08/2020 POLITIK UND LITERATUR SEIT  1946 5,– Euro P .b.b. Abs.: Gesellsc haft zur Herausgabe der Zeitsc hrift Z U K U N FT , Kaiserebersdorferstrasse 3 05/3, 111 0 W ien, M Z 14Z0 40222 M, Nr . 0 8/2020 Schlafen werden wir später Lena Wiesenfarth Spinoza aktuell Christian Zolles Kultur, Literatur und Politik Dieter Kramer Windsausen Johanna Lenhart


EDITORIAL Dass die Literatur und das literarische Feld zu Seismografen  der gesellschaftlichen und damit immer auch der politischen  Verhältnisse werden können, kennzeichnet seit jeher die kri- tische und aufgeklärte Rolle und Funktion des Poetischen. Denn zwischen Fakt und Fiktion oder Wahrheit und Lüge  situiert sich nicht zuletzt seit der Poetik des Aristoteles das Li- terarische als ein Ort der permanenten Aushandlung sozialer und demokratischer Problemfelder. Aus diesem Grund legt die Redaktion der ZUKUNFT mit der Ausgabe 08/2020 eine Schwerpunktausgabe zu Politik und Literatur vor, um aufzuzei-gen, wie in unserer Gegenwart die Dispositive des Politischen auf unterschiedlichen Ebenen von den Ästhetiken des Lite-rarischen durchzogen sind. Denn der Möglichkeitsraum der Literatur eröffnet den Blick auf eine Wirklichkeit, die erst in einer offenen ZUKUNFT zur politischen Realität werden kann. Den Reigen unserer Ausgabe beginnt demgemäß Dieter Kramer, der hervorhebt, dass Sprache und menschliche Symbolwelten in einer gegebenen Kultur die zentralen Me- dien der Kommunikation sind, weshalb der Autor gerade der  Literatur eine eminente kulturpolitische Bedeutung beimisst. So scheint es evident zu sein, dass literarische Produkte ge- sellschaftliche Anstöße für offene Diskussionen geben kön- nen, wie auch alle Beiträge dieser Ausgabe belegen. Dabei hebt Kramer hervor, dass gerade die (literarische) Vielfalt von besonderer demokratiepolitischer Qualität ist. Denn solange noch möglichst viele lesen oder ähnliche Wahrnehmungen und relevante Symbolwelten haben, gibt es gerade angesichts der Literatur immer wieder die Chance, dass Anstöße für po-litische Neuorientierungen diskutabel werden.  In diesem argumentativen Rahmen zeichnet dann auch Christian Zolles anhand von Jürgen Habermas’ im vergan- genen Jahr erschienenen Mammutwerk Auch eine Geschich- te  der Philosophie die Genealogie demokratischen Denkens nach, um den Weg der Begründung des Vernunftrechts und  der Meinungsfreiheit für alle Menschen als einen kollektiven  Lernprozess zu begreifen, der auf dem Weg zu einer delibe- rativen Demokratie an einem radikalen Denker nicht vorbei-gehen kann: Die Rede ist von Baruch de Spinoza, dem Phi-losophen der Dichter*innen, der maßgeblich daran beteiligt  war, den theologischen Glauben durch das rationale Wissen  zu ersetzen. Nicht zuletzt deshalb zieht Zolles eine litera-turspezifische Linie, die von Habermas über Spinoza zu den  Literaturnobelpreisträger*innen Elfriede Jelinek und Peter Handke führt. Eine für die österreichische Literaturgeschichte wichtige Li- nie, die Johanna Lenhart weiterführt, wenn sie anhand von  Handkes Theaterstück Zdenĕk Adamec. Eine Szene die immer  wieder virulente Frage aufwirft, wie wir als politische Men- schen auch poetische Menschen werden können. Denn der mehr als berührende und schockierende Freitod von Zdenĕk  Adamec, der sich aus Protest gegen die gesellschaftlichen Ver- hältnisse am 6. März 2003 am Prager Wenzelsplatz verbrann-te, wird gerade in der dramatischen Bearbeitung von Peter Handke zu einem Symbol für die Grenzen der menschlichen  Existenz und die prekären Möglichkeiten des (individuellen)  Widerstands. In diesem Zusammenhang zeigt uns Lenhart,  dass gerade der angeblich unpolitische Handke in seinen po-etischen Zügen immer wieder politische Relevanz zu Papier bringt, was nicht erst mit seiner Haltung angesichts der Zer-schlagung Jugoslawiens deutlich wurde. Dass die Poesie auch mit den romantischen Aspekten des Schlafens und des Träumens verbunden ist, arbeitet dann Lena Wiesenfarth in ihrem luziden Beitrag heraus, der uns  daran erinnert, wie sehr wir davon abgekommen sind, uns auszuschlafen. Die Taktungen des Spätkapitalismus haben uns in eine Gesellschaft der Schlaflosigkeit geführt, in der aus  8/8/8 nur mehr ein 24/7 übriggeblieben ist, wie die Autorin  im Rekurs auf Jonathan Crary betont. Im Blick auf Joseph  Eichendorffs Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts (1826) wird deutlich, dass auch der Müßiggang – und mit ihm der  Schlaf – heute deshalb unter Verdacht steht, weil er den öko-nomischen Produktivitätszwängen entgegensteht und angeb-


 ZUKUNFT | 3  lich wertlos ist. Wo und wie finden wir eigentlich noch Ruhe und Entspannung? Dass die Literatur auch Antworten auf ganz konkrete politi- sche Probleme gibt, arbeitet dann Erkan Osmanović he- raus, der anhand der Romane von José Samarago zeigt, dass  wir gleichzeitig in einer Stadt der Blinden und der Sehenden  leben. Warum werden z.  B. im Rahmen unserer repräsenta-tiven Wahlsysteme die Nichtwähler*innen so wenig repräsen-tiert? Könnte es nicht sein, dass auch im Akt des Weiß-Wählens die grundlegenden sozialen Klüfte unserer Gesellschaft auf den  Punkt gebracht, aber eben nicht öffentlich artikuliert werden? Osmanović legt deshalb nahe, dass die wahlpolitisch Blinden vielleicht die sozialpolitisch Sehenden sind. Denn im bedenkli- chen Wackeln der politischen Repräsentation erweisen sich die  Romane von Samarago als sensible Skripten einer gesellschafts-kritischen Diagnose, nach der gerade den Ausgeschlossenen und Benachteiligten mehr Zuneigung, mehr Ressourcen und  mehr Wahlmöglichkeiten gegeben werden müssten. Nach allen in dieser Ausgabe vorgestellten Perspektiven auf das  Thema Politik und Literatur schließt dann ein dezidiert literari- scher Beitrag den Reigen. Denn die Redaktion freut sich, dass  Judith Nika Pfeifer zugestimmt hat, einen Auszug aus ihrem mehrfach gelobten Roman Violante in der ZUKUNFT abzudru-cken. Davor hat sie Thomas Ballhausen ein Interview ge-geben, das zeigt, wie Wahrheit und Lüge sich überlappen und dabei immer auch das Verhältnis von Sprache und politischer Macht durchziehen. Ganz in diesem Sinne ist auch die Ge- schichte des Femizids von Violante in ein multispektrales Nar- rativ eingebettet, das im Erzählen von (Frauen-)Geschichte(n) den Gegensatz von Fakt und Fiktion an seine Grenzen bringt. Dabei erinnern die Erzählweisen Pfeifers an die Inszenierun-gen von Opern oder die Schnitttechnik von Quentin Taranti-no und zeigen auch auf dieser Ebene, das Kunst und Literatur permanent an der Verarbeitung des Wirklichen beteiligt sind,  wenn sie anhand der Vergangenheit die Möglichkeiten der ZU- KUNFT zu Papier bringen. So steht mit allen Beiträgen dieser Ausgabe ein Bild des Ver-hältnisses von Politik und Literatur vor Augen, das nur darauf  wartet, von unseren Leser*innen aufgenommen und ausgedeu- tet zu werden. Denn wenn Politik immer wieder literarisch  verarbeitet wird ist auch der Bereich der Literatur als ein Ort  ausgewiesen, an dem die Politik gleichzeitig ihre Grenze und ihre Herausforderung findet. Der homo politicus kommt dann zu sich im homo poeticus … und umgekehrt. Danken möchten wir im Sinne des Kommunitarismus den frei- en Archiven von Wikimedia Commons, die es uns ermöglichen, angesichts des Themas eine Bildstrecke zu präsentieren, die das  Ästhetische, Poetische und Literarische im Gesamtwerk von Anselm Kiefer vor Augen führen mag. Denn zeigt sich die Li- teratur in bleiernen Büchern, so steht in der ZUKUNFT auch die Frage der bleiernen Zeit à la lettre vor Augen … Wir wünschen unseren Leser*innen, dass diese Ausgabe rhi- zomatische Ideen und Anregungen bringt, um sich auf eige-nen Wegen dem Verhältnis von Politik und Literatur zu nä-hern.  Nichts würde die Redaktion der ZUKUNFT mehr freuen, als wenn diese Ausgabe Ihnen dahingehend als Karte dient, um sich in ein Land aufzumachen, das zwischen Politik und Litera-tur keine Grenzen kennt …  ALESSANDRO BARBERI ist Bildungswissenschaftler, Medienpädagoge und Privatdozent. Er lebt  und arbeitet in Wien und Magdeburg. Politisch ist er in der SPÖ Landstraße  aktiv. Weitere Infos online unter: barberi.red. THOMAS BALLHAUSEN lebt als Autor, Kulturwissenschaftler und Archivar  in Wien und Salzburg. Er ist international als Herausgeber,   Vortragender und Kurator tätig.




Inhalt IMPRESSUM Herausgeber: Gesellschaft zur Herausgabe der Zeitschrift »Zukunft«, 1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3 Verlag und Anzeigenannahme: VA Verlag GmbH, 1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3, office@vaverlag.at Chefredaktion: Caspar Einem, Ludwig Dvořak (geschäftsführend) Redaktion: Alessandro Barberi, Bernhard Bauer, Elisabeth Felbermair, Senad Lacevic, Philipp Oberhaidinger, Armin Puller, Thomas Riegler, Michael Rosecker, Jennifer Sommer, Artur Streimelweger, Anna Vukan Gastredakteur: Thomas Ballhausen Cover: Anselm Kiefer, Ave Maria, Getrocknete Rosen, Erde, Blei und Leinwand auf Karton, 190.5 x 139.7 cm, 2007, (c) Wikimedia Commons (author: Avalogy) 6  Kultur, Literatur und Politik      voN DieTer Kramer 10  Spinoza aktuell            voN ChrisTiaN Zolles 18    Windsausen: Wohin mit der Wut?    voN JohaNNa leNharT 24    Schlafen werden wir später    voN leNa WieseNFarTh 30   Gegen den Verdruss. Gedanken zum Nichtwählen    voN erKaN osmaNoviĆ  34    Fiktion ist nie komplett anders als Realität    iNTervieW miT JUDiTh NiKa PFeiFer       (GeFÜhrT voN Thomas BallhaUseN) 36    Violante (Textauszug)    voN JUDiTh NiKa PFeiFer ANSELM KIEFER, AVE MARIAGETROCKNETE ROSEN, ERDE, BLEI UND LEINWAND  AUF KARTON, 190.5 X 139.7 CM, 2007 (C) WIKIMEDIA COMMONS (AUTHOR: AVALOGY)


 6 | ZUKUNFT  Dass Sprache und menschliche Symbolwelten in einer gegebenen Kultur die zentralen Medien der Kommunikation sind, arbeitet  DIETER KRAMER  in seinem Essay heraus, der deshalb auch der Literatur eine eminente kulturpolitische Bedeu- tung beimisst. Denn es sind oft literarische Produkte, die gesellschaftliche Anstöße für Neuorientierungen geben. Kultur, Literatur und  Politik I.  KULTUR UND KÜNSTE  Im deutschen Sprachgebrauch werden im Alltag unter Kul- tur gern die Künste, das kulturelle Erbe und die Institutionen zu deren Pflege verstanden. Sinnvoller ist es, einen erweiterten Kulturbegriff zu verwenden: Er soll sich nicht auf Alles und Je-des beziehen, wohl aber auf die „ideelle Lebensgrundlage“ der  „ganzen Lebensweise“ samt der im Leben einer Gesellschaft der  Gleichen entwickelten und sich dynamisch anpassenden Wer- tesysteme, Traditionen und Überzeugungen. Seit der UNesCo- Kulturkonferenz von Mexiko 1982 wird international gern  eine von Anthropologie und Ethnologie geprägte Definition benutzt, in der Kultur als „Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigen- schaften angesehen wird, die eine Gesellschaft oder eine soziale  Gruppe kennzeichnen, und die über Kunst und Literatur hin- aus auch Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wer-tesysteme, Traditionen und Überzeugungen umfasst.“ Wie Menschen leben wollen und worin sie die Qualität  ihres Lebens sehen, das entscheidet darüber, welche Ziele sie  sich setzen und wie sie mit ihren Möglichkeiten und Res-sourcen umgehen. Die heutigen Rechtsstaaten in Europa sind aus den sozialen und demokratischen Bewegungen der letz- ten Jahrhunderte hervorgegangen und sie haben Wurzeln im  Erbe von Antike, Judentum, Christentum, Islam, Humanis- mus, Aufklärung und Klassik. Die davon geprägte Wertewelt ist verantwortlich für die in den Verfassungen formulierten politischen und sozialen Grundrechte. Vom Staat, den sie mit ihren Steuern finanzieren, erwar- ten die Menschen Leistungen, die zu ihrer Lebensqualität bei-tragen. Dazu gehören öffentliche Sicherheit, Infrastruktur und eine gesunde natürliche Umwelt, ein öffentliches Ge- sundheitssystem, eingeschlossen die Hilfe zur Sicherung der mentalen Gesundheit. Die Menschen erwarten Rahmenbe-dingungen für die Chance, durch die eigene Arbeit ein ausrei-chendes finanzielles Einkommen und auskömmliche Alterssi-cherung sowie bezahlbares anständiges Wohnen zu gewinnen.  Zur Infrastruktur gehören dabei immer auch lebenslange Bil- dungsmöglichkeiten. In einer sich verändernden Welt suchen  Menschen Chancen, sich immer wieder neue Arbeits- und  Alltagstechniken anzueignen. II.  LEBENDIGE KULTURELLE MILIEUS FÜR ALLE Die Förderung des kulturellen Lebens und die Pflege des  kulturellen Erbes gehören demgemäß wie Bildung und Ge- sundheit zu den sozialen Grundrechten und sind für den So-zialstaat im Rahmen der „allgemeinen Daseinsfürsorge“ eine  Verpflichtung. Lebendige kulturelle Milieus für alle tragen bei  zum Zusammenhalt der Gesellschaft. „Kultur für alle“ ist da-her kein sozialromantisches Programm, sondern gehört zu den Leistungen des Sozialstaates. Mit einem lebendigen, al-len zugänglichen kulturellen Leben und einem breiten Bil-dungsangebot auf allen Ebenen samt einer vielfältig entwi-ckelten Medienlandschaft wissen mündige Staatsbürger*innen auch eher völkische oder „identitäre“ Ideologien, Verschwö-rungstheorien und fake news richtig einzuschätzen. Denn in lebendigen kulturellen Milieus werden Toleranz, Diskurs, de-mokratische Verfahren und wechselseitige Akzeptanz einge-übt. Wie wichtig das für die Lebensqualität ist, erkennt man angesichts der Verrohung vieler Umgangsformen. Lebensqualität wird gefördert durch die Vielfalt von Bezie- hungen der Individuen zu ihren Mitmenschen sowie zu der sie umgebenden natürlichen und geschichtlichen Welt. Sie wächst  KULTUR, LITERATUR UND POLITIK  VON DIETER KRAMER


 ZUKUNFT | 7  mit der Entfaltung der Qualitäten und Möglichkeiten des eige-nen Körpers, der Sinne, der emotionalen und rationalen Aus-drucksfähigkeit. Dafür Infrastruktur und Gelegenheiten zu schaffen ist Aufgabe der Kulturpolitik. Angebote allein reichen nicht aus, es muss auch Gelegenheiten und Anregungen geben für die Entfaltung solcher Beziehungen und zur aneignenden  Auseinandersetzung mit Künsten und Wissenschaften. Eigene  ästhetisch-kulturelle Aktivitäten etwa mit Musik, Schauspiel, bildender Kunst oder Schreiben erleichtern dies und verdienen  Förderung, ebenso breit gestreute Formen der wissenschafts- nahen Erkundung von Welt und Umwelt. Künste und lebendige kulturelle Milieus dürfen daher we- der Ware noch Luxus sein. Keiner einzelnen sozialen Gruppe sollen sie bevorzugt zur Verfügung stehen. Es geht in der Kul-turpolitik also nicht um repräsentative Umwelten für selbster-nannte Eliten des Reichtums und der Macht, oder um Insti-tutionen und Leistungen, mit deren Förderung Unternehmen ihr Image pflegen und ihren Gewinn steigern können. Es geht auch nicht um eine solche „Kreativwirtschaft“, die nichts  weiter vollbringt als zur Sicherung des selbstzweckhaften  Wachstums der kapitalistischen Marktgesellschaft beizutragen.  Soziale und sozialkulturelle Innovationen sind wichtiger als  wirtschaftlich nutzbare Start-ups. Kultur und Künste dürfen  nicht nach ihrer Umwegrentabilität beurteilt oder nur als In- strumente von Identitätspolitik und Städtewerbung betrachtet  werden. Sie sind nicht das Sahnehäubchen der Politik, son- dern notwendiges Vitamin und Salz in der Suppe, auch Hor-mon und Katalysator. In den europäischen Einwanderungsgesellschaften leben  Menschen mit unterschiedlichen kulturellen (religiösen, mili-euspezifischen, regionalen, sexuellen) Prägungen gemeinschaft-lich in einem Territorium. Sie kommunizieren notwendiger- weise fortwährend miteinander. Dabei sind es nicht „Kulturen“  oder „Identitäten“, die in Dialog treten, sondern immer von unterschiedlichen Traditionen geprägte Individuen. Sie sind nie auf Dauer in einem engen Käfig einer eigenen Kultur gefan-gen, sondern sind lernfähig. Sie können sich ändern und tun dies auch immer. Rassismus, Fremdenfeindschaft und Intole-ranz zerstören das Zusammenleben und die Lebensqualität. III. SYMBOLWELTEN UND SPRACHE „Man kann mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß  von allen Aspekten der menschlichen Kultur die Sprache als  erste eine hochentwickelte Form erhielt und daß ihre Ver- vollkommnung eine Voraussetzung für die Entwicklung der Kultur als Ganzes ist.“ Das schreibt der einflussreiche nord- amerikanische Sprachwissenschaftler Edward Sapir im Jahr  1937. Mit der Sprache begreifen und gestalten die Menschen  ihre Welt. Wenn Menschen im „Sozialisationsprozess“ sich in die Gewohnheiten der Gemeinschaft ihrer Mitmenschen ein-leben, dann dient „schon das Vorhandensein einer gemein- samen Sprache als besonders mächtiges Symbol der sozialen  Solidarität all derer …, die diese Sprache sprechen.“ (Sapir). Sprache ist Teil der Kultur einer Gesellschaft, eingeschlos- sen sind da auch die Mundarten, die Ausdruck und Ergeb- nis des kreativen Umganges mit der Lebenswelt sind. Mit der Sprache werden auch jene Symbolwelten gestaltet, die neben den Worten und Begriffen der Sprache verbindendes Eigen-tum einer Gemeinschaft sind: Redewendungen, Sprichwör-ter, Motive von Märchen und Sagen gehören dazu. Es sind  von Vielen gekannte „zitierfähige“ Bilder: Wenn sie in der  Sprache, egal ob mündlich oder gedruckt, verwendet werden,  wecken sie bei den Adressaten vertraute Vorstellungen, die Teil der Wertewelt werden. Deswegen legen Nationalstaaten  besonderen Wert auf solche von allen verstandene Symbol- welten – mythische Gründerfiguren und Helden, Ahnherren,  aber auch historische Repräsentanten zentraler Wertvorstel-lungen wie Wilhelm Tell. Sprache und geteilte Symbolwelten ermöglichen Streit- kultur. Sie bändigen auch den Streit, sobald man sich darum bemüht, die anderen zu „verstehen“, nämlich nachzuvollzie-hen, was jeweils gemeint ist. Bild-und Symbolwelten schaf-fen Bezüge, sie assoziieren Werte. Sprichwörter, vertraute ge- sungene Lieder, auswendig gelernte Gedichte beziehen sich darauf. IV.  DAS BUCH UND DIE LITERATUR Und damit sind wir bei der Literatur. Was war (wäre) die  Welt von Kindern und Heranwachsenden ohne die Möglich- keit, sich in Buchwelten zu versenken? Bei allen Qualitäten und emotionalen Bezügen, die viele von uns mit dem ge-druckten Wort und dem papiernen Buch verbinden, kann und muss man als deren legitime Nachfolger Comics, Hörbü-cher und auch Computerspiele akzeptieren. Vor den Büchern gab es schließlich auch schon Überlieferungen und Phanta- siewelten, die mündlich überliefert waren, aber auf lange Tra-dierung zurückblickten: Die Welt der antiken griechischen 


