09/2021 5,– Euro, Österreichische Post AG,  P.b.b. Abs.: Gesellschaft zur Herausgabe der Zeitschrift ZUKUNFT,   Kaiserebersdorferstrasse 305/3, 1110 Wien, MZ 14Z040222 M, Nr. 09/2021 POLITIK DER LEKTÜRE Es war einmal das Lesen …? Bianca Burger „Es ist natürlich ziemlich grausam.“ Zu Elfriede Jelineks Hörspiel  Die Bienenkönige (1976) Johanna Lenhart The Great Awakening – oder: Aufwachen, später Lena Wiesenfarth Die dunklen Jahre (Auszug) Friederike Manner SEIT  1946


  Insbesondere in Zeiten notwendiger Debatten über die Be- deutung von Arbeit im Kunst- und Kulturfeld, über die autoritär unterfütterte Haltung einer problematischen Iden-titätspolitik und den zahllosen Herausforderungen für den ge-samten Bildungs- und Kulturbereich in (post-)pandemischen  Zeiten, schien es uns als Redaktion der ZUKUNFT richtig, die  Politik der Lektüre zum Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe  zu machen. Die hier versammelten Beiträge machen deut-lich, wie sehr die Praxis einer selbstbestimmten, reflektierten  Lektüre mit Fragen von gesellschaftlicher Orientierung und Positionierung korrespondiert, wie sehr eine alltägliche, für  selbstverständlich gehaltene Tätigkeit, Ausdruck einer kom-petenten Auseinandersetzung sowohl mit der vereinbarten  Wirklichkeit, als auch mit welthaltigen künstlerischen Ange- boten sein kann – und wohl auch soll. Lektüre zeigt sich dabei in ihrer geschichtlichen wie auch ak- tuellen Gestalt als ein Prozess, der immer schon starken Wand-lungen unterworfen war und auch weiterhin von beispiels- weise technologischen, sozialen und auch bildungspolitischen Entwicklungen mitgeprägt sein wird. Die Einladung zu einer  unausgesetzten, im nicht zuletzt auch lustvoll-unterhaltsamen Sinne erfüllten Lektüre sehen wir in Verbindung mit den entsprechenden historischen Aspekten, als Aufforderung zur  (Selbst-)Ermächtigung und Teilhabe am Sozialen. Als Redak- tion der ZUKUNFT sprechen wir uns für die Haltung und Pra- xis einer konstruktiv-kritischen Lektüre aus, die Grundlage  echter Auseinandersetzung und aufgeklärter Durchdringung  sein kann, die nicht zuletzt politischen Diskurs und genuinen  Austausch ermöglichen hilft. In diesem Sinne haben wir Bei- träge zur Politik der Lektüre versammelt, die mit diesem Titel  die Option eines sich öffnenden Blicks für eine facettenreiche, mitunter von Widersprüchen und (noch) unbeantworteten  Fragen gekennzeichnete Welt meinen – und dieses Verständ- nis auch produktiv ausspielen: Sie wollen gelesen, durchdacht und eben auch genossen werden. Den Anfang dieser Schwerpunktausgabe zum Thema Politik der Lektüre macht ein Review-Essay der Redaktionsassisten-tin der ZUKUNFT Bianca Burger. Sie beschäftigt sich mit der Frage inwiefern sich die Lese- und Buchkultur wirklich in einer Krise befindet, wie dieser beizukommen ist und wel- che Veränderungen notwendig sein werden, damit es nicht irgendwann einmal heißt Es war einmal das Lesen. Im Anschluss daran rüttelt uns Lena Wiesenfarth mit ihrem Beitrag  The Great Awakening wach. Rund um die Auseinan- dersetzung mit der Autorin Ottessa Moshfegh arbeitet sie die  Wirksamkeit der literarischen Motive von Schlaf und Erwa- chen in Zeiten des Neoliberalismus heraus. Neben der lite-rarischen Auseinandersetzung zieht sie Parallelen zur „realen“  Welt und zeigt auf, welche politischen und sozialen Konse- quenzen eine schlaflose, betäubte Gesellschaft hat/hätte. Ebenfalls ins Heute führt Johanna Lenharts Beitrag über ein  unbekannteres Werk der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek  – Die Bienenkönige aus dem Jahr 1976. Wie so viele Werke Jeli- neks hat auch dieses Hörspiel einen starken Gegenwartsbezug und greift Debatten auf, die im Zuge der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren prägend waren. Patriarchale Machtstruktu-ren, Gebärzwang, Mutterschaft, Wissen und Macht sind The-men, die den Text aktueller denn je erscheinen lassen. Politik der Lektüre BIANCA BURGER, THOMAS BALLHAUSEN UND ALESSANDRO BARBERI EDITORIAL


