22 | ZUKUNFT Menschen mit vielen neuen guten und weitreichenden Ide-en. Und diese Menschen haben dann innerhalb der SPÖ in den 1970er- und 1980er-Jahren ihren Aufschwung erlebt und in den folgenden Jahrzehnten höchste Funktionen beklei-det. Ohne diesen intellektuellen Schub gäbe es keine Fristenlö-sung und in der Bildungspolitik wären viele Schritte nicht ge-setzt worden. Und im Prinzip setzten sie auch diesen Weg der spannenden, modernen Themen fort. Aber dann kamen wir in den 1990er-Jahren an einen Punkt, an dem es der SPÖ nicht ausreichend gelungen ist, eine Brücke zwischen dieser intel-lektuellen Kraft der SPÖ und den Menschen zu bilden. Die-se Brücke hätte immer der ÖGB bzw. die FSG sein sollen, doch gerade die Gewerkschaftsbewegung erlebte in dieser Zeit vie-le Krisen; es gab zahlreiche strukturelle Veränderungen, die verstaatlichte Industrie wurde teilweise privatisiert u. Ä. Die FSG in der VOEST war eine Macht im Staat – der Betriebsrats-chef dort war eigentlich mächtiger als der Kanzler. Das waren mächtige Arbeiter*innenführer in den verstaatlichten Indust-rien und Werken. Und das hat es nicht mehr gegeben.Das heißt: Es gab eine soziologische Veränderung in der Struktur der Wähler*innen und es gab eine intellektuelle, wenn man so will, „Urbanisierung“ in der Partei. Und es ist uns nicht gelungen, die Brücke zu den Menschen zu schla-gen. Kreisky hat z. B. klar erkannt, dass es Aufgabe der SPÖ sein muss, den Menschen ihre Ängste zu nehmen – wenn ihr das gelingt, ist sie erfolgreich, wenn nicht, dann nicht. Rund um den EU-Beitritt gab es eine bemerkenswerte Situation in diesem Zusammenhang: Die Partei, die historisch am stärks-ten für den Beitritt plädierte, die FPÖ, zog sich plötzlich zu-rück, wendete um 180 Grad und war aus rein populistischen Motiven plötzlich der schärfste Gegner eines EU-Beitritts. Ein Drittel der Österreicher*innen stand der EU skeptisch gegen-über und dieses Drittel sollte abgeholt werden. Dann begann die rechtspopulistische Zeit des Jörg Haider, der mit einfachen Antworten gekommen ist, mit ganz einfachen Botschaften. Außerdem griff er die Sozialdemokratie dort an, wo sie am stärksten war: im Gemeindebau.Und nach einem zögerlichen Start waren sie dort auch schnell erfolgreich. Mein alter Freund, Rudi Gelbard, der im KZ war und im Leben furchtbares mitgemacht hat, einer der klügsten und belesensten Menschen, die ich kannte, hat mir dazu das Buch von Joseph Goebbels von 1926, Der Kampf um Berlin, nahegelegt – ein Buch aus einer Zeit, zu der die NS-DAP in Deutschland noch Wahlen schlagen musste. Darin findet sich eine propagandistische Anleitung an die Sturmscharen und an alle Nazi-Aktivist*innen, wie sie im Wedding, dem großen Arbeiter*innenviertel in Berlin, vorzugehen haben, um dort Fuß fassen zu können. Das beinhaltet folgende Schritte: Man geht mit den modernsten Methoden dorthin, das war damals der Lautsprecherwagen. Man greift den politischen Gegner an, egal ob es stimmt oder nicht – angreifen muss man. Und zwar dort, wo er am stärksten ist: Nicht in Neubau oder Mariahilf, sondern in Floridsdorf, in Simmering, in Favoriten, in der Do-naustadt – das ist der entscheidende Punkt. Und Haider hat im Wesentlichen dieses Konzept übernommen. Wir hatten keine entsprechenden Antworten. Das hat dazu geführt, wie Bern-hard Heinzlmaier und andere Meinungsforscher*innen mit ih-ren Sinus-Milieustudien seit Jahren zeigen, dass die SPÖ eigent-lich primär eine Partei der urbanen Oberschichten geworden ist, unter Berücksichtigung dessen, dass die traditionelle Gruppe der Wähler*innen noch existiert, sozialwissenschaftlich erkenn-bar, aber schrumpfend ist. Für Wien errechnete Heinzlmaier, dass die SPÖ am ehesten das oberste Drittel der Bevölkerung an-spricht, bezogen auf Bildung und Einkommen. Natürlich gibt es „nach unten hin“ noch die Reste der alten Strukturen, aber wir haben die Brücke dorthin verloren.Und jetzt komme ich zu dem Punkt, den Du angespro-chen hast: Man muss selbstverständlich ganz offen für jene Menschen eintreten, die unsere Hilfe brauchen. Als ich Bun-desgeschäftsführer war, bin ich auch viel in Österreich herum-gekommen, und wenn ich in Hietzing, meinem politischen Heimatbezirk, mit den Menschen gesprochen habe, war das immer anders, als wenn ich mit jemandem in Simmering ge-sprochen habe. Weil mir bei der U3-Station im Zentrum Sim-mering die Leute schon gesagt haben, mir ist das wurscht, was ihr da redet, ich will im Kühlschrank etwas drinnen haben. Und das ist der entscheidende Punkt. Deshalb habe ich auch – was den sozialpolitischen Bereich im Burgenland betrifft – meinen Respekt. Das Burgenland geht da einen vorbildlichen Weg! Die Frage des Mindestlohns vertritt die Bundespartei-vorsitzende Pamela Rendi-Wagner auch, das ist sinnvoll, denn wir müssen in die Kaufkraft gehen. Auch den Corona-Tau-sender, den Rendi-Wagner vorgeschlagen hat, halte ich für eine gute Idee. Generell sollten punktuelle Zuwendungen, wo sie notwendig sind, auch gewährt werden. Wir müssen für die Menschen im Gemeindebau da sein, für alle. Und gerade für die, die uns am notwendigsten brauchen, für die müssen wir am stärksten da sein.H. P.: Weil du den Mindestlohn angesprochen hast: Es ist auch eine Überlegung wert, ihn mit der Bildungspolitik zu WIR MÜSSEN DIE KLASSEN IMMER WIEDER IN FRAGE STELLEN … INTERVIEW MIT GERHARD SCHMID