 8 | ZUKUNFT  KULTUR, LITERATUR UND POLITIK  VON DIETER KRAMER Kolonien im ganzen Mittelmeer wurde zusammengehalten  durch Homer mit Ilias und Odyssee, die als weitgehend stabile mündliche Überlieferung überall präsent waren. Der Fundus einer „Nationalliteratur“ trägt zur Einheit,  zum einheitlichen Wertesystem bei. Das ist in der deutschen  Klassik erkennbar, in der die literarischen Produkte der In-tellektuellen auch den Weg in die populären Welten fanden. Die damals „entdeckten“ Volkslieder sind häufig beeinflusst von den Werken der Literaten aus der Renaissance und Klas- sik. Aber Zeiten enger Kontakte zwischen den sozialen Mili- eus auf dem Gebiet der ästhetisch-kulturellen Ausdrucksfor-men wie die Klassik sind die Ausnahme. Viel häufiger gibt es in Klassengesellschaften Milieus mit mehr oder weniger deut-lich unterschiedenen Symbolwelten. Gewerkschaftsbibliothe-ken waren von Anfang an Teil der politischen Bewegung der  Arbeiter*innen. Die Werber der Büchergilde Gutenberg wa- ren einst in den Betrieben unter den Belegschaften präsent. Sie traten nicht auf als Propagandisten einer sektiererhaften ei-genen Bücherwelt, sondern die von ihnen verbreiteten Texte  waren verbunden mit der nationalen Literatur. Immer legten  sie besonderen Wert auf ihre humanen, demokratischen und  herrschaftskritischen Dimensionen. Die Volksbildungsbewe-gung versuchte seit dem späten 19. Jahrhundert über die För-derung von Büchereien bürgerliche Werte und Qualitätsvor- stellungen zu verbreiten. Für viele Leser*innen sind Bücher immer noch unver- zichtbar, sie bereichern, sie bedeuten Lebensqualität. Und sie nehmen immer auch Teil an der Ausgestaltung dessen, was im demokratischen Staat die „ideelle Lebensgrundlage“ der mehr oder weniger geteilten Werte ist. Damals wie heute gibt es trotz aller Bemühungen wie denen der Stiftung Lesen in  Deutschland und ähnlichen Initiativen anderswo keinen Ka-non von allseits bekannten Literaturprodukten, auch nicht für Schulen. Es gibt auch keine überall aufgenommenen und dis-kutierten „Literaturereignisse“, selbst wenn die Feuilletons so tun als gebe es sie. Günter Wallraff war mit seinen Büchern  zur Arbeitswelt früher einmal in (fast) allen sozialen Milieus ein wahrgenommenes „Ereignis“. In der ehemaligen DDr ge-langten Autor*innen wie Christa Wolf auch mit nur „unter dem Ladentisch“ präsenten Büchern zu ähnlicher Bedeutung in West- und Ostdeutschland. Diese Beispiele zeigen, wie  wichtig Literatur für die Entwicklung eines öffentlichen Be-wusstseins ist, das dann auch Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft ausübt. Man kann solche „Leseereignisse“ nicht beliebig produ- zieren. Analog zur Tendenz der Vereinzelung der Individuen begünstigt die neoliberale Marktgesellschaft kaum solche von  vielen geteilte Literaturerlebnisse, deswegen gibt es auch kei- ne breite literarische Diskussion, kaum über die Bildungsmi-lieus hinaus zitierfähige und gekannte literarische Produkte zur Auseinandersetzung mit der „Postwachstumsgesellschaft“.  Wie sollte es auch in einer Gesellschaft dazu kommen kön- nen, in der es immer mehr Analphabet*innen gibt und in der Migrant*innen aus ganz anderen kulturellen Traditionen ihre eigenen Symbolwelten mitbringen. V. SCHLUSS Aber ist nicht Vielfalt ohnehin eine besondere Quali- tät? Solange noch möglichst viele lesen und lesen können oder über ähnliche Formen der Wahrnehmung von relevan-ten Symbolwelten verfügen (auch im Internet), gibt es im-mer wieder die Chance, dass ein literarisches Produkt Anstö-ße für Neuorientierungen gibt. Vielleicht aber gibt es doch auch immer noch Symbolwelten, von denen nahezu alle di-rekt oder indirekt Kenntnis nehmen? Die zahllosen Dysto-pien, die negativen Zukunftsvorstellungen, Slogans aus Wer-bung, Texte und Kürzel aus populärer Rap- und Pop-Musik, Filme und Fernsehfolgen wie Star Wars – gehören sie nicht zum Allgemeinbesitz? Und sind denn nicht sogar Musikzita-te von Beethoven oder Mozart über die Werbung allgemein  verbreitet? DIETER KRAMER  habilitierte an der Universität Wien im Fach Europäische Ethnologie  und war u. a. Oberkustos im Museum für Völkerkunde (jetzt Weltkulturen  Museum) der Stadt Frankfurt am Main.


 ZUKUNFT | 9  Literatur Abendroth, Wolfgang (1967): Antagonistische Gesellschaft und politische Demokra- tie (Soziologische Texte 47), Berlin: Neuwied. Röbke, Thomas (1993): Zwanzig Jahre Neue Kulturpolitik. Erklärungen und Do- kumente 1972–1992 (Edition Umbruch, Bd. 1), Hagen/Essen: Kulturpolitische Ge- sellschaft, darin: Die Erklärung von Mexiko-City über Kulturpolitik 1982, 55–63. Hoffmann, Hilmar (1981): Kultur für alle, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer. Kramer, Dieter (2012): Kulturpolitik neu erfinden. Die Bürger als Nutzer und Ak- teure im Zentrum des kulturellen Lebens (Edition Umbruch. Texte zur Kulturpoli- tik 28), Bonn: Kulturpolitische Gesellschaft; Essen: Klartext. Sapir, Edward (1966): Die Sprache, in: Kulturanthropologie, hg. v. Wilhelm Emil  Mühlmann und Ernst W. Müller, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1966, 108–136. Anselm Kiefer exhibition in white cube Anselm Kiefer, Ramanujan Summation – 1/12 Emulsion, Öl, Acryl, Schellack und Holz auf Leinwand 660 x 665 cm, 2019  © Wikimedia Commons (author: cattan2011)


 10 | ZUKUNFT  CHRISTIAN ZOLLES  zeichnet die Genealogie demokratischen Denkens, den Weg der Begründung des Vernunftrechts  und der Meinungsfreiheit für alle Menschen, über Jürgen Habermas’ im vergangenen Jahr erschienenes Mammutwerk Auch eine Geschichte der Philosophie nach. Mit einiger Überraschung heißt für Habermas einer der zentralen historischen Brückenköpfe auf unserem kollektiven Lernprozess in Richtung einer deliberativen, an der kommunikativen Mitgestaltung orientierten Demokratie: Baruch de Spinoza, der Philosoph der Dichter*innen. Spinoza aktuell Zur Genealogie des Vernunftrechts und der Meinungsfreiheit Mit Habermas von Spinoza zu Jelinek und Handke SPINOZA AKTUELL  VON CHRISTIAN ZOLLES I.  POLITISCHE BILDUNG UND   MENSCHENRECHTSBILDUNG Jede Generation hat von Neuem das Recht, sich ihre eige- nen Gedanken über den Lauf der Geschichte und die Ausle-gung der herrschenden Gesetze zu machen (Kant 1784/1983: 58). Sie hat das in den Gesetzen selbst angelegte Recht, ihre Gedanken offen auszusprechen und öffentliche Kritik zu for-mulieren, wenn sie Verstöße gegen das politische, den homo politicus betreffende (und also nicht ein ökonomisches, den homo oeconomicus betreffendes) Vernunftprinzip erkennt. Ein Prinzip, dass ein dem Gleichheitsprinzip widersprechendes systemisches Herrschaftsgefälle erfährt und daher die Autori-tät zahlreicher Erwachsener adressiert, welche „eigentlich nur den Erwachsenen spielen, der sie nie ganz geworden sind“ (Adorno 1969/2013: 141). Demokratische Einsichten wie diese haben in Österreich  erwartungsgemäß eine überschaubare Tradition. Das lässt sich etwa gut am Prozess der Implementierung der Politischen Bil-dung an den heimischen Schulen nachvollziehen: Ab den spä-ten 1970er Jahren als typisch österreichischer Kompromiss in Form eines weitgehend diffusen Unterrichtsprinzips einge-führt, fristete es aus Furcht vor parteipolitischer Indoktrinati-on und gemäß einer „Dialektik des Unpolitischen“ Jahrzehn-te lang ein Schattendasein (Hellmuth 2012: 12f.). Spätestens aber seit 2007, seit der Senkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre und mit der Einsicht, dass es entsprechender didakti-scher Vermittlungsmethoden bedarf, sind deutliche Ansätze hin zu einer Professionalisierung der politischen Bildung zu erkennen. So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter  Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie. Jürgen Habermas, in der Frankfurter Rundschau vom 15. April 2020 Menschenrechte können erst auf dem Wege demokratischer   Willensbildung als Grundrechte positive Geltung erhalten. Wenn  aber demokratische Bürger nur den allgemeinen Gesetzen gehor- chen, die sie sich selber, und zwar alle gemeinsam, gegeben ha- ben, können sie auch keiner Politik zustimmen, die entgegen ihrer   Gleichberechtigung das Leben einiger um der Interessen aller anderen  willen aufs Spiel setzt. Jürgen Habermas, in Die Zeit vom 7. Mai 2020 JÜRGEN HABERMAS AUCH EINE GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE Berlin: Suhrkamp 1752 Seiten | € 58,00 ISBN: 978-3-518-58736-2 Erscheinungstermin: November 2019


 ZUKUNFT | 11  Der Strukturwandel zeichnet sich an der Einrichtung di- daktischer Institutionen sowie der Überarbeitung der Lehr-pläne und des allgemeinen Unterrichtsprinzips ab. Gefördert und gefordert werden nun verstärkt die Reflexion der Frage-stellung, „wodurch Herrschaft und Autorität von der Gesell-schaft als rechtmäßig anerkannt werden“, die Wahrnehmung „demokratische[r] Mitbestimmungsmöglichkeiten auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen“ sowie das Enga-gement, „die eigenen Interessen, die Anliegen anderer und die Belange des Gemeinwohls zu vertreten“ (Unterrichtsprin-zip 2015). Komplementär zur Vermittlung dieser Einsichten, „dass  jeder und jede Einzelne durch aktives Engagement Verände-rung bewirken kann“ (ebd.), sind die aktuellen Bemühungen der Menschenrechtsbildung zu verstehen. Diese gehen noch über die Bewusstmachung der demokratischen und partizipatori-schen Rechte der Staatsbürger*innen hinaus und behandeln das weit breitere Spektrum der Menschenrechte und Grund-freiheiten. Noch umfassender soll hier dazu animiert werden, „einen Beitrag zum Aufbau und zum Schutz einer allgemei-nen Kultur der Menschenrechte in der Gesellschaft zu leisten“ (Europarats-Charta 2010). Damit haben wir im Rahmen der Demokratie- und Men- schenrechtsbildung zwei wesentliche Bereiche benannt, die man sich als zwei Seiten einer Medaille vorstellen muss: einer-seits die Stärkung der allgemeinen Partizipationsrechte, anderer-seits den Schutz der allgemeinen Grundrechte, welche gerade auch für jene gelten, die nicht an dem am Gemeinwohl ori-entierten öffentlichen Diskurs – etwa durch Nichtteilnahme an oder Ausschluss von Wahlen – partizipieren wollen oder können. II.  PHILOSOPHIEGESCHICHTE ALS GESCHICHTE    WESTLICHER LERNPROZESSE In Anbetracht des Umstandes, dass die oben angeführ- ten Bildungsziele und ihre außerordentliche Relevanz für die Auseinandersetzung mit politischer Propaganda all-zu häufig eine vorschnelle Aburteilung erfahren, soll im Folgenden noch einmal daran erinnert werden, wie die Herausbildung des modernen politischen Bewusstseins historisch-genealogisch zu begreifen und welche Verant- wortung damit verbunden ist. ‚Genealogisch‘ ist dabei in dem Sinne zu verstehen, in dem der Begriff zuletzt von einem der wichtigsten deutschsprachigen Verfechter einer deliberativen, an zivilgesellschaftlicher Mitsprache orien-tierten Demokratie aufgegriffen wurde. Jürgen Habermas versteht sein im vergangenen Jahr erschienenes zweibän-diges  Auch eine Geschichte der Philosophie (Habermas 2019) ganz wesentlich als eine Darstellung westlicher philosophi-scher Lernprozesse, die aus einer okzidentalen Konstellati-on von Glauben und Wissen heraus zu einer ‚Vernünftigen Freiheit‘ geführt haben. Habermas geht es ganz zentral um die Analyse eines nach- metaphysischen Denkens, wie es sich nach dem Zeitalter der Reformation und mit dem Aufkommen der Naturwissen-schaften zunehmend angebahnt hat. Besonders bedeutend ist auf der einen Seite die Entwicklung der säkularen Vernunft in eine autonome, sich von einem metaphysischen Denken in (religiösen) Weltbildern absetzende Richtung. Die Reflexion über den Menschen kann sich nun von der Theologie, von der Politik- und Rechtsphilosophie sowie den Naturwissen-schaften emanzipieren – bis man bei David Hume und Im-manuel Kant die Inbegriffe eines modernen subjektphiloso-phischen Denkens antrifft. Über die reflektierende Vernunft kann sich der Mensch nun prinzipiell selbst in der Welt ver-orten, er benötigt keinerlei ‚höheren Mächte‘ und kann sich selbst die Frage nach seinen Abhängigkeiten und Freiheiten stellen. Interessant ist auf der anderen Seite, wie Habermas die  Stricke zu früheren Glaubenssystemen nicht einfach kappt, sondern eine ständig fortschreitende Ausdifferenzierung zwi-schen Norm und Performanz erkennt: so geht er auf die Be-dingungen und Wechselwirkungen ein, unter denen sich ein gesetzlicher Kern vernünftigen Handelns herausgebildet hat, dem wir uns gesamtgesellschaftlich moralisch verpflichtet füh-len. Denn es sollte keineswegs als selbstverständlich angese-hen werden, dass wir uns heutzutage in einem öffentlich-po-litischen Freiheitsraum bewegen, den wir uns mit allen anderen Menschen  inklusiv teilen; vergessen darf auch nicht werden, dass es sich dabei um einen von feudalen Mächten erkämpf-ten Raum bürgerlicher Eigengesetzgebung und diskursiven – wissenschaftlichen, räsonierenden wie literarischen – Austau-sches handelt.


