unmöglich. Er, dieser liebe, sanfte Esel,stampft unwirsch mit den Hinterbeinen auf, wirftden Kopf in die Höhe und steht mit gespitztenOhren da. Ich bin mir sicher, er spürt, daß eineGefahr droht. Das glaube ich auch, antwortete dieGroßmutter, nahm den Rucksack, verabschiedetesich von den Bauersleuten, die ihr einen gutenHeimweg wünschten, und ging mit Moritz zumStall, wo sie sich auf Strohballen setzten. Der Esellegte sich zu ihnen und schmiegte sich an Moritz.Die Mutter des Esels hatte ihren Platz im Stallaufgesucht, nicht weit von den Pferden, aber abseitsder Rinder, und sich zur Nachtruhe begeben.Soll ich dir, flüsterte Moritz dem Esel ins Ohr, Heuzum Fressen bringen und vielleicht eine Rübe? Onein, flüsterte der Esel zurück. Du mußt wissen,Esel sind gefräßig. Ich bin im Augenblick satt.Brächtest du mir Heu und Rüben, ich fräße sie, alsplagte mich der Hunger. So sind wir: äußerstgenügsam und äußerst gefräßig.So wie ich, erwiderte Moritz leise, und zurGroßmutter sagte er: Ich bin hungrig, könntest dumir ein Butterbrot richten? Die Großmutter holteBrot und Butter aus dem Rucksack, aus einerSeitentasche des Rucksacks einen Feitel, schnitt eineScheibe Brot ab und bestrich sie mit Butter.Moritz hatte noch keine zwei Bissen gegessen, dagab es eine Explosion, gleich darauf eine zweite undnoch eine. Die Bomben schlugen so nah beimBauernhof ein, daß der Stall bebte. Moritz, dem derBissen beinahe im Hals steckengeblieben wäre,umklammerte vor Angst den Kopf des Esels. DieGroßmutter rannte aus dem Stall. Da es draußenruhig blieb, kam sie zurück, schaltete dieTaschenlampe ein, suchte Brot und Butter undMesser, die im Stroh lagen, packte alles ein undmeinte, man könne nun aufbrechen.Sie mußten über den Hof und am Bauernhausvorbei. Die Bäurin rannte ihnen entgegen, umarmtedie Großmutter und rief: Frau Zaunschirm, FrauZaunschirm, da sind Sie ja! Und der Bauer, der vorder Tür stand, rief: Herein mit Ihnen! Daraufmüssen wir einen Obstler trinken! Die Bauersleutewaren der Meinung gewesen, die Großmutter undMoritz seien auf dem Weg ins Tal. Vom Fenster aushatten sie gesehen, wo die drei Bomben einschlugen- dort, wo der Weg vom Bauernhof hinunter in dieStadt führte. Für die Bauersleute hatte es keinenZweifel gegeben, daß die beiden umgekommenwaren. Und nun standen sie in Begleitung deskleinen Esels vor ihnen. Nein, sagte die Großmutterzum Bauern, es ist jetzt nicht die Zeit, um Schnapszu trinken. Die Mutter von Moritz macht sichSorgen. Wir sollten schon zu Hause sein. Sie hat dieBombeneinschläge gewiß gehört.Bring die Flasche und drei Stamperln, sagte derBauer zu seiner Frau, und zur Großmutter: Ichhabe schon in der Früh gewußt, daß ein Unglückdroht. Wissen Sie, was heute für ein Tag ist, FrauZaunschirm? Die antwortete: Montag. Nein, rief derBauer, nahm der Bäurin die Flasche aus der Hand,schenkte dreimal ein, stürzte den Schnaps hinunterund nötigte die Frauen, es ihm gleichzutun. Nein,rief er, heute ist der zwölfte Februar. Vor zehnJahren - oder waren es elf? - haben die Arbeiterunten in der Fabrik zu den Waffen gegriffen. Dieseroten Teufel wollten die Regierung stürzen, unserechristliche Regierung. Viel hat nicht gefehlt, und siehätten gewonnen. Als erstes hätten sie unseren Hofangezündet. Im letzten Moment ist das Militärgekommen und hat sie besiegt. Begonnen hat derAufstand am zwölften Februar. Und heute istwieder ein zwölfter Februar. In der Früh habe ichschon gewußt, dieser Tag bringt nichts Gutes. Undich habe rechtbehalten.