 ZUKUNFT | 3    Einen Blick in die Zukunft wagen anschließend Claudia Leh- mann und Konrad Hempel. Ihr Briefwechsel aus dem März  2021 verhandelt Aktuelles wie die Corona-Pandemie ebenso wie Zukünftiges, zum Beispiel wie die notwendige Verände- rung in der Welt vonstatten gehen könnte und welche Vor-aussetzungen dafür erfüllt sein müssen. „K.“ und „Koko“ phi-losophieren, diskutieren, ergänzen und widersprechen sich. Es entwickelt sich ein dynamisches, literarisches Spiel, bei dem immer wieder ein Augenzwinkern zu erkennen ist und das den  Eindruck erweckt, man sei selbst inmitten des Spiels. Den Auftakt zum literarischen Schwerpunkt dieses Heftes  macht Zarah Weiss. Sie stellt einen Roadtrip durch Australien in den Mittelpunkt ihrer Erzählung Spot On A Long Road. Alex und Noa befinden sich auf einer Reise durch die Weiten des  Outbacks. Dabei wird der Urlaub plötzlich zu einer Reise zu  sich selbst. Wer hat wovor am meisten Angst, was hinterlassen  wir von unserem Leben auf der Erde und wo liegen die Gren- zen einer Freundschaft? Ein ganz besonderes Highlight gibt es zum Abschluss dieser  Ausgabe. Ein Auszug aus dem wiederentdeckten Werk Die  dunklen Jahre von  Friederike Manner bringt Politik und Li-teratur auf eine ganz besondere Art und Weise zusammen. In ihrem autobiografisch angelegten Roman analysiert und kom- mentiert sie die bekannten historischen Vorkommnisse mit einer unglaublichen Schärfe und Direktheit. Die Leser*innen erleben die entscheidenden Monate rund um den Anschluss an Hitler-Deutschland 1938 aus ihrem Blickwinkel: Vom Ver-schieben der eigenen Prioritäten hin zum Wahlaufruf, der  Wahl an sich sowie möglichen und gescheiterten Fluchtversu- chen – und nicht zuletzt deren Folgen.  Für die Bildstrecke der vorliegenden Ausgabe konnten wir, und  das freut uns ganz besonders, erneut Elisabeth Öggl gewin-nen. In der Verbindung ausgewählter Arbeiten aus zwei Werk-serien, entsteht ein starker visueller Dialog, der auch über die  Einbettung in ihrem Gesamtwerk, das oftmals Bezüge zu Li- teratur und zu Befragung von Wahrnehmung/Lesbarkeit auf- weist, hinausgeht. Vielmehr lädt Öggls bewusste Auseinander- setzung mit „Bio Art“, also dem vorsätzlichen Verknüpfen von  künstlerischen Praxen und biologischen Prozessen, bei ihren Detailaufnahmen aus Yeastograms und dem Künstlerbuch Reishi zu einer ganz anderen, vielleicht auch ungewohnteren Ausein-andersetzung mit dem thematischen Komplex der Lektüre ein. Mehr über Elisabeth Öggl und ihr beeindruckendes Werk fin-det sich online unter: https://elisabethoeggl.org Insgesamt hoffen wir, dass wir auch mit dem aktuellen The- menschwerpunkt der ZUKUNFT erneut zu einer gewinnbrin-genden, lustvollen Lektüre einladen dürfen, die zu Diskussion und Austausch inspiriert! Wir senden Ihnen herzliche und freundschaftliche Grüße, Bianca Burger, Thomas Ballhausen und Alessandro Barberi BIANCA BURGER  ist Redaktionsassistentin der ZUKUNFT und hat sich nach ihrem   geisteswissenschaftlichen Studium der Frauen- und Geschlechter- geschichte sowie der historisch-kulturwissenschaftlichen Europaforschung  in den Bereichen der Sexualaufklärung und der Museologie engagiert. THOMAS BALLHAUSEN  lebt als Autor, Kultur- und Literaturwissenschaftler in Wien und   Salzburg. Er ist international als Herausgeber, Vortragender und Kurator  tätig. Zuletzt erschien sein Buch  Transient. Lyric Essay (Edition Melos, Wien).  ALESSANDRO BARBERI  ist Chefredakteur der ZUKUNFT, Bildungswissenschaftler, Medien- pädagoge und Privatdozent. Er lebt und arbeitet in Magdeburg und Wien.  Politisch ist er in der SPÖ Landstraße aktiv. Weitere Infos und Texte online  unter: https://lpm.medienbildung.ovgu.de/team/barberi/




Inhalt 6     Es war einmal das Lesen …?     VON BIANCA BURGER 14    The Great Awakening – oder: Aufwachen, später.    VON LENA WIESENFARTH 20    „Es ist natürlich ziemlich grausam.“      Zu Elfriede Jelineks Hörspiel     Die Bienenkönige (1976)     VON JOHANNA LENHART 26    Mal einfach weinen bei einer Bundestagsdebatte    VON CLAUDIA LEHMANN & KONRAD HEMPEL 34    Spot On A Long Road    VON ZARAH WEISS 38    Die dunklen Jahre (Auszug)    VON FRIEDERIKE MANNER REISHI DETAILAUFNAHME 5© ELISABETH ÖGGL 2019  WWW.ELISABETHOEGGL.ORG IMPRESSUM Herausgeber: Gesellschaft zur Herausgabe der Zeitschrift »Zukunft«, 1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3 Verlag und Anzeigenannahme: VA Verlag GmbH,  1110 Wien, Kaiserebersdorferstraße 305/3, Mail: office@vaverlag.at Chefredaktion: Alessandro Barberi Stellvertretende Chefredaktion: Thomas Ballhausen Redaktionsassistenz: Bianca Burger Redaktion: Julia Brandstätter, Hemma Prainsack, Katharina Ranz, Constantin Weinstabl Online-Redaktion: Bernd Herger Mail an die Redaktion: redaktion@diezukunft.at Cover: Deckblatt: Reishi Detailaufnahme 5 © Elisabeth Öggl 2019, www.elisabethoeggl.org – Namentlich gekennzeichnete Beiträge sind urheberrechtlich geschützt und stellen nicht immer die Meinung von Redaktion, Herausgeber*innen und Verlag dar.