 12 | ZUKUNFT  SPINOZA AKTUELL  VON CHRISTIAN ZOLLES Habermas’ Werk ist als großangelegtes Projekt zu verste- hen, den derzeit allerorts vor Augen geführten demokratie-politischen Rückschritten eine Geschichte des vernünftigen so-zialen  Fortschritts entgegenzuhalten. Das macht er allerdings, ohne schönzufärben: „Es sind Spuren der Vernunft in einer Geschichte des gewöhnlichen – und manchmal auch des alle Vorstellungen sprengenden – Unheils.“ In Anbetracht aber des Umstandes, „dass Menschen nicht nicht lernen können“, könne doch angenommen werden, dass „die vergesellschaf-teten Subjekte langfristig ihr Wissen von der Welt kumulativ verbessert“ und „sozialkognitive Fortschritte“ gemacht haben (ebd.: ii, 587). Damit setzt sich Habermas klar von jenen The-orien ab, die seit gut hundertfünfzig Jahren ihre Argumen-te ausgehend vom Postulat eines fundamentalen Werteverfalls entfaltet haben und nicht selten zur geistesgeschichtlichen Le-gitimierung reaktionärer bis faschistischer Politik herangezo-gen wurden. III.  VERNUNFT- IST MENSCHEN-    IST   VÖLKERRECHT Um das Postulat des Fortschritts noch klarer fassen zu kön- nen, soll ein kurzer historischer Rückblick gemacht werden. Wir kommen zurück auf das 16. und 17. Jahrhundert, in ein von der Reformation, von neuen kapitalistischen Dynamiken und schließlich vom grausamen Dreißigjährigen Konfessions-krieg erfasstes Europa, das vor der großen Frage steht, wel-che verbindlichen gesellschaftlichen Normen gefunden wer-den können, die nicht mehr direkt auf einem (reformierten) christlichen Glauben beruhen. Für Habermas schaffen es die Gesellschaftstheorien jener Zeit zwar nicht, ihren religiös be-gründeten Charakter abzulegen, sollten aber dennoch in den kommenden Jahrhunderten jede auf eigene Weise eine gehö-rige Wirkmacht entfalten. In diesen Theorien bildet sich zunächst der Übergang  vom göttlichen Natur- zum menschlichen Vernunftrecht ab. Nicht mehr die kirchliche Verwaltung der göttlichen Ord-nung, sondern die Handlungsmacht der einzelnen Individuen findet sich ins philosophische Zentrum gerückt. Dementspre-chend ist, je mehr die katholische Kirche ihre Deutungshoheit über die Schrift und die Welt verloren hat, die Sprache suk-zessive zum wichtigsten Medium der menschlichen Selbstfin-dung im Glauben und der Selbstverortung in der Welt gewor-den. Eine immer tiefer werdende ‚Kluft‘ zwischen Mensch und Welt, persönlichem Glauben und allgemeinem Wissen tut sich auf. Aber was bedeutet das für den Zusammenhalt der Ge- samtgesellschaft? Wie könnte denn eine neue verbindliche Basis nach dem „Versiegen der sakralen Quellen sozialer Inte-gration“ (ebd.: ii, 51) aussehen? Dieser Zusammenhalt soll nun – durchaus auch in Fort- führung zentraler theologischer Freiheitskonzepte – auf ein vernunftrechtliches Fundament gestellt werden. Wie Haber-mas es ausdrückt, ist es seit der Reformation zu einer „anthro-pozentrischen Entkopplung des Naturrechts von seinen the-oretischen Grundlagen zugunsten des subjektiven Gebrauchs der vernünftigen Autonomie gleicher Rechtssubjekte“ ge-kommen, was eben bedeutet, dass „das Thema der vernünf-tigen Freiheit des Subjekts in den Mittelpunkt der modernen Philosophie“ rückt (ebd.: ii, 94f.). Anders als das Naturrecht, das jede*n zum Gehorsam ei- ner Gesamtrechtsordnung gegenüber verpflichtet, bildet sich das Vernunftrecht also zentral um die Frage der subjektiven Freiheiten aus, wie sie in mehreren Verfassungen niederge-legt werden. Das natürliche Bürgerrecht rückt vor die natür-liche Bürgerpflicht – fortan wird „die Idee des Rechts in der Gestalt der Menschenrechte, das heißt von gleich verteilten na-türlichen Freiheitsrechten, ausbuchstabiert“ (ebd.: ii, 95). Das Recht emanzipiert sich damit als individuelles Freiheitsrecht, die bürgerlichen Gesetze werden nun zur bindenden Kraft der rechtlichen Einhaltung im egalitären Sinne. Wird das politische Gemeinwesen in der Form positi- ven Rechts konstituiert, stellt sich gerade im Zuge des eu-ropäischen Imperialismus die Frage, ob dem Menschenrecht Grenzen gesetzt sind. Es ist dies eine sehr bedeutende, inter-kulturelle philosophische Frage, denn „die Einbeziehung der kolonialisierten Bevölkerungen in die naturrechtliche Be-trachtung [erfordert] eine Perspektivenerweiterung über die christliche Welt hinaus“: „Selbst wenn die Indigenen nach christlichem Maßstäben Sünder wären, könnte sie das nicht ihres Status einer rechtsfähigen Person berauben. …Die Ent-deckung der Neuen Welt bringt dem christlichen Europa zu Bewusstsein, nur eine Provinz innerhalb des Ganzen der Völ-kergemeinschaft zu bilden.“ (Ebd.: ii, 87) Hier setzt die Idee des Völkerrechts an, das insofern zu einer Dezentrierung der Alten Reiche führen sollte, als diese fortan auch die gegen-läufigen Interessen der jeweils Anderen zu berücksichtigen hatten.


 ZUKUNFT | 13   ZUKUNFT | 13  IV.  GENEALOGIE DER GLAUBENS- UND   MEINUNGSFREIHEIT Vor diesen veränderten rechtlichen Hintergründen sind  nun die Gesellschaftstheorien des 17. Jahrhunderts zu ver-stehen, die – am Zwischenweg zwischen dem an naturwis-senschaftlichem Denken orientierten Rationalisten René Descartes (cogito ergo sum) und den nachmetaphysischen Sub-jektphilosophen Hume und Kant – zu begründen versuchen, auf welcher Form von Gemeinsinn in Europa nach dem poli-tischen Streit der Konfessionen aufgebaut werden könne. Thomas Hobbes’ Staatstheorie wird die Frage, ob es einer  absoluten staatlichen Obrigkeit mit diktatorischen Zugriffs-rechten bedarf, um die Gesellschaft im Gleichgewicht zu hal-ten, bejahen. Welchen Privatglauben die Bürger*innen auch immer anhängen mögen, zur Stabilisierung der res publica sol-len sie zu Bürgergehorsam gegenüber einer Staatsreligion und dem „Staat als einer zweckmäßig konstruierten Maschi-ne“ verpflichtet werden: „Unter diesem funktionalistischen Gesichtspunkt zählt die Religion seitdem in allen konserva-tiven Theorien, die wie Hobbes der Aufrechterhaltung von ‚Recht und Ordnung‘ den Primat einräumen, als eine ‚halten-de Macht‘“ (Ebd.: ii, 140). John Locke wird demgegenüber den Grundstein für eine  ökonomische Begründung des Vernunftrechts legen. Er geht von einer religiösen moralischen Grundüberzeugung aller Menschen aus, die auf dieser Basis ihren egoistischen Hand-lungen frei nachgehen sollen. Ausgangspunkt sind die bereits bestehenden Eigentumsverhältnisse, weswegen zwar Wider-standsrecht gegen eine schlechte Regierung erlaubt sei, al-lerdings nicht auf der horizontalen Ebene ungleicher Ei-gentumsverhältnisse. Für die Verfassung der Usa und ihre kapitalistische Ausrichtung sollte diese politische Theorie grundlegend werden. Für Habermas ist es aber vielmehr Baruch de Spinoza, der  „von den zeitgenössischen philosophischen Autoren der Ein-zige [ist], der das demokratische Element in seinem Verfas-sungsentwurf hervorheben wird.“ (Ebd: ii, 103) Schon mit 24 Jahren aus der jüdischen Gemeinde von Amsterdam wegen geäußerter Zweifel an zentralen Glaubenslehren ausgeschlos-sen, entwickelte er eine Ethik, die auf der Annahme einer al-lem zugrundeliegenden göttlichen Substanz beruht. Mensch-liches Ziel sei es, ausgehend von der positiven Gestaltung der individuellen Affekte und Leidenschaften zu einer lebensbe-jahenden Entwicklung der Gesellschaft zu kommen. Damit  ist Spinoza „unter den Philosophen nicht nur … der erste – und für ein weiteres Jahrhundert der einzige – Vorkämpfer für De-mokratie. Auch in puncto liberale Gesinnung und fallibilisti-sches Bewusstsein ist er seiner Zeit voraus, wenn er das Recht auf freie politische und wissenschaftliche Meinungsäußerung radikal einklagt und … die ungehinderte Freiheit der Religi-onsausübung für jede Konfession oder Lehre – ‚ob fromm oder gottlos‘ – fordert.“ (Ebd.: ii, 154f.) Die zentrale Frage, die seit Spinozas fundamentaler Reli- gions- und Traditionskritik im Raum steht, ist, inwieweit der Mensch eine äußere Instanz zur Leitung seiner Gedanken benö-tigt oder inwieweit er eine moralische Vernunft über die Len-kung seiner Gefühle intuitiv selbst entfalten kann. Wie nah kann die Vernunft nach der Trennung von Glauben und Wissen – und gegenüber den mechanischen Konzepten der Naturwissen-schaften – an der direkten menschlichen Erfahrung verbleiben, ohne esoterisch zu werden? In welchem Verhältnis steht eine derartige praktische Vernunft darüber hinaus mit dem durchaus auch ,gewaltsam‘ anmutenden Postulat der Aufklärung, „durch eigene Bearbeitung [des] Geistes sich aus der Unmündigkeit he-raus zu entwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun“ (Kant 1784/1983: 55)? Oder auch: Wie sensualistisch und radikal darf das Wissen sein, um noch als allgemein wahr und das Ge-meinwohl nicht gefährdend anerkannt zu werden? Die modernen Literaturen werden genau dieses Feld be- setzen, das sich gleichsam in der weiten Kluft zwischen Mensch und Welt aufgetan hat, und mit den herrschenden (medialen) Kräften ringen. Baruch de Spinoza © Wikimedia Commons


 14 | ZUKUNFT  V.  SPINOZA UND WIR Eines ist gewiss: Spinozas Philosophie steht der ‚kalten‘  Idee eines sich verselbständigten, über den Menschen stehen-den und mit Volksideologie gefüllten Staats- und Sicherheits-apparates, wie er von rechtskonservativer Seite historisch häu-fig von Hobbes abgeleitet wird, diametral entgegen (Deleuze 1988). Sie ist realpolitisch kaum greifbar, wird in Rechtsthe-orien daher gerne als rein spekulativ und phantastisch diffa-miert, zeugt aber wie kaum ein anderes Denken von der Ge-nealogie bürgerlicher Meinungsfreiheit. Spinoza steht für nicht weniger als den Beginn der Genese des freien Glaubens und Denkens in Europa – und hat gerade deswegen immer wieder die herrschenden Gesetzesvertreter provoziert. Der mit Spinoza verfolgte philosophische Strang zeichnet  die Entwicklung eines aktiven liberalen Bewusstseins nach, das dem zeitlichen Verlauf demokratischer Institutionalisierung weit vorausgegangen ist. Er steht für die Genealogie, für den Lehr- und Lernprozess eines durch und durch humanen Den-kens, wie es uns insbesondere über die Literatur- und Kultur-geschichte vermittelt wird und im deutschsprachigen Raum mit Namen wie Lessing, Herder, Goethe, Fichte u. v. m. ver-bunden ist (‚Spinoza-‘ oder ‚Pantheismusstreit‘ um 1800). Es gibt kaum jemanden, den Spinozas Theorien ‚kalt‘ gelassen hätten. Über Spinoza lässt sich am ehesten die Genese eines in- klusiven demokratischen ‚Wir‘, bestehend aus aktiv an der res publica Teilnehmenden, erschließen, gerade weil er vom Pri-vatesten ausgehend argumentiert. Der in dem ‚Wir‘ zum Aus-druck kommende sittliche Begriff der Totalität „steht und fällt mit seinem performativen Gebrauch, weil er nur aus dieser Perspektive ausdrücken kann, dass sich alle zugehörigen Per- sonen ohne Beschädigung der Quelle ihrer spontanen Selbst-bestimmung und ihrer individuellen Unverwechselbarkeit in eine kollektive Lebensform integriert fühlen“ (Habermas 2019: ii, 566). Demokratie als Lebensform impliziert also, dass ‚unser‘ ge- teilter Lebenszusammenhang „die zwanglose Inklusion der unversehrten Individualität aller Beteiligten gewährt“ (ebd.). Der Gesellschaftsvertrag sollte sich daher nicht (staatlich legiti-miert) über allen ‚Ja‘- und ‚Nein‘-Sagenden begründet verste-hen – eine verlockende und bequeme, aber viel zu einfache, historisch nicht valide und eben undemokratische Annahme –, sondern (staatsbildend) eben aus der Konstellation verschie-dener privater Glaubens- und Meinungsformen heraus. Nur über diesen Weg, der historisch gesehen über religiö- se, nicht über imperiale Formen der Gesellschafts- als Gemein-schaftsbildung führt, lassen sich jene einzigartigen freiheitli-chen Werte erschließen, die wir in Europa vorfinden und die zu jenen wenigen Exportartikeln zu zählen sind, die ökono-misch nicht reproduzierbar sind. Es sind jene Elemente einer historisch  erarbeiteten grundrechtlichen und diskursiven Ba-sis, die ‚uns‘ über die Routinen der alltäglichen institutionel-len „Maschine“ hinausführen und um eine „Weltbürgergesell-schaft“ notwendig ergänzen (Kant 1784/1983: 56 u. 61). VI.  DICHTUNG UND PHILOSOPHIE Wir haben es bei Habermas keineswegs mit einem Lern- prozess der ungebührlichen Gleichmachung zu tun, sondern der zunehmenden Versachlichung, deren „Motor … vor al-lem die kognitiven Dissonanzen“ sind, die also angetrieben wird „durch Konflikte der gesellschaftlichen Desintegrati-on und durch die dadurch ausgelöste Ausdifferenzierung von Recht und Moral“ (Habermas 2019: ii, 561). Die Konflikte sind ‚uns‘ internationalen Demokrat*innen in verschiedenster Form eingeschrieben. Das öffentliche Austragen der Konflikte über kommunikati- ves Handeln (Habermas 1995) ist schließlich auch der Auftrag, der über die Politische Bildung an die jüngste Generation he-rangetragen wird. Denn wie Habermas auf über 1700 Seiten versucht aufzuzeigen, ist das Partizipationsrecht auf Basis und zum Schutz der Grundrechte aus einem historischen und sozio-kognitiven Lernprozess entstanden, den es unbedingt zu er-klären und nachzuvollziehen gilt. Das Unverständnis seitens vieler Erwachsener diesen Bil- SPINOZA AKTUELL  VON CHRISTIAN ZOLLES SPINOZA DIE ETHIK   Ditzingen: Reclam 755 Seiten | € 27,88 ISBN: 978-3150008515 Erscheinungstermin: Januar 1986


 ZUKUNFT | 15  dungszielen gegenüber mag daraus resultieren, dass sie selbst in einer Atmosphäre sozialisiert wurden, die von „Schweige-spiralen“ (Noelle-Neumann 1980) geprägt wurde: von Hem-mungen, die eigene Meinung zu artikulieren, dem Gefühl, keine ‚soziale Haut‘ und keine öffentliche Stimme zu besit-zen, und der paradoxen Bereitschaft, die Stimme dann umso mehr autoritär auftretenden Politiker*innen anzuvertrauen, je mehr gerade diese die freie Meinungsäußerung untergraben wollen. Die Folge ist ein Rückzug ins Private, wo das Ressen-timent gerade in Österreich die wildesten und leider auch wi-derlichsten Blüten getrieben hat. Dass Österreich von der dysfunktionalen Beziehung zwi- schen Privatem und Öffentlichen ‚ein Lied singen‘ kann, be-weist die unglaubliche Stärke und Ausdruckskraft der österrei-chischen (Antiheimat-)Literatur. Es kommt ihr zu, all das ans Licht gebracht zu haben, was nicht auf vernünftigem Wege artikuliert werden konnte. Mit den Worten der österreichi-schen Nobelpreisträgerin für Literatur 2004, die es am besten wissen muss: „Österreich hat nach dem Krieg keine nennenswerten  Philosophen oder Theoretiker mehr hervorgebracht, jeden-falls nicht im Land selbst; das Denken ist von den Nazis aus-getrieben worden und bis heute eigentlich nicht mehr zu-rückgekehrt, also hat sich das in die Kunst hinein verschoben … In der Literatur war es ähnlich. Was in anderen Ländern die Wissenschaft geleistet hat, hat sich in Österreich in den Bereich der Kunst verschoben. Dort sind die bedeutenderen Leistungen erbracht worden. Österreich hat leider keinen Ha-bermas.“ (Jelinek/Janke 2009/2020: 110) So nüchtern und überrational die soziopolitische Theo- rie von Habermas auch wirken mag, so unersetzlich ist sie zur Reflexion des demokratischen Gemeinwohls. Er behandelt jene Seite der Medaille, auf der die politischen Partizipations-rechte einer freien Vernunft vehement performativ verteidigt werden. Ohne diese Seite wäre ihr Gegenüber, das allgemei-ne Grundrecht auf private Glaubens- und Meinungsfreiheit, ohne öffentliche und mediale Verankerung und wäre genau-so von reaktionären Abwertungen gefährdet wie die Philoso-phie von Spinoza. Aus diesem Grund ist es auch so spannend, wichtig und  notwendig, sich weiterhin über und mit Österreichs bekann-testem und streitbarstem Spinozisten auszutauschen – und in diesem Zusammenhang generationenübergreifend die wo- möglich „einzige wirkliche Konkretisierung der Mündigkeit“ zu thematisieren, die im Hinwirken auf „eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand“ erkannt wurde (Ador-no 1969/2013: 145). Gemeint ist die Auseinandersetzung mit Peter Handke, dessen Verleihung des Nobelpreises für Lite-ratur im vergangenen Jahr erneut aufgezeigt hat, wie wich-tig öffentliche und offene Debatten im Erwägen der Meinun-gen sind. Wie kaum in einem anderen Land gilt es also gerade in Ös- terreich, mit der Literatur, mit Autor*innen wie Jelinek und Handke, ins Gespräch zu kommen und über die von Spino-za vermittelten Lehrsätze zur „Liebe zur Freiheit“ und zu den „Geboten der Vernunft“ (Spinoza 2012: 251) – über den rich-tigen Gebrauch ‚unserer‘ Affekte – zu debattieren. Das würde bedeuten, in jedem Wortsinn aufgeklärt und kommunikativ zu handeln; was eben nach Habermas immer auch bedeutet, auf höchstem demokratischen Niveau beherzt zu streiten. CHRISTIAN ZOLLES ist Assistent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für   Germanistik der Universität Wien. Weitere Infos online  unter: www.univie.ac.at/germanistik/christian-zolles/.


 16 | ZUKUNFT  Anselm Kiefer – Glaube, Hoffnung, LiebeEmulsion, synthetische Polymerfarbe,  Schellack auf Fotodokumentpapier auf Leinenleinwand mit Bleikonstruktion 280 x 380 x 75 cm, 1984 (c) Wikimedia Commons (author: Wmpearl) Literatur Adorno, Theodor Wiesengrund (1969/2013): Erziehung zur  Mündigkeit, in: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge  und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969, hg. v. Gerd  Kadelbach, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 133–148. Deleuze, Gilles (1988): Spinoza. Praktische Philosophie,  übers. v. Hedwig Linden, Berlin: Merve. Europarats-Charta zur Politischen Bildung und Men- schenrechtsbildung (2010): online unter: https://rm.coe. int/1680489411 (letzter Zugriff: 01.11.2020). Habermas, Jürgen (1995): Theorie des kommunikativen  Handelns, 2 Bände, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (2019): Auch eine Geschichte der Philo- sophie, 2 Bände, Berlin: Suhrkamp. Hellmuth, Thomas (2012): Professionalisierung ohne  Strukturwandel? Eine Analyse zur Politischen Bildung in  Österreich, in: Diendorfer, Gertraud u. a. (Hg.): Politische  Bildung als Beruf. Professionalisierung in Österreich.  Schwalbach Wochenschau, 11–32. Jelinek, Elfriede/Janke, Pia (2009/2020): „Diese falsche und  verlogene Unschuldigkeit Österreichs ist wirklich immer  mein Thema gewesen“. Elfriede Jelinek im Gespräch, in:  Hebenstreit, Desiree u. a. (Hg.): Austrian Studies. Litera- turen und Kulturen. Eine Einführung, Wien: Praesens,  103–110. Kant Immanuel (1784/1983): Beantwortung der Frage: Was  ist Auf klärung? In: Ders.: Schriften zur Anthropologie,  Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Erster Teil  (Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel 9), Darmstadt: Wissen- schaftliche Buchgesellschaft, 53–61. Noelle-Neumann, Elisabeth: Die Schweigespirale. Öffent- liche Meinung – unsere soziale Haut, München: Langen  Müller 1980. Spinoza, Baruch de (2012): Die Ethik, übers. v. Jakob  Stern, revid. v. Michael Czelinski-Uesbeck, Wiesbaden:  marixverlag. Unterrichtsprinzip Politische Bildung. Grundsatzer- lass (2015), https://bildung.bmbwf.gv.at/ministerium/ rs/2015_12.html (letzter Zugriff: 01.11.2020).