 36 | ZUKUNFT DER ESEL VON MICHAEL SCHARANGZur Großmutter sagte er: Ihr müßt den anderenWeg nehmen, das ist ein großer Umweg, ihr brauchtzwei Stunden bis in die Stadt. Ich weiß, sagteGroßmutter. Ich gebe euch zwei Petroleumlampenmit, sagte die Bäurin, damit ihr den Weg findet.Eine genügt, erwiderte die Großmutter, ich habeeine Taschenlampe. Und so zogen die drei los. Siebrauchten nicht zwei, sondern, weil viel Schnee aufdem Weg lag, drei Stunden, bis sie zu dem Hauskamen, in dem Moritz wohnte.Sie sahen die Mutter von Moritz, umringt voneinigen Frauen, welche die von WeinkrämpfenGeschüttelte stützten, damit sie nichtzusammenbrach. Bleib hier, sagte die Großmutterzu Moritz und ging, zaghaft einen Fuß vor denanderen setzend, auf die Frauen zu, erfüllt von derSorge, ihrer Schwiegertochter könnte der Wechselder Gefühle - die schmerzliche Trauer um dentotgeglaubten Sohn, die plötzliche Freude, daß ernoch lebte - derart zusetzen, daß sie die Besinnungverlöre.Anna! rief die Großmutter. Wir haben unsverspätet. Dort, wo wir normalerweise gehen, habenBomben eingeschlagen. Wir mußten einen großenUmweg machen. Du brauchst dich nichtaufzuregen, uns ist nichts passiert. AnnaZaunschirm setzte sich auf eine der Stufen, die zumHaustor führten, Moritz lief zu ihr und sprang aufihren Schoß. Seine Mutter drückte ihn so fest ansich, daß er keine Luft bekam. Er löste sich aus derUmarmung und sagte: Schau, wen wir mitgebrachthaben, und rief: Esel, komm zu uns. Der kamlangsam näher und genoß es, von Anna Zaunschirmund den Frauen rund um sie bestaunt zu werden.Der Esel, sagte Moritz, hat uns das Leben gerettet.Und er erzählte der Mutter, daß er sich auf demBauernhof mit dem kleinen Esel, der in einenengen, dreckigen Verschlag gesperrt gewesen sei,angefreundet und sogleich beschlossen habe, dasausgehungerte und durchfrorene Tier mit nachHaus zu nehmen. Als die Zeit gekommen sei, insTal abzusteigen, habe der Esel sich nicht von derStelle gerührt, und als Großmutter und er, Moritz,gedrängt hätten, endlich loszugehen, habe der Eselmarkdurchdringende Klagelaute ausgestoßen.Und tatsächlich, fuhr Moritz fort, wären bald daraufdrei Bomben eingeschlagen. Seine Mutter sagte: Eswaren gewaltige Explosionen. Ich hatte keineHoffnung, daß ihr überlebt. Die Frauen streicheltenden Esel, den Lebensretter, der es genoß, von denMenschen im Tal freundlich aufgenommen zuwerden.Wo, fragte Moritz’ Mutter, wird der Esel wohnen?Bei mir, sagte die Großmutter. Ich begleite euch,sagte Moritz, rutschte vom Schoß der Mutter undfragte: Hast du etwas zu essen für mich? EineSuppe mit viel Hühnerfleisch, erwiderte die Mutter.Die Großmutter wohnte ein paar Häuser weiter imersten Stock eines Einfamilienhauses alsUntermieterin - auch die Eltern von Moritz lebtenin einem Einfamilienhaus zur Untermiete -, derGroßmutter stand aber auch eine Holzhütte imGarten zur Verfügung, in der sie Hasen hielt undHühner, welche in einem abgezäunten Teil desGartens Auslauf hatten, sonst befanden sich in derHütte nur ein Leiterwagen und ein Fahrrad.Großmutter stellte das Zeug hinaus, nun war genugPlatz für den Esel. Ich hole ein paar Decken, sagtesie, morgen besorge ich Stroh und etwas zu fressenfür ihn. Endlich waren Moritz und der Esel allein.Wie gefällt es dir hier? fragte Moritz. Ich kommeaus dem Staunen nicht heraus, erwiderte der Esel.Du hast deiner Mutter eine schöne Geschichteerzählt. Sie glaubt, daß ich dir das Leben gerettethabe. Das stimmt auch, sagte Moritz. Wir beide,erwiderte der Esel, wissen, wie es wirklich war. Duhast recht, sagte Moritz, wir kennen die wahreGeschichte. Wenn ich die der Mutter erzählte,würde sie glauben, ich rede wirres Zeug. Deshalb habe ich 