 6 | ZUKUNFT  In ihrem Review Essay beschäftigt sich  BIANCA BURGER  mit der Frage nach der Zukunft des Lesens. Die Stimmen,  welche vor einem Verfall dieser Kulturtechnik warnen, werden immer lauter. Schuld an diesem Umstand soll vor allem die zunehmende Digitalisierung sein, die geradezu als Feind des Intellekts gesehen wird. Dass diese Abwehrhaltung kontra-produktiv ist, wird im folgenden Text schnell deutlich. Burgers Ausführungen kreisen unter anderem um lesende Madonnen, neue Studienrichtungen, die Digitalisierung und YouTube … Es war einmal   das Lesen …? ES WAR EINMAL DAS LESEN …?  VON BIANCA BURGER I.  Lesen und Schreiben zählen zu den elementarsten Kul- turtechniken, die unser gesamtes Leben auf unterschiedlichs-te Art und Weise durchdringen. Seit Längerem gibt es jedoch Stimmen, die auf Grund der zunehmenden Digitalisierung vor einem Verlust bzw. einem Rückgang des Lesens und von Büchern warnen. Eine Tagung, die 2018 in München zum Thema  Wie wir lesen – Zur Geschichte, Praxis und Zukunft ei-ner Kulturtechnik stattfand, beschäftigte sich genau mit dieser Frage. Die Inhalte der Tagung werden nun in einer auf zehn Bände angelegten Reihe veröffentlicht. In diesem Review Es-say mit Denkanstößen, warum die Digitalisierung nicht nur Fluch, sondern Segen sein kann, stehen die Abhandlungen von Werner Sollors zur Schrift in Bildender Kunst. Von ägypti-schen Schreibern zu lesenden Madonnen und Klaus Beneschs Ge-danken zum Mythos Lesen. Buchkultur, Geisteswissenschaften im Informationszeitalter, im Mittelpunkt. II.  Dass das Buch heute einen anderen Stellenwert genießt,  als dies in früheren Jahrhunderten der Fall war, ist unumstrit-ten. Lange Zeit waren gut gefüllte Bücherregale Statussymbo-le der intellektuellen Elite. Heute hat dies Seltenheitswert und ist in Privathäusern rar gesät. Wie wichtig Bücher einst waren und welche Symbolkraft sie hatten, zeigt sich an bildlichen Darstellungen. Werner Sollors Essay geht nicht nur der Fra-ge nach, wie sich Text, Buch und Bild zueinander verhalten, sondern erörtert, was passiert, wenn in Bildern oder auch bei Objekten, Worte, Texte bzw. Bücher abgebildet sind, und ob es beispielsweise einen Unterschied macht, wenn die Schrift im Bild lesbar ist oder nicht. Besonders häufig finden sich lesende Figuren in bibli- schen Darstellungen. Eine fast schon klassische Szene, in der das Buch und das Lesen eine prägende Rolle einnehmen, sind Verkündigungsdarstellungen. Seit Mitte des 9. Jahrhunderts wird Maria dabei überwiegend lesend gezeigt, obwohl sich in der Heiligen Schrift kein Hinweis dazu findet, dass Erzen-gel Gabriel sie lesend bzw. mit einem Buch vorfand. In Dar-stellungen vor 860 ist dem auch nicht so; in Bildern vor die-ser Zeit wird die Mutter Gottes am Spinnrad sitzend gezeigt. Zurückzuführen ist diese Veränderung in der Darstellungst-radition, von Maria am Spinnrad hin zur lesenden Maria, auf das Evangelienbuch von Otfried von Weißenburg aus dem  9. Jahrhundert: er hat die Mutter Jesu’ in seinem Gedicht ge-adelt, was durch das Buch als Symbol deutlich wird – von der ehemals armen Näherin, hin zu einer Edeldame, die le-sen kann. III.  Lesende Frauen-Figuren sind nicht nur Darstellungen aus  der Bibel vorbehalten, es gibt sie ebenso in Bildern mit welt-lichen Motiven. Jedoch lesen die weiblichen Protagonistin-nen, beispielsweise bei Jan Vermeer, keine Bücher oder bibli-sche Texte, sondern häufig Briefe. Was sowohl für weltliche, als auch religiöse Darstellungen gilt, ist, dass die Lesbarkeit der Worte oftmals absichtlich vermieden wurde, um dem/der Betrachter*in das Gefühl zu vermitteln, den Text mit den Au-gen eines/einer Analphabeten/Analphabetin zu sehen. Wie aber finden nun Texte oder einzelne Wörter Eingang  in die Kunst? Dies geschieht auf unterschiedlichste Art und 


Weise und beschränkt sich nicht immer auf das Bild direkt. Entweder wird ein geöffnetes Buch gezeigt, das auch noch leer sein kann, oder Worte am Bildrand, die das Dargestellte sowohl stören als auch unterstreichen können, aber auch Bild-titel oder begleitende Texte zählen dazu und können das Ver-ständnis eines Bildes erheblich beeinflussen – genauso wie die Rahmenbedingungen beim Lesen Einfluss auf die Rezeption haben; es macht einen Unterschied, ob man selbst liest, vor-gelesen bekommt oder im Rahmen eines Seminars liest. IV.  Während das Buch sowie das Lesen also seit frühester Zeit  ihren Niederschlag auch in der Kunst gefunden haben, wird heute, wie bereits erwähnt, immer öfter von einer Krise der Buch- bzw. Lesekultur gesprochen. Bei genauerer Betrach-tung wird deutlich, dass wir uns in einer gespaltenen Welt be-finden: auf der einen Seite hat sich das Lesen auf so viele Be-reiche des Lebens ausgedehnt, Twitter, Facebook, Blogs, Filme bzw. die Drehbücher dazu, auf der anderen Seite wird immer weniger Zeit dafür aufgewendet und die Aufmerksamkeit mit der gelesen wird, nimmt ab. Die Schuldigen für dieses Dilemma sind ebenfalls schnell  ausgemacht: Streamingplattformen und soziale Medien sol-len für den Untergang dieser Kultur(technik) verantwortlich sein. Aber ist dem wirklich so? Klaus Benesch zitiert in sei-nem Essay zum Mythos des Lesens den Text How to read von Ezra Pound aus dem Jahre 1929. Dieser stellt bereits zu diesem Zeitpunkt, Ende der 1920er–Jahre, fest, dass solch eine Krise schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts bestehe. Also trifft Face-book, Netflix und Co. doch keine Schuld?   