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 18 | ZUKUNFT  I. EINLEITUNG „Wie wird man ein politischer Mensch? […] Warum ist  es so befremdend, eine in jeder Einzelheit politische Exis-tenz zu führen?“ fragte Peter Handke zu Beginn seiner Dan-kesrede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1973. Fragen, denen sich Handke fast 50 Jahre später in an-derer Form immer noch stellt. Im Juli 2019 entstanden und 2020 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt, kreist auch das Theaterstück Zdenĕk Adamec. Eine Szene letzten Endes um diese Frage.  II.  „ZEIT: JETZT ODER SONSTWANN.“ Es ist das Allgemeingültige, das Handke im Rahmen sei- nes Theaterstücks im Speziellen sucht. Bereits in der Regie-anweisung am Anfang des Textes wird klar, dass es keine Rol-le spielt, wo oder wann dieses Stück stattfindet. Was hier zu sagen ist, geht über eine eindeutige Zuschreibung hinaus. Nur  der Ausgangspunkt oder – wollte man zynisch sein – Anlass des Stücks ist schon im Titel enthalten und wird am Ende der (einzigen) Regieanweisung bezeichnenderweise in Klammern gesetzt: „(Als Zdenĕk Adamec, 18 Jahre alt, aus Humpolec im böhmischen Hochland, sich auf dem Wenzelsplatz in Prag verbrannte, war es ein Morgen, und es war Anfang März.)“ Auch wenn hier also eine reale Person, ein historisch ver- bürgtes Ereignis beschrieben wird, geht es nicht, wie etwa Hans Zischler in seinem Kommentar zur Uraufführung bei den Salzburger Festspielen meint, um eine „allmähliche[] Identifizierung eines Aktes und eines Menschen“. Vielmehr ist es in diesem Stück ein Prinzip oder vielleicht eine Sehn-sucht, die eingekreist werden: Das Prinzip der politischen Konsequenz bis zum Äußersten.  III.  PROTEST GEGEN DEN ZUSTAND DER WELT:    „MACHT MICH NICHT ZUM NARREN.“ Und bis zum Äußersten ging Zdenĕk Adamec: Aus Pro- test gegen die Kontrolle des Lebens und der Gesellschaft durch Agenten von Geld und Macht verbrannte sich der 18jährige Schüler aus der tschechischen Provinz am Wenzels-platz in Prag selbst. Ein geschichtsträchtiger Ort, hatte sich dort doch bereits Jan Palach im Januar 1969 aus Protest ge-gen die Niederschlagung des Prager Frühlings und die Verein-nahmung der Tschechoslowakei durch die Sowjetunion an-gezündet. Auf diese Fackel Nr. 1, wie sich Palach in seinem Abschiedsbrief bezeichnete, folgten zahlreiche Nachahmer, unter anderem Jan Zajíc. „Jan Palach und der andere Jan“, wie sie in Handkes Stück auftauchen, sind auch die Bezugsgrö-ßen für Zdenĕk Adamec, sein Abschiedsbrief ist überschrie- WINDSAUSEN: WOHIN MIT DER WUT?  VON JOHANNA LENHART Mit ihrem Beitrag untersucht  JOHANNA LENHART  das Verhältnis von Politik und Literatur anhand des jüngsten Theater- stücks von Peter Handke. Dabei lotet sie aus, inwiefern der politische Mensch immer auch ein poetischer Mensch ist. Windsausen:   Wohin mit der Wut?   Peter Handke und Zdenĕk Adamec  PETER HANDKEZDENĚK ADAMEC  EINE SZENE Berlin: Suhrkamp71 Seiten | € 20,00ISBN: 978-3518429204Erscheinungstermin: Juli 2020


 ZUKUNFT | 19  ben mit „Akce pochodeň 2003“ – „Aktion Fackel 2003“. Im Gegensatz zu Jan Palach und seinen Nachfolgern, die in der Tschechischen Republik als Helden des politischen Protests geschätzt werden, begegnete das offizielle Tschechien der Selbstverbrennung von  Zdenĕk Adamec weitgehend mit Un-verständnis und mit Hinweisen auf das eigenbrötlerische Le-ben des Jugendlichen am Computer. In seinem Abschieds-brief, den er auf der eigens dafür eingerichteten Homepage „Akce pochodeň 2003“ veröffentlichte, begründet Adamec seine Tat als Konsequenz und Protest: „Ich bin ein weiteres Opfer des sogenannten demokratischen Systems, in dem die Menschen nicht entscheiden, sondern Geld und Macht.“ Bezeichnenderweise demonstrierte ausgerechnet Václav  Klaus – im Februar 2003, kurz vor Adamec’ Tod, neu ange-lobter Präsident der Tschechischen Republik – Unverständ-nis und wischt die Motivation des jungen Manns vom Tisch: Zu wenig konkret die Punkte von Adamec, für diesen Pro-test gebe es keinen Anlass, man lebe schließlich im Gegen-satz zu 1969 in einer funktionierenden „Standarddemokratie“. Freie Presse, eine breite Palette politischer Parteien, zahlrei-che Interessensgruppen – Möglichkeiten über Möglichkeiten, so Klaus, sich einzubringen, seine Meinung kundzutun. Ra-dikaler politischer Protest sei nicht mehr notwendig, man sol-le sich auf den Zusammenhalt in der Familie besinnen. Und das von Václav Klaus, der nach dem Ende des kommunisti-schen Regimes ab 1989 tschechischer Finanzminister war und im Zuge dessen umfangreiche Privatisierungen und Libera-lisierung des Marktes veranlasste, und der geradezu symbo-lisch für die Verbindung von Macht und Geld sowie dem Zy-nismus der Politik wie sie Adamec in seinem Abschiedsbrief kritisiert, steht. Dass sein Protest „gegen den Zustand der ak-tuellen Welt“, wie Handke es ausdrückt, auf taube Ohren sto-ßen wird, scheint Zdenĕk Adamec geahnt zu haben: „Prosím neudělejte ze mě blázna“, schließt er seinen Brief: „Bitte macht mich nicht zum Narren.“ Dieser Diskreditierung Adamec’ in der Öffentlichkeit –  nicht nur durch Václav Klaus – stellt Handke in typischer Ma-nier Fragen entgegen: „»Was hat er sich wohl versprochen, der Zdenĕk, von sei- ner Selbstverbrennung gegen den Zustand der aktuellen Welt? Ein Fanal für nichts und wieder nichts? Jedenfalls für nichts Bestimmtes? Dagegen seien Vorgänger auf dem Wenzelsplatz ein Vierteljahrhundert früher, Jan Palach und der andere Jan – die hatten, so vor den Augen der Welt dramatisch zu sterben, doch einen gründlichen Grund, nachzulesen für alle Zeit in  allen einschlägigen Geschichtsbüchern, oder nicht?, während Zdenĕk Adamec sogar in Humpolec kaum mehr als ein Ge-rücht ist, oder nicht?«“ Spekulationen über die Motivation Zdenĕk Ada- mec’ stehen aber eher am Rande des Textes: „Auch du er-spar uns die Details, und vor allem Interpretation und Ein-fühlung! Spiel hier nicht den Journalisten!“ Die Geschichte von Zdenĕk ist nur der Rahmen für dieses Stück. Mit den verbürgten ‚Fakten‘ ist in diesem Text kein Staat zu ma-chen. Zumal der einzige Gewährsmann ein von den Stim-men – von Figuren kann man kaum reden, es handelt sich mehr um eine Abfolge verschiedener, ungeordneter und un-definierten Stimmen – Angesprochener ist, der über Zdenĕk Auskunft gibt. Wie ein Mantra wiederholt sich die Abfol-ge: „»Woher weißt du das?« / »Ich weiß es.«“ – bis er zuletzt doch kapituliert – „»Ich wollte noch was sagen.« / »Sag’s!« / »Jetzt weiß ich’s nicht mehr. Plötzlich weiß ich nicht mehr.«    In diesem Sprechen über Zdenĕk Adamec mischt sich Ver-bürgtes und Beobachtetes mit Träumen, Vermutungen und Vorgestelltem: Zdenĕk mit Indianerfeder im Haar, Zdenĕk im Wind sitzend, Zdenĕk in seinem Geheimversteck im Wald – immer alleine, außerhalb, unverstanden. Einer der versucht, sich der Welt zu entziehen, dem es aber nicht gelingt, der im-mer wieder zurückgezogen wird von den Widersprüchen und Ungerechtigkeiten, die er sieht. ‚Gegen die Ordnung‘ scheint dabei die Devise zu sein, gegen den Strom und das einfache Zustimmen und Mitmachen. Hilft Zdenĕk seinem Vater, ei-nem Steinmetz, bei der Arbeit, legt er das Werkzeug nicht an seinen Platz zurück, sondern an einen neuen Ort. Nicht versehentlich, so imaginiert es einer der Sprecher, sondern in vollem Bewusstsein:  „[…] das Ding an einem anderen Platz würde unversehens  eine andere Ordnung, eine neue, eine unerhörte, offenbaren, eine noch nie und nirgends aufblitzende Möglichkeit, und das nicht bloß für ihn, den Zdenĕk Adamek [sic!], allein! Sein ›die Dinge an einen anderen Platz! Einen neuen Platz für jedes Ding!‹ war ihm ein ernstes Spiel, das ernsthafteste der Spiele.“ Das Ungeordnete widersetzt sich der „Heillose[n] Ord- nung!“, widerständig und im Abseits. Ein sich Lösen aus den vordefinierten und unbekannten Spielregeln der Mächtigen, die das Leben bestimmen. Einen neuen Weg suchen, „ab-zweigen“, dorthin gehen, „wo ein unbekanntes Spiel gespielt wird, mit von Grund auf, von Alpha bis Omega, neu zu er-findenden Regeln!“


 20 | ZUKUNFT  Es handelt sich um einen imaginierten, übersetzten  Zdenĕk. Eine der Stimmen im Stück scheint aber zu wis-sen, was diesen Zdenĕk umtrieb, mehr noch, sie „fühlt“ es. Der Abschiedsbrief, in dem „von der Macht und dem Geld die Rede ist“, meint „Etwas anderes“. Etwas nicht Vermit-telbares, das nur gefühlt werden kann. Es fehle eine Überset-zung von Zdenĕks Abschiedsbrief, „[s]owie du sie aber fühlst, dann weißt du. Und wie.“ Es ist also mehr eine vorgestellte, vielleicht ersehnte, Verbindung, die hergestellt wird, ausge-hend von der Vorstellung, dass sich hier einer auch der Spra-che des herrschenden Systems widersetzt: „Schon der Rhyth-mus, womit in Zdenĕks Brief von der Macht und dem Geld die Rede ist, ist ein wesentlich anderer, von Grund auf ver-schieden von all den üblichen Sätzen und Syntaxen von Geld und Macht.«“ IV.  BEIM VORNAMEN NENNEN Bereits in Handkes 2017 erschienenem Roman Die Obst- diebin oder einfache Fahrt ins Landesinnere kommt eine der Fi-guren auf Zdenĕk Adamec zu sprechen und stellt ihn erneut in eine Ahnenreihe von Menschen, die aus politischem Pro-test Selbstmord begingen – von Jan Palach bis zu dem „chine-sischen Jungen auf dem Platz des Himmlischen Friedens oder wo vor einen Panzer geworfen hat“. Und auch hier klingt schon das Unspezifische des Ortes an, mit dem Zdenĕk Ada-mec  eingeleitet wird. Gleichzeitig wird Zdenĕk Adamec zu Zdenĕk, wird in eine Reihe von Freunden und Gleichgesinn-ten, – von Blaise Pascale bis Johnny Cash und Rokia Trao-ré -, von geistigen Verwandten aufgenommen: „Den Zdenĕk kenne ich – inwendig! Er heißt bei mir Zdenĕk ohne Nach-namen […].“ Eine Nähe, die – wenn man die Büchnerpreisrede wie- derliest – von der Figur wohl auch auf den Autor Hand-ke übertragen werden kann. Zdenĕk Adamec, der für seine Überzeugung bis zum Äußersten geht und dafür mit Miss-achtung gestraft wird, trifft einen Nerv. Was Handke in sei-ner Dankesrede umtreibt ist nämlich das eigene Unvermö-gen, die Konsequenzen zu ziehen: Seine Wut gegen die Welt in Aktion umzusetzen. Etwa protestiert er trotz großer Ab-scheu nicht – so schildert er – gegen den Wehrdienst oder gegen die „heimelige Fremde“. Man müsste, so meint er, „sofort gewalttätig werden“, um der „weltvergessene[n] Rou-tine“ zu entkommen. Aber der Widerstand – gewaltvoll oder nicht – bleibt „eins unter vielen unwirklichen Gedanken-spielen“. Der radikale politische Protest: ein Sehnsuchtsort.   Und das ausgerechnet von Handke, dem gerade in den 70er Jahren, als diese Rede entstand, stets der Vorwurf des Unpoli-tischen, des Rückzugs in die Sprache umwehte. In einem In-terview mit Der Zeit anlässlich des Preises spricht er ebenfalls von der Unmöglichkeit, konkret, tagesaktuell politisch aktiv zu sein. „[E]in unendlich schlechtes Gewissen“   befalle ihn,  wenn er sich sein eigenes Unvermögen sich zu politischen Aktualitäten zu äußern, vor Augen führe, er finde „überhaupt keinen Einstieg, keinen Punkt […], etwas zu sagen oder zu tun.“  Ein Problem, das Jahre später wohl auch in seinen Äu-ßerungen in der Debatte um Serbien und das NaTo-Bombar-dement in den 90er Jahren mündet – eine Debatte, anlässlich derer Handke aus Protest den Büchner-Preis an die Darm-städter Akademie für Sprache und Dichtung zurückgab. Ein Problem, das, siehe Zdenĕk Adamec, für Handke auch heute noch nicht erledigt ist.  Zdenĕk Adamec hat, wenn man die Theaterszene mit die- ser Rede Handkes querliest, wohl auch in der Begründung für seine Tat, wie er sie in seinem Abschiedsbrief erklärt, ei-nen wunden Punkt getroffen. Er wirft der Welt Korruption in einer Verbindung von Geld, Macht und Institutionen vor, mit den Medien als ihren Agenten und wirkt dabei fast, als hätte er Handke gelesen, wenn dieser von der „vernünftelnden Ge-walt der Macht“ spricht. Auch die Vagheit, die den Texten, dem Abschiedsbrief und Zdenĕk Adamec, inhärent ist, scheint sie zu verbinden – man muss es eben „fühlen“. Bei Handke hat die Abneigung gegen dieses Spiel der ‚Macht‘ aber auch eine körperliche Dimension. Rational ist es kaum zu erklären, es ist eine körperliche, physische Abscheu, die ihn ergreift: „Seit ich mich erinnern kann, ekle ich mich vor der Macht, und dieser Ekel ist nichts Moralisches, er ist kreatürlich, eine Eigenschaft jeder einzelnen Körperzelle.“ Auch in Zdenĕk Adamec spricht eine der Stimmen über  Gewaltphantasien, die das „Abendfernsehen“ und seine Be-richte von verstümmelten, getöteten und gequälten Körpern auslöst. Eine Aggression, eine Wut, die sich gegen sich selbst richtet, „überwältigend […] angesichts von Hinrichtungen, bei Gemetzeln von Staats wegen, obrigkeitlich angeordnet“. Ein Impuls sich selbst zu richten, sich zu „beseitigen, jetzt!, wie dieser und jene dort beseitigt worden sind!“ Was diesem Sprecher nur Gedankenspiel ist, ersehnte Gewalttätigkeit und wohl auch Befreiung, wird von Zdenĕk in die Tat umgesetzt. Die eigene körperliche Zerstörung als stellvertretendes Ur-teil gegen die Mächtigen und gegen die Gleichgültigkeit der Menschen gegen das Schicksal anderer. So steht in Zdenĕk Adamec auch die Sehnsucht zur Debatte über sich selbst als  WINDSAUSEN: WOHIN MIT DER WUT?  VON JOHANNA LENHART


 ZUKUNFT | 21  Menschen unter Menschen zu Gericht zu sitzen, als einer von vielen, der aktiv werden kann, es aber nicht tut: „[…] wenigs-tens schon einmal den Stab über mich Menschen brechen, mit eigenen Händen, pars pro toto! Oder, wenn ihr wollt, in effigie!“ Wie schreibt Zdenĕk Adamec in seinem Ab-schiedsbrief: „ich möchte, dass die Menschen über sich selbst nachdenken“. V.  „ENDLICH DIE WELT SCHLEIERLOS.“ „Die anderen tun nichts, niemand kümmert sich um ir- gendetwas“, schreibt Zdenĕk Adamec bevor er sich auf den Weg nach Prag auf den Wenzelsplatz macht, und nimmt es selbst in die Hand, die Menschen wachzurütteln. Auch Hand-kes Zdenĕk hat „eine angeborene Zornesader an der Schläfe.“ – etwas, das ihn mit dem Autor verbindet. Denn das eigene Gefühl der Wut, die eigene Aggressivität im Anblick der Um-stände, ist bei Handke zentral.  In Zdenĕk Adamec beschreibt einer der Sprecher die reini- gende Kraft eines Weltuntergangs – von kleinen und großen Katastrophen, die die Welt auf Reset stellen, von vorne an-fangen lassen: „Endlich Ernst. Endlich die Welt schleierlos.“ Endlich keine falsche Harmonie, endlich etwas Erschüttern-des, etwas Befreiendes. Denn der/die Sprecher*in ist nicht sprachlos und starr vor Schreck angesichts von „Atomschlag und der darauf gefolgten anders mörderischen Tsunami-Wel-le“. Im Gegenteil: es „wachsen mir Flügel“, inspiriert von ei-ner „wunderbare[n] Kraft“, die aus der Zerstörung wächst. Die Kraft ist wunderbar, da sie sich gegen das innere Har-moniebedürfnis wendet, gegen das Gefühl des „Mich-in-Si-cherheit-Wiegen“, gegen das man sich wehren soll: „vor die-ser Musik, diesem Rhythmus, dieser Melodie, hüte wie ein Höllenhund!“ Es gilt einen anderen Rhythmus zu finden, ei-nen der sich widersetzt, wie ihn der/die Sprecher*in auch in Zdenĕks Abschiedsbrief zu finden glaubt.  In Zdenĕk Adamec taucht angesichts eines allumfassenden  Harmoniebedürfnisses aus den Tiefen auch Angst, Ekel – „erst noch ein leiser, leiser, vor mir selber“ – und ein „Schuldgefühl, ein schleichendes“ auf. Die Wut ist jedoch nicht nur Chiff-re für die eigene Unfähigkeit, sondern auch Transformation. Ein Moment, den Handke schon 50 Jahre vorher imaginierte. Denn die Wut geht, wie in der Büchnerpreisrede zu lesen ist, „in die Träume hinein und aus den Träumen wieder heraus und macht mich auch zu Wahrnehmungen fähig, für die ich durch die üblichen Begriffe, die immer die Welt der Erscheinungen  auf einen Endpunkt bringen wollen, blind geblieben wäre.“  Es geht in Zdenĕk Adamec und der Büchnerpreisrede – und in den beinahe 50 Jahren dazwischen – also um die Übersetzung, die Transformation des Politischen ins Poetische und somit in eine neue Sprache. Eine Sprache, die neue Wörter für die Zu-stände findet, die scheinbare Harmonien auflöst und Wider-sprüche sichtbar macht, eine Sprache der „begriffsauflösenden und damit zukunftsmächtigen Kraft des poetischen Denkens […], das die Welt immer wieder neu anfangen läßt“. VI. ABZWEIGEN „Ich hatte von Zdenĕks letztem Weg einen Traum: Er ging da mit einer Feder im Haar und hielt eine Landkarte aufgefal-tet in den Händen, eine Wanderkarte […]“, erzählt eine der Stimmen in Zdenĕk Adamec. Hinein in die Landschaft geht der Widerständige, aber nicht, um den vorgezeichneten We-gen auf der Karte zu folgen, sondern um „abzuzweigen, Ab-zweigung um Abzweigung.“ Ein Echo möchte man meinen, das aus 1973 herüberschallt. Denn Handke beschwört auch in seiner Dankesrede ein Abzweigen, ein Ausweichen in „eine andere Landschaft“ abseits der „Totalitätsansprüche durch Begriffe“. An einen Ort, wo eine neue Sprache mit neu-en Rhythmen jenseits der vorgeprägten Muster möglich ist.   Mit der Frage „Wie wird man ein politischer Mensch?“ be-ginnt Handke seine Dankesrede und beendet sie mit „Wie wird man ein poetischer Mensch?“. Nach der Lektüre von Zdenĕk Adamec ist man versucht zu sagen: Es ist auch 50 Jahre später immer noch ein und dieselbe Frage. JOHANNA LENHART   ist Literaturwissenschaftlerin und Redakteurin der Fachzeitschrift   MEDIENIMPULSE. Sie hat zahlreiche Publikationen zur österreichischen   Gegenwartsliteratur vorgelegt.