 ZUKUNFT | 37 ihr lieber diese schöne Geschichte erzählt.Die hat vor allem den Sinn, daß du hier als meinLebensretter giltst. Die Nachbarinnen haben dieGeschichte gehört, das heißt, daß morgen die ganzeStadt Bescheid weiß. Du wirst ein Held sein.Ich freue mich, sagte der Esel, daß in der Hütteauch Hasen und Hühner wohnen, ich werde ihnendie wahre Geschichte erzählen. Die beidenverstummten, denn Großmutter kam herein,scheuchte Moritz und den Esel zur Seite undbreitete einige Decken auf dem Boden aus. Fürheute muß das reichen, sagte sie, und zu Moritz: Esist spät, du mußt nach Haus.Moritz’ Mutter hatte die Hühnersuppe bereitswarmgemacht, Moritz fischte mit der Hand dieFleischstücke heraus, die Flügel und den Hals, nagtesie ab und löffelte dann erst die dicke Suppe mitErdäpfelstücken und Karotten. Der Teller war nochnicht leer, da fielen Moritz vor Müdigkeit die Augenzu. Er war gewohnt, um acht Uhr ins Bett zu gehen,nun war es schon zehn vorbei. Er konnte aber,obwohl er todmüde war, nicht einschlafen, zu vielging ihm durch den Kopf.Er hörte sogar noch, daß sein Vater heimkam. Derhatte in dieser Woche Nachmittagsschicht, diedauerte von zwei bis zehn, manchmal länger. DerVater war, anders als die Väter seiner Freunde, nichtim Krieg. Soviel Moritz aus den Gesprächen derEltern herausgehört hatte, arbeitete der Vater ineinem Werk, das Getriebe für Panzer erzeugte. Ermußte nicht in den Krieg, weil er Dinge herstellte,die notwendig waren, damit der Krieg geführtwerden konnte. Von Beruf, auch das wußte Moritz,war der Vater Schlosser.Davon, wer gegen wen Krieg führte, hatte Moritzkeine genaue Vorstellung. Die Flugzeuge kamen ausdem Ausland, daraus schloß er, daß das AuslandKrieg führte. Er fragte sich, warum der Betrieb desVaters Kriegsmaterial herstellte. Offenbar führtedas Land, in dem er lebte, Krieg gegen das Ausland.Die Frage, wie das nun wirklich sei, lag ihm auf der Zunge, er stellte sie aber nicht. Er hätte die Mutterfragen können, den Vater sah er selten. Der mußteoft zehn, manchmal zwölf Stunden arbeiten. DieMutter aber fragte er nicht, weil ihn die Sache inWahrheit nicht interessierte.Moritz trieb sich, wenn er nicht gerade mit derGroßmutter auf den Berg ging, mit seinen Freundenauf der Straße herum. Bei ihnen etwas zu gelten warihm wichtig. Und sich Geltung zu verschaffen warnicht leicht gewesen. Als er im Alter von zweiJahren der mütterlichen Obhut entkam und sichunter die Nachbarskinder mischte, verstand ernicht, was sie redeten, und sie verstanden ihn nicht.Sie sprachen obersteirischen Dialekt, erHochdeutsch. Seine Mutter stammte nicht von hier.Sie war ihrem Mann hierher gefolgt, der vorfünfzehn Jahren in diese Stadt, nach Kapfenberg,gekommen war, weil er hier Arbeit gefunden hatte.Die Mutter von Moritz sprach ein holprigesHochdeutsch und bemühte sich, mit dem Kindhochdeutsch zu sprechen. Moritz setzte seinenganzen Ehrgeiz darein, die Sprache derNachbarskinder zu erlernen, das Obersteirische. Erwuchs zweisprachig auf. Anfangs war er einAußenseiter, die Spielgefährten, allesamtliebenswürdige Kinder, ließen ihn das aber nichtspüren. Sie akzeptierten ihn als einen von ihnen.Moritz wollte mehr. Er äffte ihre Sprache nach, biser sie beherrschte.Moritz war längst kein Außenseiter mehr, vergaßaber nie, daß er einer war, und tat alles, um unterden Spielgefährten eine besondere Rolle zu spielen.Er ermunterte die anderen zu Ballspielen, zumVersteckspiel, und er war es, der die Idee hatte,einen Streifzug bis zum Waldrand zu machen. Warer allein zu Haus, galten seine Gedanken einemnächsten Plan, mit dem er die Spielgefährtenüberraschen konnte.Aus der Küche hörte Moritz wohlvertrauteGeräusche. Der Vater war heimgekommen, dieMutter schüttete Wasser, das sie auf dem Herdgewärmt hatte, in ein Lavoir, er begann sich zuwaschen. Zuerst schrubbte er mit einer Bürste dieölverschmierten Hände, dann wusch er Gesicht undOberkörper, und während er sich abtrocknete,