V.  Gleich zu Beginn können wir festhalten: Lesen unterliegt  und unterlag seit jeher einem Anpassungsprozess an die Gege-benheiten. Schreiben und Lesen sind in einem ständigen Um-bruch – denken wir nur an all die heute nicht mehr gebräuch-lichen und teilweise nur schwer oder gar nicht mehr lesbaren (Hand-)Schriften. Auch wir schreiben heute sehr selten noch per Hand, oder wann haben Sie zuletzt einen handgeschrie-benen Brief per Post verschickt? Unabhängig davon, um welche Art der Neuerung/Ver- änderung es sich handelt, man begegnet ihr immer mit gro- ßer Skepsis. Als sich Anfang des 19. Jahrhunderts die Zahl der Bücher auf dem Markt exponentiell vergrößerte, wur-de die Kritik an der immer größer werdenden Titelvielfalt und Auflagenhöhe, gerade vonseiten der „Kultivierten“, im-mer lauter. Die Konsequenz war ein verändertes Leseverhal-ten. Leser*innen haben begonnen sich auf bestimmte Gen-res zu konzentrieren und/oder viel oberflächlicher zu lesen. Ein Buch wurde nun nicht mehr studiert oder mehrfach ge-lesen, was für die intellektuellen Eliten dieser Zeit ein Af-front sondergleichen war. Lange Zeit war eine gut gefüllte Bücherwand mit literarischen Klassikern eine Art Statussym-bol und Wenigen vorbehalten. Diese Zuschreibung, wonach Lesen und Bücher etwas Elitäres sind, ist in Zügen bis heute präsent. Dabei ist gerade dies ein Trugschluss. In kaum einer anderen Zeit war der Zugang zu Büchern so leicht möglich wie heute und es wird auch sehr viel gelesen, nur eben nicht mehr ausschließlich Bücher. Die Menschen lesen also nicht weniger, aber sie greifen  erst in letzter Instanz zum Buch. Nämlich dann, wenn uns die Fülle an digital zugänglichem Material überfordert. Voraus-gesetzt wir gehen davon aus, dass Lesen nicht nur als Freizeit-beschäftigung, sondern als Teil der wissenschaftlichen Arbeit gesehen wird. Wo Benesch hier die Grenze zieht, wird nicht immer ganz deutlich. Ein Aspekt, der für beide Arten nicht außer Acht gelassen werden darf und sicherlich mitentschei-dend für die sich verändernde Lese- und Buchkultur ist, ist jener der Zeit. Sowohl das Schreiben von Büchern, als auch deren „Studium“ erfordert Zeit – je nachdem sogar sehr viel Zeit, die viele in unserer hektischen Welt nicht haben oder nicht aufbringen wollen. Es ist (manchmal auch nur schein-bar) zeitsparender mittels Suchmaschinen nach Unterlagen oder Büchern zu suchen und wer war nicht schon froh darü-ber, dass sich PDF-Dateien leicht und schnell nach Stichworten durchsuchen lassen? Wir befinden uns in einem steten Wandel, die Augen da- vor zu verschließen, hält diesen nicht auf und macht ihn auch nicht ungeschehen. Das Lesen ist nicht verloren gegangen und es wird nicht verloren gehen – es wird sich nur weiter verän-dern, anpassen und neue Erfahrungen mit sich bringen. Be-nesch führt in seinem Essay das Beispiel einer Kolumnistin an, die Marcel Prousts Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit auf ihrem Smartphone las. Ihre Leseerfahrung war dabei eine ganz besondere, weil es eine noch stärkere Entschleunigung mit sich brachte, als es beim traditionellen Lesen ohnehin der Fall ist.  ZUKUNFT | 7 


 8 | ZUKUNFT  ES WAR EINMAL DAS LESEN …?  VON BIANCA BURGER VI.  Wie bereits angesprochen, hat ein neues Leseverhalten  auch Auswirkungen auf Berufsstände und Wissenschaften. Als Beispiel können die Geisteswissenschaften und hier vor al-lem die Geschichtswissenschaft herangezogen werden. In ih-ren Reihen wird vorwiegend für das klassische, universitäre, kritische Lesen plädiert, liegen doch viele der Forschungsge-genstände oftmals nur in Buchform oder als Zeitschriftenauf-sätze vor und lassen sich folglich nur lesend erschließen. Im Bezug darauf wirft Benesch jedoch die Frage auf, was passie-ren würde, wenn sich die Geisteswissenschaften weniger über die Lektüre der Texte und viel mehr über einen öffentlichen Ideenaustausch definieren würden. Eine, wie ich finde, ab-solut berechtigte Frage. Hat die Geschichtswissenschaft nicht ein ähnlich verstaubtes Image wie das Lesen?! Um diesem Umstand beizukommen, gilt es, sich zu öffnen, an die Öf-fentlichkeit zu treten und Forschung bzw. ihre Ergebnisse für alle zugänglich zu machen. Dies beginnt nicht zuletzt bei der Sprache. Texte, die überhäuft sind mit Termini, die es erfor-dern, selbst studiert zu haben, werden wieder nur einer klei-nen Gruppe offen stehen. Einen ersten Schritt in Richtung Öffnung hin zur Allgemeinheit unternimmt das neue Feld der „public humanities“. In ihren Reihen gibt es eine Konzen-tration auf die Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Es erfolgt eine kritische Bestandsaufnahme der eigenen Forschung und es wird versucht, die Zirkulation des Wissens