 22 | ZUKUNFT  Anselm Kiefer, Von den Verlorenen gerührt, die der Glaube nicht trug, erwachen die Trommeln im FlussÖl, Emulsion, Acryl und Sand auf Leinwand mit Betontreppe 420 x 780 x 100 cm, 2004 (c) Wikimedia Commons (author: Wmpearl) Literatur Adamec, Zdenĕk (2003): Akce pochodeň, online  unter: http://pochoden2003.nazory.cz   (letzter Zugriff 01.11.2020). Handke, Peter (1973): Die Geborgenheit unter der  Schädeldecke. Für Ingeborg Bachmann. Dankrede  anlässlich des Georg-Büchner-Preises der Deutschen  Akademie für Sprache und Dichtung, online unter:  https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnun- gen/georg-buechner-preis/peter-handke/dankrede  (letzter Zugriff 01.11.2020). Handke, Peter (2017): Die Obstdiebin oder einfache  Fahrt ins Landesinnere, Berlin: Suhrkamp: 316. Handke, Peter (2020): Zdenĕk Adamec. Eine Szene,  Berlin: Suhrkamp. Handkes „Zdeněk Adamec“ (2020):  ttt - titel,  thesen, temperamente, 16.08.2020, ARD, online  unter: https://tinyurl.com/y272zwed (letzter Zugriff  01.11.2020). Klaus, Václav (2003): Otevřený dopis prezidenta re- publiky k opakovaným případům sebevražd upálením  se, 03.04.2003, online unter: https://www.klaus.cz/ clanky/899 (letzter Zugriff 01.11.2020). Schultz-Gerstein, Christian (1973): Erinnerungen  für die Zukunft. Ein Gespräch mit dem diesjähri- gen Büchnerpreisträger Peter Handke, in: Die Zeit,  43/1973, online unter: https://www.zeit.de/1973/43/ erinnerungen-fuer-die-zukunft/komplettansicht  (letzter Zugriff 01.11.2020). Walsh, David (2003): Czech student kills himself in  protest against war and corruption. World Socialist  Web Site, 18.03.2003, online unter: https://www. wsws.org/en/articles/2003/03/czch-m18.html (letzter  Zugriff 01.11.2020).


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 24 | ZUKUNFT  I.  THE POWER OF SLEEP Beginnen wir einmal mit einem Sprung ins 19. Jahrhundert.  Beginnen wir mit einem Protagonisten, der in dieser Zeit das Licht  als  Hauptfigur  eines  weltberühmten  Klassikers  erblickt, indem er als tagträumerischer Faulpelz in der Weltgeschich-te herumtaumelt, hie und da seine Geige hervorzieht, Lied-chen  summt,  auf   Wiesen  herumliegt  und  gerne  Nickerchen hält. Dessen Vater, ein fleißiger Müller, erkennt in seinem Sohn nichts weiter als einen faulen, herumliegenden Nichtsnutz. „Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde, und läßt mich alle Arbeit allein tun.“ Die Rede ist von Joseph Eichendorffs Novelle  Aus dem  Leben eines Taugenichts (1826). Während die Schläfrigkeit und das  unproduktive Nichtstun des Sohnes vom Vater nicht länger ak-zeptiert werden und dieser ihn kurzerhand vor die Tür setzt, er-kennt jener Taugenichts im Müßiggang noch einen Wert, der mit Beginn der Industrialisierung schleichend abhandenkam.  Knappe 200 Jahre später ist keine Spur mehr davon zu se- hen. Und vermutlich kennen wir das selbst: Die Langeweile, das Herumsitzen oder Herumliegen, das verschwenderische Ver-geuden von Zeit weicht immer mehr einem Produktivitätsmo-dus. Beim Nichtstun fühlen wir uns beinah schuldig. Nutzlos. Unser Tun muss einen Sinn haben, und vor allem: Unser Tun muss  Aktivität  aufweisen.  Insbesondere  der  Schlaf,  denn  im Schlaf   tun wir ja nichts, ist damit einer Welt zuteil geworden, in  welcher er mehr zur Option verkehrt, als ihn in seiner Notwen-digkeit im herkömmlichen Sinne anzunehmen. Jener Schlaf, die Basis unserer Existenz, wird in seiner Voraussetzung für Ge-sundheit, für Leistungsvermögen und Ausdauer und zugleich in seiner natürlichen Zweckfreiheit verkannt. Und so wird er auf-grund seines passiven Zustands, seiner scheinbar tiefen Nutzlo-sigkeit zum lästigen Übel deklariert.  Dabei ist der Schlaf  ein echtes Wundermittel. Wäre Schlaf   ein Medikament, das vor Übergewicht und Herzinfarkt schützt, das  Herz-Kreislauf-System  kontrolliert,  den  Blutdruck  regu-liert,  das  Immunsystem  boostet  und  damit  lebensverlängernd  wirkt, dann würde es mit Sicherheit jeder nehmen. Doch da-mit nicht genug: Jede Nacht, wenn wir zu Bett gehen, leitet der Schlaf  die Reinigung des Gehirns ein, unterstützt die Verknüp-fung von Gehirnzellen, fördert die Gedächtnisleistung und re-guliert  zudem  unsere  Emotionen.  Im  Schlaf   finden  zudem nicht  nur  rhythmisch  klar  strukturierte  Erholungs-,  sondern auch  Lernprozesse  statt.  Neue  Eindrücke,  die  wir  durch  den Tag sammeln, werden erst in der Nacht richtig verarbeitet. Das Gehirn braucht also dringend den Schlaf, um arbeiten zu kön-nen. Und ähnlich wie unsere Muskeln, so muss auch das Ge-hirn  sich  regelmäßig  erholen.  In  der  sogenannten  REM-Pha-se ( rapid eye movement) ist unser Gehirn beinah genauso aktiv wie  im Wachzustand. Und somit ist Schlaf  alles andere als ein un-produktiver Zustand zwischen den Wachzuständen, sondern si-cherlich eines der faszinierendsten Phänomene des Menschen.  Keine  andere  Tätigkeit  nimmt  dabei  so  viel  Zeit  in  An- spruch  wie  der  Schlaf.  Rund  ein  Drittel  unseres  Lebens  ver-schlafen wir wortwörtlich. Inzwischen schlafen wir jedoch we-niger als je zuvor in der Geschichte. Schliefen die Deutschen beispielsweise  Anfang  des  20.  Jahrhunderts  durchschnittlich noch  8  bis  9  Stunden,  sind  es  jetzt  nur  noch  knappe  7.  Der Schlaf   ist  dabei  zwar  keineswegs  vollständig  wegzudenken, dennoch sind wir in der Lage, die Schlafdauer zu verringern und exakt zu timen. Manchmal schlafen wir vor oder wir ho-len den Schlaf  nach, manchmal gewöhnen wir uns an dauer-haft kurze Nächte oder wir bedienen uns Schlaftabletten, um über  den  gewünschten  Zeitraum  schlafen  zu  können.  Oder das  Gegenteil:  um  wachzubleiben.  Wachmacher  wie  Koffein  SCHLAFEN WERDEN WIR SPÄTER  VON LENA WIESENFARTH Schlafen werden wir  später  Der Beitrag von  LENA WIESENFARTH  arbeitet präzise heraus, wie die neoliberalen Taktungen unserer Arbeits- und  Lebenswelten uns in einen Zustand der kollektiven Schlaflosigkeit geführt haben. Finden wir angesichts verschiedener Be-schleunigungen eigentlich noch zu Ruhe und Entspannung?


oder Aufputschmittel, mit denen man die Nächte durcharbei-ten und leistungsfähig bleiben kann, sind längst keine Selten-heit mehr. Mit solchen künstlichen Mitteln verfügen wir über eine Kontrollfunktion über unseren eigenen Körper und damit auch über den nicht beeinflussbar geglaubten Schlaf. So sind wir imstande, in Schichtdiensten zu jeder Tages- oder Nacht-zeit zu arbeiten oder 20-Stunden-Bereitschaftsdienste zu über-nehmen, wo wir doch eigentlich schlafen sollten. Die meisten Menschen schlafen dabei nicht nur zu wenig, vielmehr haben sie vergessen, wie es sich anfühlt, erholt aufzuwachen. Was im-mer schwerer zu fassen ist: eine intensive Nacht voll natürlich tiefem Schlaf.   Dass die kapitalistische Arbeitsethik jeglichen Müßiggang  zu aller Laster Anfang erklärt, ist nicht neu. Im globalen Zeit-alter jedoch spitzt sich diese These zu: Schlaf scheint nur et-was für Verlierer zu sein. Durch gewisse Wettbewerbskriteri-en, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens einrahmen, konstituiert sich dabei ein gängiges Prinzip: der Schnellere ge-winnt. Nicht überraschend also, dass wir in Sachen Schlaf in-zwischen erfolgreiche Minimalisten sind. Auch Redewen-dungen wie man solle nicht sein Leben verschlafen oder doch endlich aufwachen zeigen die Position des Schlafs in der heu-tigen Welt ganz klar: Schlafen ist out. Doch weshalb, so stellt sich die Frage, ist das so? Was ist es, was gerade den süßen Schlaf so aus dem gesellschaftlichen Blickfeld drängt und ihm die Signifikanz nimmt? Eichendorffs Novelle über den Tau-genichts offenbart dabei schon ein Problem, das sich als Phä-nomen gerade in der heutigen Zeit so deutlich herauskristal-lisiert, dass es sogar inzwischen einen eigenen Begriff dafür gibt: Nonstop-Gesellschaft. Oder auch: 24/7.  II.  DAS WUNDER DER BESCHLEUNIGUNG Jonathan Crary, Kunstkritiker, Essayist und Professor für  moderne Kunst und Theorie an der Columbia University in New York, veröffentlichte 2013 in englischer Originalausga-be eine Abhandlung unter dem Titel 24/7: Late Capitalism and the Ends of Sleep. Mit dem Begriff des 24/7 führt Jonathan Crary ein Sujet der Moderne ein, das eine Zeit ohne Zeit meint, eine dauerhafte Abfolge unaufhörlicher, reibungsloser Operationen. Es beschreibt die Diskrepanz und Unvereinbar-keit des Menschen mit seinen Bedürfnissen in einer perma-nent eingeschalteten Welt. Mit dem gegenwärtigen, beschleu-nigten und an die Umwelt angepassten Lebensstil bestimmt nun nicht mehr unser Körper, unsere innere Uhr, wann und wie lange wir schlafen. Äußere Einflüsse und Gegebenhei-ten regulieren inzwischen, man möchte sogar sagen bestim-men unseren Schlaf- und Wachrhythmus. Der Schlaf wird ei-nem anderen Rhythmus unterworfen: der produktiven Uhr des Kapitalismus.  Was im Zuge der aufkommenden Industrialisierung des  19. Jahrhunderts nun, im Zeitalter von Rund-um-die-Uhr-Betrieben in einer zeitlosen digitalen Welt mit pausenloser globaler Kommunikation, ununterbrochenen Konsum- und Einkaufsmöglichkeiten und fortwährendem Informationsaus-tausch, einer Kultur mit Schichtarbeit und Pendelfahrten, lan-gen Arbeitszeiten, hoher Arbeitsverdichtung und zugleich ei-ner 24-Stunden-Verfügbarkeit seinen Höhepunkt erreicht, zeichnet eine Gesellschaft, die nicht zum Stillstand kommt. Der allgemeine Drang, mithalten oder up-to-date sein zu müs-sen, wird stets begleitet von der Angst, Dinge zu verschlafen. Die durchkommerzialisierte Alltags- und Schlafpraktik des ‚Müssens‘ lassen Ruhe- und Erholungszeiten kaum mehr zu. Sie sind einfach zu kostspielig geworden.   Schlaf – wie alle weiteren Aktivitäten, die nicht zum Ar- beitsbereich gehören –, zählt inzwischen zur Kategorie Frei-zeit. Doch auch hier scheint der Schlaf keinen festen Platz zu finden. Vielmehr stellt er gerade für die Freizeit- und Kul-turindustrie ein Hindernis dar, nutzt diese doch jegliche freie Zeit aus, die längst keine Freizeit mehr ist, sondern begehr-te Ressource für allerlei Industriezweige, um unsere quality time mit möglichst viel Sinn und Nutzen zu erfüllen. So wer-den selbst Entspannung und Erholung zur Aufgabe, zur Arbeit gemacht. „Die größte Herausforderung für unser Geschäft ist das menschliche Bedürfnis nach Schlaf“, gestand Netflix-Chef Reed Hastings vor ein paar Jahren. Denn, so sehr wir den Schlaf auch reduzieren, ganz wegzurationalisieren ist er   ZUKUNFT | 25  JONATHAN CRARY 24/7 – SCHLAFLOS IM SPÄT-KAPITALISMUS  Berlin: Wagenbach 112 Seiten | € 27,88 ISBN: 978-3803136534 Erscheinungstermin: September 2014


 26 | ZUKUNFT  nicht. Er gehört in seiner notwendigen Wiederholung zu den nicht vollständig unterdrückbaren Alltagsresten, die nirgend-wo mehr eine Berechtigung finden. Der Erlebnisgesellschaft ist damit auch der Schlaf zuwider – besteht dessen einziger Er-lebnisgehalt doch aus beliebigen Träumen, die nicht von Netf-lix oder Amazon geliefert werden. Somit findet sich der Schlaf im Wettbewerb zur Arbeit als auch zur Freizeit. Reduziert wird er nicht selten zugunsten beider. Kein Wunder also, dass die Menschen müde sind. III. DER ZEITGEIST DER ARBEIT  Das 24/7-Modell greift zwar in alle Lebensbereiche ein,  es scheint jedoch gerade oder insbesondere die Arbeitswelt zu dominieren. So erfordert das Rund-um-die-Uhr-Konsumie-ren auch eine Rund-um-die-Uhr-Arbeit. Was im Laufe der Jahre zwar scheinbar zu einer Verbesserung führte – optimier-te Arbeitsbedingungen sowie eine Verknappung der Arbeits-stunden – weist in unserer beschleunigten Welt ein neues Pro-blem auf. Getaktete Zeiträume wie der Achtstundentag oder Montag bis Freitag werden abgelöst von jenem 24/7-Denken, das unabhängig vom Tag- oder Nachtrhythmus der Idee eines unaufhörlichen Produktionsvorgangs folgt: einer profitbrin-genden Arbeit rund um die Uhr.  Dabei verschwinden die Grenzen auch zwischen berufli- cher und privater Zeit. Die freie zur Verfügung stehende Zeit außerhalb der Arbeit wird nicht mehr unbedingt zur Erfül-lung eigener Wünsche oder einer persönlichen, erfüllenden Lebensgestaltung genutzt, sondern vorwiegend zur versuch-ten körperlichen und mentalen Erholung, um wieder fit und energiereich arbeiten zu können. Die Arbeit wirkt damit in den privaten Raum nach und eröffnet den Weg in einen Zu-stand eines andauernden Übergangs. So ist es auch nicht ver-wunderlich, dass Tag und Nacht, Ruhe und Aktivität, Arbeit und Freizeit immer durchlässiger werden und teilweise kaum noch zu unterscheiden sind.  Begreift man Arbeit als Kulturphänomen, lässt sich fest- stellen, dass der Wert der Arbeit in der westlichen Welt ein anderer ist als noch im 18. Jahrhundert. Arbeit gleicht in-zwischen einem Lifestyle, der nicht mehr nur als Mittel der ökonomischen Lebenssicherung, sondern auch als Symbol-wert fungiert. Arbeit wird zu einer notwendigen Tätigkeit, zu einem modernen Gesellschaftsmaßstab, an welchem der Mensch sich misst und zugleich anhand seiner Arbeitsleistung selbst gemessen wird. Zeitliche Lücken im Lebenslauf, Ar- beitslosigkeit und Untätigkeit jeglicher Art bremsen die gefor-derte 24/7-Verausgabung erheblich. So finden sich die Men-schen restlos eingespannt in Kontrollmechanismen, die dem Menschen nämlich erst, indem er sich nützlich macht, einen Platz innerhalb der Gesellschaft zusichern. Arbeit, so macht Dr. Claudia Lillge in ihrer Publikation zum Phänomen der Arbeit in der Literatur- und Mediengeschichte Großbritan-niens deutlich, funktioniert damit als ein passport to society, als Eintritts- und Berechtigungskarte, um in die bestehende Ge-meinschaft überhaupt eintreten zu können. Wer nicht arbei-tet, gilt als faul, er produziert oder leistet nichts – und wird automatisch zum Taugenichts. Die moderne Arbeitswelt er-klärt den Schlaf damit zur puren Zeitverschwendung, zum In-begriff der Nichtsnutzigkeit.  IV.  WER ARBEITET, DEM IST DER SCHLAF SÜSS …  Dieser durch den Wandel der Arbeitsverhältnisse beding- te Konflikt zwischen Schlaf und Arbeit, zwischen biologischer und kapitalistischer Uhr, koppelt den Schlaf auf einmal an ein System, welches ihn nicht nur von der Arbeit, von einer Leistungserbringung abhängig macht, sondern ausschließlich in der Erfüllung jener Arbeitsleistung legitimiert. Insbeson-dere an Japans Arbeitsphilosophie zeigt sich ein kontrover-ses Beispiel. Einerseits etablieren sich gerade dort zahlreiche Alternativen zu einem zeitlich eng bemessenen Arbeitstag in Form von Schlafmöglichkeiten und Ruhezonen am Arbeits-platz, andererseits sind zwölf bis 13 Stunden Arbeit pro Tag im Büro die Norm. Hinter unzähligen Überstunden, exzes-sivem Schlafmangel und wenig Urlaubstagen verbirgt sich die problematische Position des Schlafs und damit auch des Men-schen: Schlaf muss man sich redlich verdienen. Für ihn gilt es zu arbeiten. Das zeigt sich auch am japanischen Anwesen-heitsschlaf Inemuri – ein kurzes Schläfchen in der Öffentlich-keit, das keine Seltenheit darstellt. Im Arbeitskontext versteht sich das wohlverdiente Schläfchen als Ausdruck von Fleiß und verdienter Müdigkeit. Dieses meritokratische Prinzip findet sich schon in der Bi- bel, wo es heißt: Wer arbeitet, dem ist der Schlaf süß. Fakt ist dabei eher: Wer (zu) lange arbeitet, muss manchmal auf ei-nen großen Teil des süßen Schlafs verzichten oder leidet unter Schlafstörungen, die allzu häufig gesundheitliche Folgen mit sich ziehen. Die Annahme, dass nur die Arbeitszeit gleich-bedeutend zur Produktivität stehe (Zeit ist gleich Geld), hält sich weiterhin bissfest. Das Ganze ist dabei nicht nur ein Irr-tum, sondern vor allen Dingen kostspielig, wie eine Studie  SCHLAFEN WERDEN WIR SPÄTER  VON LENA WIESENFARTH