 38 | ZUKUNFT wischte die Mutter mit einem großen Fetzen dasWasser, das der Vater verspritzt hatte, vom Bodenauf. Noch während dieser Arbeit begann die Mutterzu erzählen, was am Tag vorgefallen war.Wirklich, rief ihr Mann, der sich zur Suppe gesetzthatte, ein Esel? Erzähl das noch einmal! Siewiederholte die Geschichte. Das ist unglaublich,sagte der Vater, ohne diesen klugen Esel hätten wirunser Kind nicht mehr. So ist es, erwiderte dieMutter. Wo ist er jetzt? fragte der Vater. Bei deinerMutter, antwortete die Frau, in der Hütte. In derHütte, rief der Vater empört, er rettet unseremKind das Leben, und ihr steckt ihn in diese Hütte!Wir sind froh, erwiderte die Mutter, daß wir diesenPlatz gefunden haben.Eine Zeitlang sagte der Vater nichts, Moritz hörte,wie er die Suppe löffelte. Dann begann er wiederlaut wie vorher zu reden: Wir sind froh! Wenn ichdas schon höre! Über alles müssen wir froh sein.Daß wir noch am Leben sind. Daß wir noch zuessen haben. Warte nur, wenn der Krieg vorbei ist,und er wird bald vorbei sein, dann baue ich für denEsel ein Schloß! So wird es sein, sagte die Frau leise,denn sie war es müde, ihrem Mann zuwidersprechen. Wir leben in der Hölle, fuhr er fort,aber nach der Hölle kommt das Paradies. So stehtes geschrieben. Und wo? fragte sie. Das weiß ichnicht, war die Antwort. Moritz hörte, wie sein Vater den Löffel in denleeren Teller legte. Hat meine Mutter, fragte derVater, Brot und Butter mitgebracht? Wir hattenkeine Zeit, darüber zu reden, antwortete seine Frau.Ich gehe morgen abend zu ihr, sagte der Mann,morgen muß ich schon um sechs in der Früh in derArbeit sein und komme wahrscheinlich erst amspäten Nachmittag nach Haus. Ich brauche dasBrot und die Butter. Heute während der Schichtsind drei Leute vor Hunger umgefallen. Für dieKriegsgefangenen wird es immer schlimmer. Ichweiß nicht, wie es in den Baracken zugeht, in denensie hausen. Ich kann sie auch nicht fragen, ichwürde sie nicht verstehen, sie sind Franzosen. Undselbst wenn ich Französisch könnte, würde mir dasnicht nützen. Die Kriegsgefangenen dürfen nichtDER ESEL VON MICHAEL SCHARANGreden, nicht miteinander und schon gar nicht mituns. Nun bekommen sie auch nicht mehrausreichend zu essen und brechen während derArbeit zusammen. Mir sind einige als Helferzugeteilt, die werden nicht vor Hunger sterben.Deine Mutter, erwiderte die Frau, arbeitet bei denBauern, damit sie Brot und Butter für unsbekommt. Ab heute, sagte der Vater, arbeitet sie beiden Bauern, damit auch die Kriegsgefangenen Brotund Butter bekommen. Darfst du ihnen das geben?fragte seine Frau. Selbstverständlich nicht,antwortete er. Es muß heimlich geschehen. Wie duweißt, ist bei den Nazis alles verboten. Die Nazissind Teufel. Ja, sagte sie, die sind Teufel. Moritzhörte, wie die Mutter das Geschirr abwusch. Siereden schon wieder von den Nazis, dachte er.Schon öfter hatte er fragen wollen, was dieses Wortbedeute, hatte aber darauf vergessen. Er stellte sichvor, wie er morgen seine Spielgefährten mit demEsel bekanntmachen, wie er mit dem neuenSpielgefährten, dem Esel, Eindruck schinden würde,und schlief ein.[…]MICHAEL SCHARANGist Erzähler, Essayist, Drehbuch- und Hörspielautor.  Jüngst erschien in Berlin bei Suhrkamp  Aufruhr: Ein Roman.


 ZUKUNFT | 39 TERRORSCANDobroslav Houbenov (2014): TerrorscanAbu Sulaiman Al-Utaibi - Why do we wage Jihad© Dobroslav Houbenov


BUCHBESTELLUNGKupon ausschneiden& einsenden an:VA Verlag GmbHKaiser-Ebersdorferstrasse 305/31110 WienICH BESTELLE "ACHT STUNDEN ABER WOLLEN WIR MENSCH SEIN"PREIS 19,90 € ZZGL. 9 € PORTONAME: _________________________________________________________________STRASSE: _______________________________________________________________ORT/PLZ: _______________________________________________________________TEL.: ______________________________E-MAIL: _____________________________UNTERSCHRIFT: _______________________ODER BESTELLUNG PER E-MAIL AN DEN VERLAG: OFFICE@VAVERLAG.ATSOLANGE DER VORRAT REICHT