innerhalb der Universitäten, aber auch der Gesell-schaft, zu intensivieren. Die „public humanities“ sind ein groß angelegtes, fächerübergreifendes Outreach Programm, in dem sich Studierende und Universitätslehrer*innen mit nicht-aka-demischen Expert*innen zusammenschließen, um damit den Dialog mit der Öffentlichkeit zu gewährleisten. Dieses neue Programm ist derzeit (leider) erst im anglo-amerikanischen Raum vertreten, aber die Geschichtswissenschaft in unseren Breitengraden sollte etwas Vergleichbares ebenso wagen – hi-naus aus den elitären Hörsälen, hin zu den Menschen, ganz  nach dem Motto und frei nach August Bebel: Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten. Wie also kann die Digitalisierung die Geisteswissenschaf- ten im Allgemeinen und die Geschichtswissenschaft im Spe-ziellen bei diesem Schritt bzw. in der Lehre ganz allgemein unterstützen? Die Augen zu verschließen und darauf zu hof-fen, dass es einen Retrotrend gibt, ist sicherlich der falsche Weg. Es geht nicht darum einzelne historische Ereignisse mit Likes oder Dislikes bzw. Emojis zu kennzeichnen oder zu be-werten. Aber wäre es nicht von Vorteil, wenn die geleiste-te (wissenschaftliche) Arbeit nicht nur für einen kleinen Kreis greifbar wäre, sondern über die Grenzen hinaus? Und wie fruchtbar eine verstärkte, internationale Zusammenarbeit sein kann, muss hier nicht extra betont werden. Die Digitalisie-rung würde die Chance bieten, diese Art der Kooperation zu verstärken, jedoch wird sie noch viel zu selten genutzt – um es wohlwollend auszudrücken.  Um eine möglichst große Bandbreite an Leser*innen,  Schüler*innen, Student*innen zu erreichen und den Aus-tausch untereinander zu intensivieren, darf der digitale Wan-del und die damit einhergehenden Veränderungen nicht als etwas Negatives oder Bedrohliches abgetan werden. Sehen wir es doch viel mehr als Chance – als Chance zur besseren, internationaleren Zusammenarbeit, als Chance mehr Men-schen zu erreichen, als Chance neue Denk- und Lernmuster zu entwickeln. Die sich ergebenden Möglichkeiten müssen genutzt werden, um die Wissensvermittlung auf neue, moder-ne Füße zu stellen. Bücher und alles was damit verbunden ist, sind nicht mehr die einzigen Bestandteile der kognitiven Ver-ständigung innerhalb einer Gesellschaft und dies gilt es zu ver-stehen und umzusetzen. VII.  Als Beispiel dafür, wie die zunehmende Digitalisierung in  der Lehre genutzt werden kann, aber auch wie viel Aufhol-bedarf es gibt, hat sich in der Corona-Krise gezeigt. Plötz-lich musste der Präsenzunterricht dem sogenannten „Dis-tance-Learning“ weichen. Ohne Zweifel eine Form, die noch weiter durchdacht werden muss, da auch viele Schüler*innen nicht erreicht werden konnten und sich wieder einmal die Spaltung in der Gesellschaft gezeigt hat – auf der einen Sei-te Eltern, die es ihren Kindern ermöglichen können, mit dem eigenen Notebook zu lernen und auf der anderen Seite jene,  MARCEL PROUST AUF DER SUCHE NACH DER   VERLORENEN ZEIT Berlin: Suhrkamp 5200 Seiten | € 49,95 ISBN: 978-3518468302 Erscheinungstermin: September 2017


 ZUKUNFT | 9  für die es nicht leistbar ist. Von Raumnöten und Zugang zum Internet einmal abgesehen. Nichtsdestotrotz hat man hier gesehen, welches Potenzi- al in der Digitalisierung hinsichtlich des Unterrichts bereits für Schüler*innen aber auch Student*innen steckt, obwohl an der Universität der Einsatz digitaler Lehre zumindest an-satzweise bereits vorher etabliert wurde. Distance-Learning al-leine wird (noch) nicht die Zukunft sein. Es wird eine Kom-bination beider Unterrichtsformen geben müssen und dabei sollte nicht nur der digitale Unterricht, sondern vor allem auch die Präsenzlehre dringend verbessert und an die heuti-ge Zeit angepasst werden. Es muss und soll (noch) gar nicht ohne das gedruckte Buch unterrichtet werden, aber ande-re Formen haben ebenso ihre Daseinsberechtigung und je mehr sich die Lehre in die Lebensrealität der Schüler*innen und Student*innen einfügt, umso nachhaltiger wird der Un-terricht sein. Warum nicht auch einmal ein YouTube-Video im Klassenzimmer zeigen, können manche YouTuber*innen komplizierte Sachverhalte doch besser erklären, als die eine oder andere Lehrperson … Schauen wir genauer hin bietet es sich doch geradezu an,  moderne und klassische Lehrmethoden sowie Medien zu ver-binden. Warum soll das kritische Lesen beispielsweise nicht auch in Form von Beiträgen im Internet und nicht ausschließ-lich am Buch geübt werden? Der Mehrwert ist offensichtlich: neben einer elementaren Fähigkeit, wie dem kritischen Lesen, wird gleichzeitig der Umgang mit digitalen Medien und In-formationen aus dem Netz gelernt. VIII.  