 ZUKUNFT | 27  an vier amerikanischen Großunternehmen zeigt. Rund 2.000 Us-Dollar pro Mitarbeiter*in und Jahr verzeichneten die Un-ternehmen an Produktivitätsverlust aufgrund unzureichen-den Schlafs der Mitarbeiter*innen. Die globale wirtschaftliche Verlustsumme in den Usa beläuft sich somit auf 411 Milliarden Us-Dollar, in Deutschland im Vergleich dazu auf 60 Milliar-den  Us-Dollar. Eingeforderte Höchstleistung oder Ausdauer sind ohne genügend Schlaf schlichtweg nicht möglich. Un-ausgeschlafen, ermüdet und alles andere als leistungsfähig sit-zen wir also am Arbeitsplatz und könnten im Rahmen unserer heutigen Arbeitsgesellschaft durchaus behaupten: Wer schläft, dem ist die Arbeit süß.  V.  NICHTSTUN. UND WAS SICH DARAUS    MACHEN LÄSST Insbesondere Figuren in Kunst und Literatur, wie der Mü- ßiggänger, der Nichtstuer oder der Faulenzer, trotzen ihrer gesellschaftlichen Umwelt und fordern einen berechtigten Platz für sich ein. Sie verweigern sich, indem sie den Müßig-gang, das Nichtstun oder das Faulenzen als Widerstandsmittel gegen die kapitalistische Arbeitswelt ausrichten, und erken-nen ihre Haltung zugleich als das rettende Potenzial der Ge-sellschaft vor ihrer eigenen Zerstörung. Dass auch der Schlaf als Mittel für dergleichen Einsatz findet, zeigt der 2018 aus dem Amerikanischen übersetzte Roman My Year of Rest and Relaxation. „She is very into sleeping“, so beschreibt die Autorin Ot- tessa Moshfegh in einer Lesung ihre Protagonistin, eine sechs-undzwanzigjährige New Yorkerin, die sich vornimmt, eine Auszeit zu nehmen: „Ich werde ein Jahr schlafen.“ Gegen jene Nonstop-Bewegung und permanente Wachheit, stellt sich  hier eine Figur, die das tut, was keiner heute mehr tut: schla-fen, sonst nichts. Die Protagonistin unternimmt ein unge-heures Projekt inmitten einer schlaflosen Großstadt, von der schon Frank Sinatra singt: New York New York, I want to wake up in a city that never sleeps. Der Schlaf besteht bei der Protagonistin dabei nicht nur  als ein seelisches Überwintern, als Versuch eines Neustarts ohne Altlasten, eines remake-Prozesses in einer durchkommer-zialisierten Welt, sondern entpuppt sich als müßige Opposi-tion gegen Nützlichkeits- und Arbeitsideologien. Mit dem Schlaf hält die Protagonistin der 24/7-Welt einen gewaltigen Stillstand entgegen. Im Roman wird damit eine Sehnsucht nach der Rückkehr in eine Idylle formuliert, die es in ei-ner Welt, wie wir sie kennen, gar nicht mehr geben kann. In der Figur eines postmodernen Taugenichts erlebt insbesonde-re die Romantik hier ein Comeback, und damit auch der all-seits bekannte Müßiggang. Öffnet Eichendorffs Taugenichts mit seiner romantisch-verweigernden Lebensform und sei-ner ästhetischen Selbstkennzeichnung schon den Blick in die Moderne, zeigt sich in abgewandelter, aggressiverer, nun ad absurdum gedrehter Form nun an Ottessa Moshfeghs schla-fender Protagonistin. Die zeitgenössische Aktualität des Ro-mans zeigt sich dabei durch seine zeitliche Einbettung um die Jahrtausendwende – in einer Zeit, in der Arbeit und Schlaf nicht problematischer in ihrem Verhältnis zueinanderstehen könnten. In der Verhandlung der gegenwärtigen Lebens- und Arbeitswelten werden jene im Roman dabei gleichermaßen aufgeladen und verdreht. Und zwar so weit, dass die Prota-gonistin mit ihrem Nicht(s)tun gleich zweierlei tut: zum ei-nen drastisch provoziert, indem sie sich durch ihren exzessiven Schlafkonsum jeglichen gesellschaftlichen Verpflichtungen vollständig entzieht, zum andern, indem sie selbst mit jener Tätigkeit und jenem Konsum der Arbeits- und Konsumver-wertungsmaschinerie erliegt, welcher sie versucht Widerstand zu leisten. Wird mit dem Schlaf zwar eine Abkehr der gesell-schaftlichen Gegebenheiten gerade dort versucht, wo die Ge-sellschaft scheitert – ein Jahr der Ruhe und Entspannung –, erweist sich genau dieses Jahr, welches die Protagonistin schla-fend verbringt, weder als ruhend noch entspannend.  Und so entwickelt sich das anstrengende und zeitaufwen- dige Schlafprojekt im Verlauf des Romans einerseits hin zu einem Projekt, das in mehrerlei Hinsicht der nützlichkeits-affinen Arbeitswelt gleichkommt: „Schlafen kam mir äußerst produktiv vor.“ Diese Nivellierung der Arbeit und des Schlafs gleichermaßen zeigt sich durch einen nonstop-mode, der die  OTTESSA MOSHFEGH MEIN JAHR DER RUHE UND ENTSPANNUNG  München: Liebeskind 320 Seiten | € 22,00 ISBN: 978-3954380923 Erscheinungstermin: September 2018


 28 | ZUKUNFT  Protagonistin schließlich „in Vollzeit“ schlafend somit das ver-richten lässt, was andere arbeiten. Ein permanenter Kreislauf beginnt, ein Nonstop, der keinen Ausgang findet. Anderer-seits misslingt auch der letzte Rettungsversuch einer ideologi-schen Positionierung des Schlafs, wenn die Protagonistin sich selbst und ihr Schlafprojekt nach Maßgabe romantisch-künst-lerischer Ideale zur Kunst erklärt. Denn auch die Kunst ist längst eingespannt in den Kreislauf einer Ökonomie, die die Dinge fast so schnell, wie sie in der Welt erscheinen, auch wieder verschwinden lässt. Der Eskapismus ist spätestens hier und von sich selbst erschöpft.  Doch was kennzeichnet diesen Roman, dessen Wirklich- keitsgehalt den Schlaf nicht als Idylle, sondern vielmehr als Utopie entlarvt? Das Schlafprojekt zeigt sich nunmehr als ein Verschlafen einer von Arbeit, Wachstum und Konsum durch-tränkten ökonomischen Wirklichkeit, in welcher Stillstand, Ruhe und Entspannung nicht mehr möglich sind. Der Schlaf eckt somit in all seinen möglichen Gehaltsformen an. Er stößt, indem er als müßige Verweigerung oder Rebellion gegen vor-herrschende Gesellschaftskonzepte und selbst als künstlerische Form misslingt, an Grenzen, die vom modernen Kapitalismus längst errichtet wurden. Und so ist auch das Bild, welches die Protagonistin von der Gesellschaft zeichnet, zuletzt einer bissi-gen Ironie geschuldet. Doch diese Ironie, die im Roman ver-sucht wird, bleibt den Leser*innen regelrecht im Hals stecken. Gegen Ende des Romans wachen auch wir auf und müssen feststellen, dass der Schluss uns mit einem Schlag wachrüttelt. Wir erkennen, dass der müßige Oppositionsversuch der Pro-tagonistin gegen jene Nützlichkeits- und Arbeitsideologien, der sie sich entgegenzustellen versucht, längst nicht mehr zu trennen ist von jener Realität, die wir vollständig verleugnen. Dem Schlaf unterliegt somit automatisch die Notwendigkeit des Erwachens. Ottessa Moshfeghs Protagonistin verharrt da-bei, statt nach einem Jahr der Ruhe und Entspannung wieder zu sich zu kommen, vielmehr im Zustand eines Halbschlafs, der zwischen Wachzustand und Schlaf, zwischen Realität und Trance stagniert. Warten wir Leser*innen noch auf das finale Erwachen der Protagonistin oder den großen Supergau, stellt man am Ende ernüchtert fest: nichts passiert.  VI.  ZEIT ALSO, AUFZUWACHEN?  Der Soziologe Hartmut Rosa kommt in seiner Abhand- lung zur systematischen Theorie von Beschleunigung und Entfremdung der Frage nach dem guten Leben nach – und der Frage danach, warum wir eigentlich kein gutes Leben ha-ben. So geht er davon aus, dass unser persönliches und ge- sellschaftliches Leben dringend reformbedürftig ist. Der Not-wendigkeit einer aktualisierten Überlegung zum Verhältnis von Arbeit und Müßiggang unserer aktuellen Arbeitswelt unterliegen bereits Ideen und Alternativvorschläge, wie bei-spielsweise Überlegungen einer Vier-Tage-Arbeitswoche, ei-ner Lockerung der Arbeitszeit zugunsten der Freizeit oder die Einführung einer Work-Life-Sleep-Balance, wie es das schwedische Möbelgeschäft iKea bereits anpreist. Dennoch scheint der Schlaf in unserer Wahrnehmung noch immer ein blinder Fleck.  Doch wenngleich der Schlaf in seiner zeitgenössischen Po- sition nicht zündend wirkt, so hält er sich nach wie vor als Ventil für Widerstand gegen Ökonomisierung und Kommer-zialisierung und zeigt sich in seinen kurzen Momenten ei-nes Aufscheinens als die rettende Essenz einer arbeits- und konsumverfallenen 24/7-Gesellschaft. Umso dringender kehrt unser romantisch-verträumter, herumtaumelnder, auf Blu-menwiesen liegender Taugenichts in aktuellen Diskussio-nen der modernen Arbeitswelt wieder – vermag jener noch zu leisten, was unter den gegenwärtigen Bedingungen heute nicht mehr möglich scheint: eine Verzauberung des Stillstands in einer Welt, die keinen Ausschaltknopf mehr kennt.   LENA WIESENFARTH, geboren 1990, ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und forscht  zum Verhältnis von Schlaf und Arbeit an der Goethe-Universität  Frankfurt am Main.  SCHLAFEN WERDEN WIR SPÄTER  VON LENA WIESENFARTH


 ZUKUNFT | 29  Berlin – Hamburger Bahnhof Museum für GegenwartAnselm Kiefer, Lilith am roten MeerKreide, Emulsion, Asche, Leinen, Blei auf Leinwand 280 x 625 cm, 1990 © Wikimedia Commons (author: Fred Romero) Literatur Crary Jonathan (2014): 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus, Berlin: Wagenbach. Ecker, Gisela/Lillge, Claudia (2011): Kulturen der Arbeit, München: Wilhelm Fink. Fuest, Leonhard (2008): Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der  Literatur seit 1800, München: Wilhelm Fink. Lockley, Steven W./Foster, Russell G. (2012): Sleep. A very short introduction, New  York: Oxford University Press. Lillge, Claudia (2016): Arbeit. Eine Literatur- und Mediengeschichte Großbritanni- ens, München: Wilhelm Fink. Moshfegh, Ottessa (2018): Mein Jahr der Ruhe und Entspannung. Aus dem Engli- schen von Anke Caroline Burger, München: Liebeskind.   RAND Corporation. Eine länderübergreifende vergleichende Analyse zu den wirt- schaftlichen Kosten von unzureichendem Schlaf, online unter: https://www.rand. org/news/press/2016/11/30/index1.html (letzter Zugriff: 01.11.2020). Rosa, Hartmut (2013): Beschleunigung und Entftremdung. Entwurf einer Kritischen  Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, Berlin: Suhrkamp. Walker,  Matthew (2017): Why We Sleep. The new Science of Sleep and Dreams,  New York: CT Print.


 30 | ZUKUNFT  I. EINLEITUNG Die Wien-Wahl hat einen Sieger: Die Nichtwähler*innen.  Trotz der Zugewinne von sPÖ, Grünen, Neos und ÖvP mach-te der graue Balken den größten Ausschlag. 470.000 Wahl-berechtigte verzichteten am 11. Oktober auf den Gang zur Wahlurne. Auf allen Kanälen warb man für die Briefwahl im Angesicht von CoviD-19. Schließlich zählte man 300.000 Wahlkarten. Das klingt großartig. Hält man sich aber vor Au-gen, dass die Hälfte aller Wahlberechtigten trotz der Option Briefwahl daheimblieb, stellen sich einige Fragen: Wer sind die Nichtwähler*innen? Was bewegt sie? Und sind sie wirk-lich ein Warnsignal für unsere Demokratie?  Wien ist anders – heißt es ja gerne. Und das ist in vielen Fäl- len auch wahr. Aber bei den Wahlsiegen der Nichtwähler*innen befindet sich die Bundeshauptstadt in illustrer Gesellschaft. So-gar die Usa, mit ihren über 200 Jahren demokratischer Tradi-tion, blicken seit Jahrzehnten auf Nichtwähler*innen-Anteile von über 50%. Und auch unser Nachbar Deutschland kämpft mit sinkender Wahlbeteiligung. Dabei lässt sich ein gewisses Muster erkennen: Regional ist egal.  Wir sprechen gerne davon, dass das Volk gesprochen habe  und die Politiker*innen bekomme, die es verdient habe. Aber stimmt das wirklich – wenn nur rund die Hälfte aller Berech-tigten „gesprochen“ hat? Was wäre eigentlich, wenn es gar keine angebotenen Politiker*innen will? II.  TORPEDOS DER DEMOKRATIE Stell dir vor, es sind Wahlen und keiner geht hin. Ganz so  ist es in José Saramagos Roman Die Stadt der Sehenden dann  doch nicht – es ist noch schlimmer. In seinem 2004 erschie-nen Buch nimmt uns der portugiesische Literaturnobelpreis-träger mit in ein westeuropäisches Land, an dessen Namen sich der Erzähler nicht erinnern kann. Dort finden Gemein-deratswahlen statt. Sowohl die Landbevölkerung als auch die Bewohner*innen der Hauptstadt gehen wählen. Allerdings sind über ein Drittel der Wahlzettel frei von Kreuzen abge-geben worden. Bevor die Regierung ihr Gesicht verliert, er-klärt sie das Ergebnis für nichtig und ruft neue Wahlen aus: Die weißen Wahlzettel werden mehr und mehr. Schließlich ist die Regierung mit 83 Prozent Weißwähler*innen konfron-tiert. Die drei angetretenen Parteien – die Partei der Linken, die Partei der Mitte und die Partei der Rechten – stehen vor einem Rätsel.  In einer Krisensitzung erklärt der Innenminister, es hand- le sich um eine Aktion von internationalen Anarchist*innen:  „Merkwürdige Vorstellung, sagte der Kulturminister, mei- nes Wissens strebten die Anarchisten nie Aktionen dieser Art und Tragweite an, nicht einmal theoretisch, Das liegt viel-leicht daran, gab der Verteidigungsminister sarkastisch zurück, dass sich das Wissen unseres geschätzten Kollegen zeitlich noch immer auf die idyllische Welt seiner Großeltern bezieht, doch seitdem, so merkwürdig Ihnen das vorkommen mag, hat sich einiges verändert, es gab die Zeit eines teils romantischen, teils blutigen Nihilismus, aber womit wir uns heute konfron-tiert sehen, ist blanker Terrorismus, anderer Ausprägung zwar, doch identisch in seinem Wesenskern, Vorsicht mit den Über-treibungen und leichtfertigen Verallgemeinerungen, mischte sich der Justizminister ein, es erscheint mir riskant, um nicht zu sagen unzulässig, ein paar weiße Stimmzettel in den Urnen  GEGEN DEN VERDRUSS  VON ERKAN OSMANOVIĆ Gegen den Verdruss Die bedenklichen Zahlen der Nichtwähler*innen nimmt  ERKAN OSMANOVIĆ  zum Anlass, in der Literatur nach Gründen  für die Auflösung demokratischer Grundstandards zu suchen. Leben wir in einer Stadt der Sehenden oder der Blinden? Gedanken zum Nichtwählen


 ZUKUNFT | 31  als Terrorismus und noch dazu als blanken und puren zu be-zeichnen, Ein paar weiße Stimmzettel, ein paar weiße Stimm-zettel, stammelte der Verteidigungsminister nahezu sprachlos vor Empörung, wie kann man dreiundachtzig von hundert Stimmen ein paar nennen, sagen Sie mir das, wo wir doch endlich begreifen und uns klar machen sollten, dass jede dieser Stimmen ein unter Wasser abgefeuerter Torpedo war?“ Wenn ein weißer Stimmzettel als Torpedo anzusehen ist,  ist dann eine nicht abgegebene Stimme als Warnschuss an die Demokratie zu betrachten? Doch warum gab es am 11. Ok-tober so viele davon? War vielleicht doch auch die Angst vor CoviD-19 der Hauptgrund?  Der Meinungsforscher Christoph Hofinger vom sora-In- stitut erklärt gegenüber der Tageszeitung Der Standard am 12. Oktober, Corona sei nur das Tüpfelchen auf dem i gewesen, die fehlende Mobilisierung durch die Parteien hätte den Aus-schlag gegeben. Es hätte an Themen gefehlt, die die Men-schen zur Wahlurne bringen. Ein Wettstreit der Ideen als Tur-bo für die Wahlbeteiligung – wäre das die Lösung?  Ein Blick in die Wahlforschung sagt das Gegenteil.  Denn  die Nichtwähler*innen gibt es nicht. Es sind verschie-dene Motive, die zum Nichtwählen bewegen. Der deut-sche Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer hat vier Typen von Nichtwähler*innen herausgearbeitet: unech-te Nichtwähler*innen, die wegen fehlender Wahlbenachrich-tigung, Krankheit oder Schlimmerem nicht wählen kön-nen. Menschen, die wegen religiöser Überzeugungen nicht wählen – etwa Zeugen Jehovas. Dann noch die bekennenden Nichtwähler*innen, die politisch interessiert, aber unzufrieden sind mit Parteien, Politikern und demokratischen Mechanis-men. Schließlich diejenigen, die sich bei jeder Wahl aufs Neue fragen: Soll ich oder lieber nicht? Die Wissenschaft nennt sie konjunkturelle Nichtwähler*innen.  Ebendiese sind es wohl, die einem zu denken geben soll- ten. Anders gesagt: Warum hat jemand kein Interesse daran, wählen zu gehen? Ist es der Frust über die Politiker*innen und die immer gleichen Muster von Korruption und Freun-derlwirtschaft? Sind es die ehemaligen Großparteien und neu-en Mittelparteien, die keine oder nur veraltete Antworten auf Fragen des neuen Jahrtausends parat haben?  Alle Welt spricht von einer digitalen Zeitenwende, von  Robotern und künstlicher Intelligenz, die unsere Beru- fe erleichtern und schließlich abschaffen werden. Die Kli-makatastrophe mit all den Hitzewellen, ansteigendem Mee-resspiegel und Vernichtung von Wäldern interessieren die Politiker*innen nicht – oder nur vor einer Wahl. Vielleicht sind sie die eigentlichen Nichtwähler*innen? In Saramagos Die Stadt der Sehenden konfrontieren die  Weißwähler*innen ihre Politiker*innen mit Ablehnung. Die Minister wissen sich nicht zu helfen. Anstatt nach den Sor-gen und Bedürfnissen der Stadtbewohner*innen zu fragen, bezeichnet die Regierung die leeren Stimmzettel als „An-schlag auf die Grundfeste der parlamentarischen Demokra-tie“, beginnt die Stadt durch Panzer hermetisch abzuschlie-ßen, den Regierungssitz in der Hauptstadt zu verlassen und Attentate durch den Geheimdienst ausführen zu lassen. Die Stadtbewohner*innen gehen alle den Einschränkungen und staatlichen Angriffen zum Trotz weiter zur Arbeit oder erle-digen Einkäufe. Die Regierung bleibt blind für die Probleme der Menschen. III.  NICHTWÄHLEN IST EIN TEUFELSKREIS Während die Leser*innen im ersten Teil des Romans zwi- schen den Ministerratssitzungen und dem Geschehen in der Stadt, bei dem kein Individuum aus der Masse heraussticht, hin- und herspringen, tritt im zweiten Teil die Frau des Au-genarztes in Erscheinung – eine Figur aus Saramagos Roman Die Stadt der Blinden aus dem Jahr 1995. In diesem Vorgänger-roman hatten die Bewohner*innen derselben Stadt ohne An-gabe von Gründen für einige Wochen ihre Sehkraft verloren. Der Premierminister vermutet im Weißwählen ein erneutes Aufflammen dieser Blindheit: JOSÉ SAMARAGO DIE STADT DER SEHENDEN  München: btb 384 Seiten | € 10,99 ISBN: 978-3442745289 Erscheinungstermin: März 2019


 32 | ZUKUNFT  GEGEN DEN VERDRUSS  VON ERKAN OSMANOVIĆ „Herr Premierminister, sagte der Kulturminister, ich darf  daran erinnern, dass wir blind waren, und vielleicht immer noch blind sind: dass das Weißwählen eine ebenso zerstöre-rische Erscheinungsform der Blindheit ist wie die anderer, Oder der Hellsichtigkeit, sagte der Justizminister, Wie bitte, fragte der Innenminister, der sich verhört zu haben meinte, Ich habe gesagt, das Weißwählen könnte vielleicht von denen, die sich dieses Mittels bedienten, als Ausdruck von Hellsich-tigkeit gewertet werden, Wie können Sie es wagen, in diesem Ministerrat eine so antidemokratische Ungeheuerlichkeit aus-zusprechen, schämen sollten Sie sich, und so etwas will Jus-tizminister sein, platzte der Verteidigungsminister heraus, Ich frage mich, ob ich jemals mehr Justizminister oder Minister der Justiz, der Gerechtigkeit, gewesen bin als in diesem Aus-blick […].“  Nichtwählen ein Schritt Richtung Hellsichtigkeit? Oder  Ausdruck von Missmut über die Politik? Der deutsche Po-litikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte und Manfred Güll-ner, der Leiter des Forsa-Instituts sehen in der Parteien- und Politiker*innenverdrossenheit ein Grundübel. Wenn den Menschen vor jeder Wahl das gelobte Land versprochen wird, aber nach den Wahlergebnissen nichts mehr davon übrigbleibt, bleibt auch das Vertrauen in die Politiker*innen und in das gesamte politische System auf der Strecke. Seit die Wahlpflicht im Jahr 1992 in allen Bundesländern  aufgehoben wurde, steigt der Anteil an Nichtwähler*innen. Das ist doch erstaunlich. Denn Wählen in Österreich ist leicht: Man ist automatisch registriert für die Wahl, kann am Sonntag seine Stimme abgeben und das seit 2007 auch per Briefwahl erledigen. Dank dem Verhältniswahlrecht wirkt sich jeder ab-gegebene Stimmzettel aus – so gut wie jeder. Denn leider wird durch die Vierprozenthürde doch der eine oder andere Wahlzettel vernichtet.  Der deutsche Politologe Armin Schäfer hält in seiner Studie  Wahlbeteiligung und Nichtwähler fest, dass Nichtwähler*innen keinen Querschnitt der Gesellschaft abbilden. Es ist ein Phä-nomen der Benachteiligten. Denn sie haben ein geringeres politisches Interesse, schwächere Parteibindung, mangelndes Zutrauen in eigene Kompetenzen; keine Hoffnung, durch po-litisches Engagement etwas bewirken zu können und ein we-nig ausgeprägtes Gefühl der Verpflichtung wählen zu müssen.  Es ist ein Teufelskreis: Je ärmer ein Stadtteil, desto mehr  Nichtwähler*innen. In Stadtteilen mit vielen Arbeitslosen  gibt es auch mehr Nichtwähler*innen. Außerdem haben arme Stadtteile auch einen höheren Anteil an nicht-wahlberechtig-ten Menschen. Dadurch ist der Kontakt mit vielen anderen Nichtwähler*innen in ressourcenarmen Wohngegenden hö-her und erhöht dadurch die eigene Neigung zum Nichtwäh-len. Doch eine niedrige Wahlbeteiligung ist gefährlich. Denn Politik kann sich nur an Menschen orientieren, die auch wäh-len gehen. Das tun Ressourcenreiche. Doch nicht nur. Denn neben dem Wählen haben sie noch andere Wege ihre The-men unter die Leute zu bringen – Benachteiligte nicht. IV. SCHLUSS In  Die Stadt der Sehenden schickt die Exilregierung ei- nen Kommissar in die Stadt, um dort Schuldige für den Auf-stand ausfindig zu machen. Er findet die Verdächtigen, be-findet sie aber für unschuldig und wendet sich selbst gegen die Regierung. Denn er erkennt, dass „die Menschen die Wörter satt“ und deswegen weiß gewählt haben. Massen an Nichtwähler*innen sind also ein Warnsignal für unsere De-mokratie. Warten wir nicht ab, bis die Hunderttausenden von Nichtwähler*innen beginnen weiß zu wählen. Die Gesell-schaft hat es in der Hand, lassen wir Taten sprechen: Mehr Zuneigung, mehr Ressourcen, mehr Wahlmöglichkeiten – für die Benachteiligten! ERKAN OSMANOVIĆ ist Veranstaltungsorganisator, Literaturwissenschaftler und Hoch- schullehrer. Er lebt und arbeitet in Wien und Brno. Zuletzt u. a.: „Wer man  gewesen war. Untersuchungen zum Suizid in der österreichischen Litera- tur des 20. Jahrhunderts anhand von ausgewählten Werken“ (2018)


 ZUKUNFT | 33  Literatur Bödeker, Sebastian (2012): Soziale Ungleichheit und politische Partizipation in  Deutschland. Grenzen politischer Gleichheit in der Bürgergesellschaft, Frankfurt am  Main: Otto Brenner Stiftung. Güllner, Manfred (2013): Nichtwähler in Deutschland, hg. von Dietmar Molthagen,  Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung. Niedermayer, Oskar (2002): Den Nichtwähler gibt es nicht, Blickpunkt Bundestag –  Forum der Demokratie 6/2002: 3.  Saramago, José (2006): Die Stadt der Sehenden, Reinbek: Rowohlt. Schäfer, Armin (2013): Wahlbeteiligung und Nichtwähler, in: Aus Politik und Zeit- geschichte, 48–49/2013: 39–46. Schäfer, Armin (2012): Beeinflusst die sinkende Wahlbeteiligung das Wahlergebnis?  Eine Analyse kleinräumiger Wahldaten in deutschen Großstädten, in: Politische  Vierteljahresschrift, 53/2: 240–264. Opening of the Exhibition Anselm Kiefer: SHEVIRAT HA-KELIM (Breaking of the Vessels)© Wikimedia Commons (author: Yair Talmor)


 34 | ZUKUNFT  Thomas Ballhausen: Deine literarische Arbeit setzt oft auf  dem Zusammenspiel aus Fakt und Fiktion auf, ein Span-nungsverhältnis, das ästhetisch produktiv gewendet werden kann, in den letzten Jahren aber verstärkt kritisch in den Me-dien verhandelt wird – Stichwort fake news. Welchen Einfluss haben Deine Reisen und internationalen Erfahrungen auf Dein Schr—eiben, etwa auch Deine jüngsten Aufenthalte in den U.S.A.? Judith Nika Pfeifer: Ich sag mal: Einen großen! Ich arbei- te, wenn ich wo eingeladen bin, meistens an ortsspezifischen Projekten, setze mich mit konkreten Orten, realen Räu-men und Menschen auseinander – wenn man so will mit den räumlichen Manifestationen. Ausgangspunkt kann eine Idee sein oder eine Landschaft, eine überlieferte oder auch neben-bei aufgeschnappte Geschichte, der öffentliche Raum, ein di-gitaler oder auch fiktionaler Raum, aktuelle Diskurse und Fragestellungen, Lebensräume unterschiedlichster Art. Ich finde es spannend, diese verschiedenen Orte näher zu erfor-schen, mit ihnen zu experimentieren und sie zu transformie-ren. Die Frage nach dem Wie und die Wahl der Mittel sind dabei völlig offen. Es geht mir vor allem darum, die geeigne-te Methode, Form und das richtige Medium zu finden. Fake news sind, denke ich, so alt wie die Menschheit selbst. Das geht von Klatsch und Tratsch bis zur bewussten Desinforma-tion als politische Kommunikationsstrategie. Der Unterschied zwischen Fakt und Fiktion entspringt aus jenem zwischen Wahrheit und Imagination. Fiktion ist phantasievolles Ge-schehen. Aber wenn man genau hinsieht, ist diese Beschrei-bung zu einfach, denn Fiktion ist nie komplett anders als Rea-lität. Sie nimmt auf viele Dinge der Realität Bezug und eignet sie sich an. Die Trennung zwischen Wahr und Falsch löst sich  auf, wenn man etwa an Romane denkt, die im Namen der Fiktion Realität kritisieren.  Fake news sehe ich als eine Art Konstante der politischen Kommunikation, als ein  Phäno-men der Desinformation. Diese bewusst lancierten Falschaus-sagen haben in den vergangenen Jahren eine ganz neue ge-sellschaftliche Dynamik entwickelt, siehe Brexit oder Donald Trumps Präsidentschaftswahlkampf. Bei meinen Reisen und Aufenthalten in den Usa oder auch in Indien war ich jedes Mal wieder erstaunt darüber, wie schnell politische Sprache, also Sprachhandlungen und Strategien gesellschaftliche Aus-wirkungen zeigen.  T.B.: Wir dürfen einen Ausschnitt aus Deiner erfolgrei- chen Erzählung Violante abdrucken. In diesem eindringlichen Werk bewegst Du Dich ebenfalls vorsätzlich zwischen Fakt und Fiktion. Wie hat Dein Recherche- und Schreibprozess bei diesem Buch ausgesehen? Was waren die Herausforderun-gen, die Überraschungen? FIKTION IST NIE KOMPLETT ANDERS ALS REALITÄT  VON JUDITH NIKA PFEIFER UND THOMAS BALLHAUSEN Fiktion ist nie komplett  anders als Realität Die österreichische Autorin  JUDITH NIKA PFEIFER  erzählt im Gespräch mit  THOMAS BALLHAUSEN  von ihrer Erzäh- lung Violante, über Recherche in der Kunst und die Verbindung von Sprache und politischer Macht.  Judith Nika Pfeifer, © Lukas Dostal


J.N.P.: Ja, das war ein unglaublich spannender Prozess,  die Recherche, das Schreiben und Herumprobieren. „Vio–lante basiert auf der wahren Geschichte eines Ehrenmor-des, geschrieben als furioses Crossover von großer Oper und Quentin Tarantinos blutigen Kino-Thrillern“, wie Herbert J. Wimmer es wunderbar zusammenfasst. Mich hat die Fra-ge der sprachlichen Mittel gereizt: Wie kann man diese Ge-schichte, diesen Mord, der sich im Jahr 1559 ereignete in der Gegenwart erzählen? Es geht zum einen um alternative Fak-ten, dann um eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, also um den (meinen) Wunsch, rehabilitierte Mörder zu ent-re-habilitieren, mit diesen Setzungen einer Machtinstitution, es geht um gesellschaftliche Spielregeln, anders umzugehen. Ich muss gestehen, das war ein starker Antrieb, diese Geschich-te zu schreiben. Zudem ist Violante eine unheimlich interes-sante Figur. Wie erzählt man ihre Geschichte, ohne ihr Wor-te in den Mund zu legen, ohne erneut paternalistisch über sie drüber zu fahren? Wie kann man diese, ihre Geschichte im Hier und Jetzt erzählen? Wie mit all dem historischen Mate-rial umgehen? Und wie gesagt, es geht gar nicht so sehr um Violante, mich hat interessiert, was an ihrer Person, was da über sie ausverhandelt wird. Ich wusste, ich wollte und musste mich mit Möglichkeiten spielen, Einiges offen lassen, die Ge-schichte durch andere sichtbar werden lassen. Es begann alles damit, dass ich 2015 mit einer artist resi- dency in Paliano in Italien eingeladen war. Bei der Recher-che, was es denn Spannendes in und zu Paliano gibt, bin ich durch Zufall auf Stendhals La Duchesse de Palliano gestoßen. Ich habe Stendhals Übertragung eines alten Manuskripts ge-lesen, zur Seite gelegt, versucht, die wirren Erzählstränge zu durchschauen. Die Herzogin von Palliano war 1559 von ihrem Mann und Bruder ermordet worden. Die Story, all die Wir-rungen, die dazu geführt hatten, der Missbrauch von Macht, das hat mich nicht losgelassen, ich musste und wollte unbe-dingt rausfinden, wer wen wann wie warum umgebracht hat, wollte wissen, wie das alles zusammenhing. Erstaunlich fand ich, dass Violantes Mörder damals vor Gericht kamen und zum Tode verurteilt wurden. Ehrenmord und Femizid wa-ren leider an der Tagesordnung und wurden selten geahndet. Faszinierend an der Geschichte der Duchesse de Palliano ist auch, dass Violante, die Hauptfigur, schwer zu fassen ist. Sie kommt in Stendhals Übertragung nicht wirklich als handeln-de Figur vor. Was mich interessierte, war zu schauen und he-rauszufinden, was denn da über sie verhandelt wird. Violante hat in Stendhals Erzählung keine Stimme, es geht ja gar nicht so sehr um sie. Was da alles auf sie projiziert wird! Sie selbst  kommt nur einmal zu Wort, als sie bei ihrer letzten Beichte zitiert wird: „Ich glaube, ich glaube.“ Historische Romane sind nicht so mein Ding, die Be- hauptung, dass etwas so und so war ist mir zu einfach. Uwe Timm hatte mal gesagt „Alle Stimmen sprechen“. Dieser Satz ist mir wieder eingefallen und ich dachte, das wäre doch eine Möglichkeit, also eine Art Sprachrohr zu sein für alle Stim-men. Und so dieses wirre Netzwerk offen zu legen, all die Er-eignisse und Wege, die die beteiligten Figuren nehmen und die Entscheidungen, die sie treffen, so dass und bis es eben zu den Morden kommt.  Nach einem Drehbuch-Workshop bei Linda Aronson habe ich dann die erzählerische Struk-tur entwickelt: experimentell, nicht-linear und mit multiplen Protagonist*innen. Dazu habe ich Expert*innen befragt, die Geschichte also ergänzt und in Cut-up-Manier neu erzählt. All die einzelnen Stimmen sind nun legitime Versionen, die ne-beneinander existieren, einander ergänzen. Zeit oder auch Ge-schichte im herkömmlichen Sinne waren dann plötzlich kein Thema mehr.  T.B.: Was hat Dich dazu gebracht, Dich dieser histori- schen Frauenfigur zu widmen? Siehst Du die Aufarbeitung ei-ner „weiblichen Geschichte“ auch als Aufgabe an die Gegen-wartsliteratur? Kann die Literatur hier vielleicht sogar etwas leisten, was den Wissenschaften so nicht möglich ist? Mir war es ein Anliegen, die Perspektive der Täter eben- so zu zeigen, wie jene von Violante. Oder sie so zu zeigen, dass ich ihre Position respektiere. Ich habe den Eindruck, ich weiß immer noch so wenig über sie. Ich wollte nicht noch eine Schicht an Mutmaßungen drüberlegen. Deshalb habe ich ihre Geschichte über multiple Protagonist*innen erzählt. Da-bei geht es nicht darum, die persönliche Verantwortung der Mörder herunterzuspielen, gerade so, als wären diese ihrer Umwelt willenlos ausgesetzt. Was sich zeigte war vielmehr, wie wichtig die gesellschaftlichen Spielregeln sind und was für eine enthemmende Kraft Macht sein kann. Macht kann kor-rumpieren. Sie muss es aber nicht. Violantes Geschichte zeigt auf, wie stark menschliches Handeln und die erwähnten Re-geln miteinander verbunden sind. In Systemen, und das kann ja durchaus ein Dilemma sein, geht es immer auch um die Reproduktion des Systems, der Einheit des Systems. Ich woll-te ganz prinzipiell heraus aus dieser Mann-Frau-Täter-Opfer-Dichotomie. Ich sah meine Aufgabe als die einer Art Chro-nistin oder eines Mediums, die das durchleuchtet und neue Perspektiven anbietet.  ZUKUNFT | 35 