Wie sich zeigt, hat jedes Medium seine ganz eigenen Vor- züge und damit Daseinsberechtigung. Das eine soll nicht dem anderen weichen, sondern ergänzen. So, wie es bereits bei Bild und Text bzw. Bild und Buch der Fall war. Blicken wir auf die heutigen Medien, sehen wir, dass auch hier Bücher, Texte, Lesen oder das Schreiben Eingang finden. So gibt es zum Beispiel Filme und Serien, die sich rein um das Schreiben (bspw. die Kultserie Sex and the City oder die von Netflix pro-duzierte Serie Valeria) und Bücher (bspw. Tintenherz oder Die Bücherdiebin – gerade diese beiden Filme zeigen, welche Macht Bücher haben können und dass sie uns die Flucht in andere Welten ermöglichen) drehen, oder in denen das Lesen (zum Beispiel Der Club der toten Dichter und Der Vorleser) an sich eine  große Rolle spielt. Dass einige dieser hier genannten Serien und Filme, Romanverfilmungen sind, unterstützt die Tatsa-che, dass jedes Medium seine Vor- und Nachteile hat. Denn, wenn man ganz ehrlich ist: die meisten Verfilmungen erfül-len die Erwartungen der Leser*innen nicht – weil die Medi-en Buch und Film eben anders funktionieren, sie können sich jedoch sehr gut ergänzen. Abgesehen davon, zeigt die Film-branche, wie man auf die zunehmende Digitalisierung reagie-ren kann – mittels Streaming erreicht sie ein noch größeres Publikum, als dies rein durch das Kino oder das TV möglich wäre. Dadurch ergibt sich beispielsweise die Möglichkeit in Österreich Serien und Filme aus Ländern wie Israel, Spani-en, Portugal etc. zu sehen, die es auf „normalem“ Weg wahr-scheinlich nie ins Fernsehprogramm oder in die großen Kinos geschafft hätten. IX.  Von der lesenden Madonna, hin zu Filmen, in denen Bü- cher, das Schreiben oder Lesen an sich Hauptbestandteil sind – eigentlich hat sich in der bildlichen Repräsentation dieser Kulturtechnik wenig verändert, rein das Medium in dem dies geschieht und an das die Darstellung angepasst wird. Lesen ist und bleibt elementarer Bestandteil unseres Alltags, genau-so wie das Schreiben. Unbestritten ist jedoch, dass der Stellenwert des Buches  abgenommen hat. Wollen wir wieder mehr Menschen zum Bücherlesen – nicht nur in gedruckter, sondern auch in digi-taler Form – bewegen, müssen Literatur, Kultur und alles was damit im Zusammenhang steht, von ihrem exklusiven, elitä-ren Charakter befreit werden. Es muss und soll Allgemeingut sein, so wie es andere Medien eben auch sind. Klassisches in die Gegenwart zu überführen, anzupassen und zu ergänzen, die jeweiligen Alleinstellungsmerkmale zu unterstreichen so-wie hervorzuheben, das sollte unser Bestreben sein. Wie auch Lehmann/Hempel im vorliegenden Heft betonen, sollten wir Zusammenhänge in der Welt, mit den sich uns bietenden Mitteln sichtbar machen. Wir müssen die Chance(n) nutzen, die uns die Digitalisie- rung bietet, um den Anschluss an die Lebensrealität nicht zu verlieren. Oder, um noch einmal auf den Text von Lehmann/Hempel zu verweisen: Uns steht mit der Quantenmechanik eine neue Revolution bevor, während wir noch mit schlech-ter Internetverbindung kämpfen.


 10 | ZUKUNFT  Steht die Lese- und Buchkultur nun vor dem Untergang?  Ich würde dies verneinen, sondern davon sprechen, dass das Lesen ein PR-Problem hat, das es zu lösen gilt; es muss von den althergebrachten Institutionen und Denkmustern ent-koppelt werden, damit es irgendwann nicht doch heißt: Es war einmal das Lesen … BIANCA BURGER  ist Redaktionsassistentin der ZUKUNFT und hat sich nach ihrem   geisteswissenschaftlichen Studium der Frauen- und Geschlechter- geschichte sowie der historisch-kulturwissenschaftlichen Europa- forschung in den Bereichen der Sexualaufklärung und   der Museologie engagiert. Literatur  Benesch, Klaus (2020): Mythos Lesen. Buchkultur, Geisteswissenschaften  im Informationszeitalter, Bielefeld: Transcript.  Sollors, Werner (2020): Schrift in Bildender Kunst. Von ägyptischen  Schreibern zu lesenden Madonnen, Bielefeld: Transcript.  ES WAR EINMAL DAS LESEN …?  VON BIANCA BURGER


 ZUKUNFT | 11  ELISABETH ÖGGL Yeastogramm Detailaufnahme 1 © Elisabeth Öggl 2019, www.elisabethoeggl.org


 12 | ZUKUNFT  Reishi Detailaufnahme 1© Elisabeth Öggl 2019, www.elisabethoeggl.org


 ZUKUNFT | 13  ELISABETH ÖGGL Yeastogramm Detailaufnahme 2 © Elisabeth Öggl 2019, www.elisabethoeggl.org


 14 | ZUKUNFT  THE GREAT AWAKENING – ODER: AUFWACHEN, SPÄTER.  VON LENA WIESENFARTH The Great Awakening –  oder: Aufwachen, später. LENA WIESENFARTHS  Essay ist der erneuten Auseinandersetzung mit Ottessa Moshfeghs Roman  Mein Jahr der Ruhe  und Entspannung (2018) gewidmet, um die Wirksamkeit der literarischen Motive von Schlafen und Erwachen in Zeiten des Neoliberalismus herauszuarbeiten. In ihrer Analyse berücksichtigt sie gleichermaßen literaturgeschichtliche Entwicklungs-linien wie auch die politischen Implikationen und Konsequenzen einer schlaflosen, geradezu betäubten Gesellschaft im Nonstop-Modus.  I.  EIN SELTSAMER DORNRÖSCHENSCHLAF  Schon Aristoteles war der Meinung, der Schlaf sei gewis- sermaßen eine Unbeweglichkeit und Fessel der Empfindung, das Erwachen hingegen die Lösung und Befreiung. Auch Jo-nathan Crary, Kunstkritiker und Essayist, schreibt dem Erwa-chen die Erfahrung eines erlösenden Moments zu. Begeben wir uns beim Einschlafen in eine Welt jenseits unserer Sin-ne – denn im Schlaf sehen und hören wir nichts – verbinden wir uns im Erwachen gerade mit jenen Sinnen, die uns nicht nur Menschliches bescheren, sondern auch die Umwelt über-haupt erst wahrnehmen, erfahren lassen. Schlaf, so scheint es, bildet mehr den passiven Teil unseres Lebens, der Wachzu-stand hingegen die Möglichkeit, aktiv zu werden. Das Motiv des Auf- oder Erwachens ist dabei nicht neu.  