 36 | ZUKUNFT  VIOLANTE (TEXTAUSZUG) Ich sage nicht, dass sie nicht tot ist, ich sage nicht, dass es  nicht schrecklich ist, dass sie ermordet wurde. Ich sage nur, dass es nichts helfen würde, da was anzuleiern. Einen toten, rehabilitierten Mörder ent-rehabilitieren. Ich sage nicht, dass es unmöglich ist. Eher äußerst unwahrscheinlich. Und wer weiß, was damals alles dahintersteckte. Der Kontext, wissen Sie, das ewige Raumzeitproblem. Es gibt da eine Kollegin, sie ist Expertin für italienisches Strafrecht, ich schreibe Ihnen ihre Nummer auf. Wenn Sie sie treffen, sagen Sie ihr schöne Grü-ße, dann haben Sie nur noch das Problem mit der Gegenwart. Der Kontext, sehen Sie, der Rechtsspruch hätte absolut gültig sein können, nach dem damaligen vorherrschenden Recht. Sie brauchen einen Kirchenrechtler, der sich mit dem Recht des sechzehnten Jahrhunderts in Rom auskennt, und selbst dann wissen Sie nicht, ob Mord damals nicht verjährte oder in bestimmten Fällen gar kein Mord war.  Alles beginnt im Nachhinein. In Neapel oder Capriglia  zum Beispiel, wo ich am 28. Juni 1476 geboren werde. Es zieht mich früh nach Rom, wo mein Cousin und Mentor Oliviero Carafa, Kardinal und Erzbischof von Neapel, lebt. Ich werde jung Priester. Alexander vi. macht mich zu sei-nem Kämmerer, man könnte auch Ordonanzoffizier sagen oder Assistent. Papst Julius ii. ernennt mich zum Erzbischof von Chieli. Paul iii. macht mich zum Kardinal, und schließ-lich werde ich am 23. Mai 1555 von den zum Konklave einge-schlossenen Kardinälen als Paul iv. zum Papst gewählt. Ich bin achtundsiebzig Jahre alt. Meine positiven Eigenschaften: für-sorglich, intuitiv, sparsam, familienorientiert, feinfühlig, treu. Manche sagen, ich sei überempfindlich, besitzergreifend, reiz-bar und nachtragend. Vielleicht bin ich etwas passiv.  Sag mal, die anderen reden ohne Unterlass. Wir disku- tieren einen Mordfall. Eine Tragödie. Wir ist ein neuronales Weltwirnetz. Du ist eine Reihe von Ichs. Ich ist ein Medium. Zum Mitschreiben. Ich Gianpietro. Ich Violante. Ich Giovan-ni. Ich Marcello. Carlo. Diana. Domiziano. Papst. Ich Marie- Henri. #me. Ich bin nicht da. I am tired, I am weary. I could sleep for a thousand years. Ich, ein Herzog. Ich, seine geliebte Frau. A thousand dreams that would awake me. Ein Herzog soll seine geliebte Frau töten. Ein Herzog soll seine geliebte Frau töten lassen. A duke has his beloved wife murdered.  Fake news is the new news. Black is the new black. Und  die Wirklichkeit die Summe der Möglichkeiten, nicht der Fakten. Ich zitiere Konrad Bayer, der André Breton zitiert. Also in umgekehrter Reihenfolge: zuerst die Fakten, dann die Möglichkeiten.  Der Papstwahl vom 23. Mai gehen tagelange, heftige Aus- einandersetzungen zwischen den zum Konklave eingeschlos-senen Kardinälen voraus. Gianpietro Carafa wird von nicht wenigen als ein unangenehmer, rauer Typ beschrieben. Und sogar diejenigen, die ihn zum Papst wählen, haben Angst vor seiner Härte und seiner unerbittlichen Frömmigkeit. Die un-erwartete Wahl hat umwälzende Folgen in Neapel und Pa-lermo. Innerhalb weniger Tage treffen zahlreiche Mitglieder der illustren neapolitanischen Adelsfamilie Carafa in Rom ein.  Good news für die Carafas: Die drei Neffen des Papstes,  die Söhne seines verstorbenen Bruders, des Grafen von Mon-torio – Tick, Trick und Track –, Giovanni, Carlo und Anto-nio werden besonders begünstigt. Auf dass sie die Herrschaft religiös-sittlicher Ideen immer mehr zur Wirkung bringen. Auf dass hinter Ideologie militärische Stärke wache. Bad news für Rom und die Welt. Im Papstherz der G*tt des Nepotismus schlägt sich gut. Und Tick, Trick und Track zeigen rasch ihr Gesicht, OMG!, sehen nun eher aus wie die Panzerknacker Ede, Max und Otto – Chapeau, Erika Fuchs!  Die drei Brüder beginnen gleich zu Beginn all jene, die  sich ihnen in den Weg stellen, zu enteignen. Machen, was sie wollen, nehmen sich, was sie wollen, Geld, Besitz, Lände-reien, Mädchen und Frauen ohne Rücksicht auf Stand, Adel und Herkunft. Pech, wer ihnen ins Auge fällt. Mehr noch, sie lassen sich nicht einmal durch die heilige Abgeschlossenheit der Klöster aufhalten!  Die Brüder in Spitzenpositionen leiten bald eine kurio- se Mischung aus Industrie-Holding, Mafia-Clan und einem amerikanischen (süd-us-amerikanisch-egal) Milliardärsre-gime. Nicht nur das eigene Volk, auch die Botschafter anderer  VIOLANTE  VON JUDITH NIKA PFEIFER JUDITH NIKA PFEIFER VIOLANTE  Wien: Czernin 160 Seiten | € 19,90 ISBN: 978-3707606010 Erscheinungstermin: Februar 2018


 ZUKUNFT | 37  Länder werden respektlos behandelt. #schreckensherrschaft  Für den Abendsalon im Palazzo hat sich Herzogin Violan- te in Schale geworfen. In ihrer goldfarbenen Robe bezaubert sie sicherlich nicht nur ihren Ehemann Giovanni, Herzog von Paliano. Die rothaarige Diana Brancaccio, ihre Vertraute und eine nahe Verwandte, trägt ein Lied vor.  Die menschliche Stimme kann irrsinnig  verfüh- rerisch sein. Was für eine Haarfarbe, prachtvoll. Und so äußerst selten zu sehen.  Es wird geklatscht. Es wird geplaudert. Alle kennen einan- der, zumindest vom Sehen.  Während der Herzog noch an seinem brokatenen Über- rock fummelt, sitzt bei Herzogin Violante alles. Dem Anlass entsprechend erscheint Violante ganz in Gold und Ocker. Ihre Schultern schmückt ein Tuch, das uns sehr bekannt vorkommt.  Violante wird von allen für ihre ungewöhnliche Schönheit  und ihre besondere Anmut bewundert.  sie siND Das sChÖNsTe TraUmPaar roms! Die herZoGiN vi- olaNTe UND GiovaNNi CaraFa siND GUTer hoFFNUNG UND Das GlÜCK DarÜBer isT ihNeN iN JeDer seKUNDe aNZUseheN.  Glamour herrscht hier auch im Alltag: Wenn man die  sechs Meter hohe Eingangshalle betritt, werden die Hauptele-mente schnell ersichtlich: fließende Formen, gewölbte Wän-de, verkleidete Treppen und Balkenkonstruktionen, die na-türliches Licht zulassen. Durch ein großes Glasdach flutet Tageslicht in die drei Galerien. Was für ein Prunk.  Royal Baby Alert! Paliano’s Giovanni Carafa and Violan- te di Cardona Expecting Second Child. A royal baby is on the way! GIOLANTE sind guter Hoffnung. While the Duke’s palace isn’t commenting on the happy news, a pregnant-loo-king Violante was spotted recently in Rome alongside her husband Giovanni. Violante is reportedly due in late 1559.  Sie erweckt nicht selten Leidenschaften, doch teilt sie  keine.  Ach, das wissen doch alle, dass ihr Mann im Palazzo Be- such von den schönsten und berühmtesten römischen Damen bekommt.  Womit sie sich nicht abfinden mag. Der Gerechtigkeit halber muss gesagt sein, dass – was sich  in den Stunden und Minuten vor ihrem Tod zeigt – man kaum eine größere, stärkere Seele finden könnte als ihre. Und wie süß ihr Sohn doch ist, der kleine Herzog von Cavi. Ken-nen Sie ihn?  Bitte?Nicht umdrehen.Marcello Capecce.Wo?Ein entfernter Cousin der Herzogin. Der schönste Mann Roms.Günstling des Herzogs.  Ach was, der schönste Mann der Welt. Sein Neffe. Pssst, da kommt er. Alle setzen ihre Weltdamengesichter auf. Vielleicht ist er auch nur auf der Suche. Man nimmt ihn nicht für ganz voll. Dabei ist er bloß ver- liebt. In die Frau eines anderen, die er sich aus dem Kopf schlagen muss. Er sieht, wie unglücklich sie ist. Sieht, wie ihr Mann, der Herzog, sie vernachlässigt. Er weiß, dass sie weiß, dass der Herzog in seinem Palast Besuch von den schönsten, berühmtesten Damen bekommt. Zwischen ahnen und wis-sen: Recht haben.  Liebe hat immer recht. #love #liebloseehe #loveyou  #love- sucks TeDx Talk. Liebe genießt und schweigt. Violan-te, was in einem Namen steckt. Like sie nicht, lieb sie. Mar-cello genießt, schweigt und leidet. Love will find a way. Er wird, er kann ihr Niemals seine Liebe gestehen.  Unter den Kaplänen des Papstes gibt es einen Mönch, der  mit dem Papst das Brevier betet. Die drei Papst-Neffen ge-hen eindeutig zu weit, sind gut im Enteignen, Bestimmen, Einschüchtern, Wüten, Betrügen. Eines Tages fasst eben die-ser Mönch seinen ganzen Mut zusammen und berichtet dem Papst unter Lebensgefahr – wahrscheinlich auf Bitte und Ver-anlassung des spanischen Gesandten – von den Verbrechen und Schurkereien der drei Neffen.  Der fromme Papst glaubt ihm kein Wort, will nichts von  all dem wissen und schickt den Mönch kurzerhand weg.  Doch seine Sorge, sein Misstrauen, sein Argwohn sind ge- weckt. Der selektive Blick.  Das Verhängnis will, dass Marcello, der schönste Mann  Roms, ach was, der Welt, der hier – Schwenk auf Marcello Ca-pecce  – mit schnellen Schritten durch das nächtliche Rom stapft, mit Martuccia, einer der berühmtesten cortigiane Roms, einer absoluten Schönheit, verabredet ist. Es gibt was zu fei-ern. Nichts Ernstes, rein körperlich.  Und an eben diesem Abend ist sie nicht da, wo sie einan- der treffen wollten.  Als er sie nirgendwo findet und hört, dass Lanfranchi, An- drea Lanfranchi, der Sekretär des Herzogs von Paliano, ein Fest zu Ehren des Kardinals gibt, ahnt er, wo Martuccia zu finden ist. 


 38 | ZUKUNFT  VIOLANTE  VON JUDITH NIKA PFEIFER Eine Tafel beladen mit Essen. Eine fette Party. Menschen  am Feiern. Tanzen. Stimmen. Musik und lautes Lachen. Wein fließt in Strömen. Neujahr 1559. Auch wenn Rom keine nen-nenswerte Militärmacht ist, bildet es den Mittelpunkt der Welt. Und auch wenn der fromme Papst es nicht gerne sieht: Feiern muss erlaubt sein. Muss ja nicht zusehen.  Lanfranchi – Zoom auf Andrea Lanfranchi – gibt Kardinal  Carafa zu Ehren ein prächtiges Abendessen. Damit neben dem kulinarischen Wohl das leibliche – die Unzucht – nicht fehlt, hat er – Zoom auf Martuccia – die schönste, berühmteste und reichste Kurtisane Roms kommen lassen, zu deren Kun-den die wichtigsten Männer Roms zählen. Doch heute hat sie nur Augen für Kardinal Carlo, den jüngsten der Carafa-Brü-der. Hier beginnt es.  In der Mitte des Saals eine üppig beladene Tafel: Kerzen,  Salz, Obstteller, Blütendeko, Perlmuttmuscheln.  Viele aus dem Süden haben in letzter Zeit Karriere ge- macht und bekleiden nun wichtige Posten. Und der alte Koch, der vor hundert Jahren das Dorf verlassen und sich längere Zeit in Kairo aufgehalten hatte, kocht immer noch. Roms ospi- talità ist weltbekannt, und Lanfranchis Esstisch ein Beweis dafür.  Heute lebe ich hundert Prozent besser als vor drei Jahren,  sagt der Koch. Slaveship punk. Meint, aus Dankbarkeit wende er sich dem Nächsten zu.  Jedermann untertan für die Freiheit. Seine Haltung: Niemand dem anderen Diener und keiner sein eigener Herr. Im besten Sinne selbstvergessen.  An dieses Fest soll sich keiner erinnern, sagt Lanfranchi.  Wer sich erinnern kann, war nicht dabei, lacht er.  Der, der da eben aufsteht, um zur Toilette zu gehen: Gio- vanni Carafa, der älteste der drei Carafa-Brüder und ver- heiratet mit Violante di Cardona aka Violante Diaz-Carlon d’Alife – sie ist nicht im Bild … hier ist sie eingeblendet. Von sei-nem Onkel, dem Papst, wie gesagt, eben erst zum Herzog von Paliano ernannt. Sein Herzogtum ist groß, besteht aus vie-len Dörfern und einigen kleinen Städten. Marc Antonio Co-lonna noch bis vor Kurzem Herzog von Paliano – auch er ist nicht im Bild – wurde für Giovanni kurzerhand enteig- net. Und bereits jetzt ist der neue Herzog bekannt für seine rau-schenden Feste. Die jungen Leute der besten Familien Napo-lis und Roms – Zoom auf feiernde Menschenmenge – buhlen um die Ehre, eingeladen und in den Freundeskreis aufgenommen zu werden.  Sitzend Carlo Carafa, der jüngste der Brüder, Malteserrit- ter und von seinem Onkel, dem Papst, zum Kardinallegaten von Bologna und Premierminister ernannt, ein typischer Con- dottiere: ehrgeizig, brutal, entschlossen und gewissen- los. Be-dacht auf die Durchsetzung der eigenen Ziele, den Interessen der famiglia absolut treu. Kämpfte unter Alfonso d’Avalos in der Lombardei und im Piemont sowie unter Herzog von Par-ma Ottavio Farnese in Flandern und Deutschland. Er quit-tierte enttäuscht die kaiserlich-spanischen Dienste, danach kämpfte er unter Piero Strozzi auf französischer Seite. In sei-ner Zeit als Soldat begeht Carlo mehrere Rechtsbrüche und Verbrechen. Aus Neapel wurde er 1545 wegen Raubes und Mordes ausgewiesen. Man sagt, er habe in einem Spital ver-wundete spanische Soldaten ermordet.  Schnee von gestern: Der Papstonkel weiß um Carlos Ver- gangenheit, erteilte ihm bei der Kardinalserhebung für all sei-ne Verbrechen – genannt wurden Raub, Sakrileg, Diebstahl und Mord – ausdrücklich die Absolution.  Und hier drüben, er lässt sich eben Wein nachschenken  –  Zoom auf Antonio Carafa –, der mittlere der Brüder, von seinem Onkel zum Marchese von Montebello ernannt. Eine seiner Töchter aus zweiter Ehe wird auf Vermittlung des Paps-tonkels mit Francois ii., dem Dauphin Frankreichs, vermählt. Dazu wollte ihr der Großonkel noch als Mitgift das   Neapel schenken, das er Philipp ii., König von Spanien  und Sizilien und Neapel, hätte abnehmen müssen.  Zu Mitternacht ist das Fest in vollem Gange: Ausgelas- sen, dionysisch-dekadent, rauschend. Der Kardinal, der heu-te Abend so ganz ohne scharlachrotes Ornat – das ihn da-ran erinnern soll, immer für den Glauben einzu- treten und wenn es bedeute, sein Blut zu vergießen, usque ad ef-fusionem sanguinis – so gar nicht wie ein Kardinal aussieht, deutet Martuccia, sie solle sich auf seinen Schoß setzen. Sie lächelt, aber wie! und setzt sich auf seinen Schoß.  Was für ein Blick.Was für ein Lächeln!Erinnert an antike Tempelprostitution. Draußen klopft Marcello, begleitet von mehreren bewaff- neten Männern, an die Tür. In der Stadt regiert die Gewalt. Diebstahl, Raub und Mord ordnen den Tag. Da wagt sich kaum jemand, egal welchen Standes oder Geschlechts, un-bewaffnet auf die Straße. Und wer es sich leisten kann, lässt sich von bewaffneten Männern begleiten. Wer weiß, wozu’s gut ist.  Marcello und seine Männer werden eingelassen, Lanfran- chi begrüßt Marcello freundlich, fordert ihn auf, sich zu set-zen und mitzufeiern. Nach einem eher kühlen Wortwechsel entdeckt Marcello Martuccia, die auf dem Schoß des Kardi-nals sitzt.  Marcello winkt ihr, deutet ihr, aufzustehen. Martuccia zö-


 ZUKUNFT | 39  gert, der Kardinal hält sie fest. Sie ahnt, was kommen wird. Marcello geht auf die beiden zu, greift nach Martuccias freier Hand und versucht, sie mitzuziehen. Der Kardinal, zu dessen Ehren Martuccia bestellt wurde. Marcello sagt etwas. Das Fest ist in vollem Gange. Man  kann ihn nicht hören. Marcello sieht sehr zornig aus. Und der Kardinal, so aus der Ferne gesehen, übertreibt es wohl ein bisschen.  Nun, ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass stets derje- nige Vorrang hat, dem sich die Kurtisane zuerst verpflichtet. Rivalen werden akzeptiert, solange sie der gleichen Gesell-schaftsschicht angehören.  Marcello versucht nun, Martuccia mit Gewalt mit sich zu  ziehen. Kardinal Carlo hält sie fest. Sie zerren und zerren. Die arme Martuccia, was für ein Herumgezerre! Rundherum das Fest geht weiter, und alle sind ziemlich sternhagelvoll. Krie-gen rein gar nichts mit.  Und wenn schon, so ’ne Auseinandersetzung gehört dazu.  Bis Martuccia plötzlich entsetzt aufschreit. Weil der Kardinal, der nicht wie einer aussieht, den Degen zieht.  In der einen Hand Martuccias Arm, in der anderen der  Degen. Klar ist, der Kardinal will mit all seiner Kraft und Kühnheit, für die er bekannt ist (Mörder & Killer!), verhin-dern, dass Martuccia geht. Jemand, der in Spitälern Verwun-dete ermordet, weiß, wie’s geht.  Marcello ruft nach seinen Leuten, in der Mehrzahl Ne- apolitaner. Sie ziehen ihre Schwerter, stürmen in den Saal. Erst als sie Lanfranchi, immerhin Sekretär des Herzogs, und dann den ungewohnt gekleideten Kardinal erkennen, stecken sie ihre Schwerter wieder ein. So pronto. Flinkest. Jedes Kind weiß: Mit den Carafas legt man sich nicht an. Schon gar nicht mit dem Kardinal. Erst recht nicht wegen einer cortigiana. Der Kardinal ist der Boss. Der Boss hat immer recht.  Martuccia, die nun von Marcello an der linken Hand ge- halten wird, gelingt es, seinem Griff zu entschlüpfen. Und während sie aus dem Saal läuft, über die Treppe, stürzt sie und lässt uns mit dem seltsamen Bild ihrer Beine in der Luft zu-rück, kurz bevor sie unsichtbar wird. Als Marcello ihre Abwe-senheit bemerkt, läuft er ihr nach und seine Leute folgen ihm. Was für eine Party.  (Auswahl und Zusammenstellung: Thomas Ballhausen) JUDITH NIKA PFEIFER  ist Autorin und transmediale Künstlerin, lebt in Wien und Berlin.  Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt erschien ihre Erzählung „mountain- brut“ in der Anthologie „Sagen reloaded“ (Czernin Verlag 2020). THOMAS BALLHAUSEN lebt als Autor, Kulturwissenschaftler und Archivar in Wien und Salzburg.  Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator tätig. Rockefeller Center with Uraeus by Anselm Kiefer (2018) © Wikimedia Commons (author: PortableNYCTours)


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