Insbesondere die Bibel offenbart zahlreiche Beispiele, in wel-chen für tot erklärte Menschen wieder zum Leben erwachen – wie aus einem tiefen Schlaf. Auch in Märchen hat der Schlaf eine außergewöhnliche Position. Schneewittchen liegt nur scheintot im Sarg. Denn in Wahrheit schläft sie nur. Dorn-röschen verfällt sogar mitsamt dem Schloss in einen hundert-jährigen Schlaf. Alle erwachen aber wieder – in eine Welt, die kaum schöner sein könnte. Zurück ins Leben gefunden, verwandeln sich insbesondere die Märchen-Figuren, wachge-küsst, in Prinzen und Prinzessinnen, in Könige und Königin-nen, und leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Der Schlaf mitsamt seinen Motiven wie der Nacht, dem Mond, dem Traum, wird gerade als Narrativ gerne romantisiert. Dass die-ses naiv-idyllische Bild vom dystopischen Gehalt längst ein-geholt wurde, macht Shakespeare wiederum in seinem Werk Romeo und Julia beispielhaft deutlich, in welchem der Schlaf  Julias zum Verhängnis aller wird: als sie erwacht, ist Romeo tot. Der Schlaf kommt insbesondere in der Literatur sehr am-bivalent zum Einsatz. Gilt er in der einen Erzählung noch als Heilsbringer und Retter, kann er in der nächsten schon das pure Unglück über Nacht heraufbeschwören. Eines je-doch scheinen die beiden konträren Schlafbilder gemeinsam zu haben: sie alle besitzen die Fähigkeit, die Umwelt aktiv zu verändern. Ganz im Gegensatz zu unserem Alltag. Fernab von meta- phorischen Bildern, schreiben vielmehr Redewendungen wie „man solle doch nicht sein Leben verschlafen“ oder „doch endlich aufwachen“ dem Schlaf pure Passivität zu. Seine aus-bleibende Handlungsfähigkeit hat den Schlaf mehr und mehr aus unserem hektischen und durchgetakteten Alltag verdrängt. Und vielmehr zu einem Zustand formiert, in welchem wir uns, losgelöst von unserem Wachzustand, nur noch erholen können. Was bleibt, ist das Bedürfnis, das Begehren nach je-nem Ort der Ruhe und Entspannung.    OTTESSA MOSHFEGH MEIN JAHR DER RUHE UND   ENTSPANNUNG München: Liebeskind 320 Seiten | € 22,00 ISBN: 978-3954380923 Erscheinungstermin: September 2018


 ZUKUNFT | 15  Werfen wir einen Blick in die Gegenwartsliteratur, so bli- cken wir auf Ottessa Moshfeghs Roman Mein Jahr der Ruhe und Entspannung, worin die junge Protagonistin in einer Welt schläft, die sich einer permanenten Wachheit, einem Non-stop längst unterworfen hat. Der Roman schafft dabei einen zeitgenössischen Zugang, indem er poetisch nicht nur ext-rem aufgeladen, ironisiert und verdreht wird, sondern ein altes Narrativ, den Schlaf, heranzieht, es modernisiert und extre-misiert. So schläft die Protagonistin nicht in idyllischer Um-gebung gelegentlich ein, wie wir es aus vielen Märchen oder Kinderliedern kennen; auch verweigert sie sich nicht spora-disch zu gegebenem Anlass – diese Protagonistin fordert mit einem ungeheuren, provokanten Schlaf-Projekt heraus, in ei-ner Zeit um die Jahrtausendwende, die den Schlaf einerseits als störenden Zeitfresser eliminiert, zugleich jenen notwen-digen Rest in seiner Unverwertbarkeit bricht: ein Jahr schla-fen. Sonst nichts. Im Roman wird damit eine Sehnsucht nach der Rückkehr in eine Idylle formuliert, die es in einer Non-stop-Welt, wie wir sie inzwischen kennen, gar nicht mehr ge-ben kann. Vier Jahreszeiten durchschläft die namenlose Hauptfigur in  einem Luxusapartment in New York City, mit dem Ziel und der Hoffnung eines Neustarts. Sie leidet dabei an einer Wirk-lichkeit, die von Leere und Nichtigkeiten durchzogen ist, in die sie aber unweigerlich und permanent zurückfällt. Die ei-gene Ruhigstellung in Form des Winterschlaf-Projekts, die pure desillusionierte Resignation, bietet sich scheinbar als ein-zige (Er-)Lösung, und mutiert zur Verweigerungs- und Anti-Haltung-Strategie, welche sich an einer sozialökonomischen Wirklichkeit zeichnet, die im Verwertungssog einer kom-merzialisierten Unterhaltungs- und Beschäftigungsästhetik angesichts ihrer Betäubungsmechanismen immer mehr ver-schwindet. Ihr Ziel: Zurücklassen – und von vorne beginnen. Aufwachen – und eine neue Welt vorfinden. Der Schlaf und damit auch der Schlafort fungieren dabei als eine Art Reser-vat, als Refugium. Dem bekannten Dornröschenschlaf gleich, fällt die Protagonistin also in aktiver Passivität in den Schlaf und schläft in ihrem Apartment im Hochhaus wie jene Mär-chenheldin im Turm. Beide warten auf den ersehnten Retter: Dornröschen auf den Helden in Prinzengestalt, die Protago-nistin auf den Schlaf als Heiler seelischer Schäden. Das einem Idyll gleichende Schlafprojekt fungiert bei Ottessa Moshfegh somit als Utopie – und bleibt genau dadurch fiktiv. Der Schlaf zeichnet dabei unweigerlich die Umrisse einer  leisen Vorahnung, eines irgendwann in der Zukunft eintre- tenden und unabdingbaren Moments des Erwachens, des ra-dikalen Umbruchs, das Neuanfänge einfordert. Erwachen ist, so gesehen, eine Form des Plötzlichen, eine Form der Wand-lung, Verwandlung – und damit mehr als eine natürliche, rein körperliche Notwendigkeit. Man erwacht nicht nur physisch, sondern auch mental – und damit zugleich im übertragenen Sinne. Doch dieses Erwachen wird bei Ottessa Moshfegh ne-giert. Die Protagonistin plant zwar das große Erwachen nach einem Jahr der Ruhe und Entspannung, erklärt jenes Erwa-chen jedoch zum Zukunfts-Moment und verschiebt es im-mer wieder neu. Denn „der Schlaf“, so berichtet uns die Pro-tagonistin, „hatte meine schlechte Laune, meine Ungeduld, meine negativen Erinnerungen noch nicht geheilt“. In Anbe-tracht der Tatsache, dass die Wirklichkeit den Schlaf bei Mos-hfegh in der Retrospektive als Utopie entlarvt – „ich glaubte, er würde mir das Leben retten“ – und trotz aller Verweige-rung dennoch vereinnahmt, zeigt sich die Unausweichlich-keit eines tatsächlichen Erwachens. Doch dieses Erwachen ist schwerer als gedacht:  „Aber aus diesem Schlaf wieder aufzuwachen war eine  Qual. Mein Leben zog in der unangenehmsten Art und Wei-se vor meinem inneren Auge an mir vorbei, mein Kopf füllte sich wieder mit den ganzen langweiligen Erinnerungen, mit sämtlichen banalen Details, die mich an den Punkt gebracht hatten, an dem ich jetzt war.“ Dass ein Aufwachen also notwendig ist, dass es irgend- wann zu einem Muss wird, da sich das Schlafprojekt sonst in einer unendlichen Absurdität verlaufen würde, macht sich schon in Ludwig Tiecks Novelle Des Lebens Überfluss bemerk-bar. Während seine Protagonistin Klara sich noch die Frage stellt, was „diese sogenannte Zukunft“, die da immer näher rückt, wohl bringen wird – „denn diese sogenannte Zukunft rückt doch irgendeinmal in unsre Gegenwart hinein“, beruft sich die Hauptfigur bei Ottessa Moshfegh vielmehr auf die Gegenwart und erkennt allein im Sinn des Schlafaktes und dem damit einhergehenden Ausblenden der Realität den ein-zigen Sinn, der wie von selbst alles, nach einem Jahr der Ruhe und Entspannung, zum Guten wenden lässt. II.  THE GREAT AWAKENING Dass das Erwachen auch im historischen Kontext verstan- den werden kann – man denke dabei an das Große Erwachen (The Great Awakening), die protestantische Bewegung ab 1730 innerhalb der britischen Kolonien in Amerika, die eine er-


 16 | ZUKUNFT  THE GREAT AWAKENING – ODER: AUFWACHEN, SPÄTER.  VON LENA WIESENFARTH neute Begeisterung für das Christentum intendierte – und so-gar im politischen Sinne, ist dabei nicht neu. Mit Wahlparolen wie „Deutschland erwache!“ führten bereits die Nationalso-zialisten Propaganda in den frühen 1930er-Jahren. Und ganz aktuell in Corona-Zeiten sprechen Politiker*innen wie der CSU-Parteivorsitzende Markus Söder im Wahldebakel vom so-genannten wake-up-call – einem dringend notwendigen Weck-ruf für die Union und die anstehende Bundestagswahl, die „nicht mit dem Schlafwagen“ zu gewinnen sei. Dieser meta-phorische und zugleich bildliche Ausdruck für ein Gescheh-nis oder einen Vorfall, das aktiv Änderungen, Umbrüche oder Maßnahmen einfordert, zeigt: der wake-up-call  ist eigentlich auch ein call-to-action. Schlafen und Erwachen stellen damit keine Gegensätze, sondern zwei symbiotische Zustände dar.  Auch bei Ottessa Moshfeghs Protagonistin findet am Ende  ihres Schlafprojekts eine Art wake-up-call  statt, der die Zeit-wende eines aufkommenden Terrors nicht nur anleitet, son-dern mit 9/11 ein Gesicht bekommt. Das Erwachen aus dem Winterschlaf wird am Ende des Romans mit dem Einsturz des World Trade Centers plötzlich in den politischen Diskurs er-hoben. Und da ist sie: die schöne, neue Welt, die schon Al-dous Huxley in seinem gleichnamigen Roman dystopisch und zynisch formuliert, und in die die Hauptperson nun, nach-dem sie monatelang nur handlungsunfähig schlief, erwacht. Die Allegorie des Terrors durch das Bild des 9/11 offenbart da-bei nicht nur eine bis dahin verleugnete Gegenwart, sondern zeigt zugleich auch die Illusion in Form einer entsprechenden Selbsttäuschung einer Wirklichkeit, der wir als Gesellschaft selbst zuteil sind und selbst zu verantworten haben. Mit ihrem Schlaf-Projekt und dem sinnbildlichen Augenverschließen, Nicht-Sehen-, Nicht-Hören- und Nicht-Wissen-Wollen von Realitäten, macht die Protagonistin auf etwas aufmerksam, was heute inzwischen überall in der westlichen Welt zu finden ist: Die Gesellschaft hat es mittlerweile geschafft, sich selbst einzuschläfern. Ein künstlicher Dornröschenschlaf. Im Roman fungieren insbesondere Psychopharmaka,  synthetische Drogen, Alkoholsucht oder auch vermeintlich harmlose Zigaretten bis hin zu exzessivem Fernsehkonsum als jene Betäubungsmittel, die Einfluss auf unseren Bewusst-seinszustand und auf unsere Wahrnehmung haben. Die tägli-che Dosis Beruhigung befördert die Protagonistin geradewegs in einen unaufhörlichen sleep mode. Die Wirklichkeit wird geleugnet durch den Entzug jener Realität, die es künstlich wegzuschlafen gilt. Jener schläfrige Zustand bei Ottessa Mos-hfeghs Protagonistin bringt damit die Erschöpfung, die Ent- täuschung und die Melancholie einer postrevolutionären Epo-che zu Tage, die im Nonstop-Modus einerseits keinen Schlaf, keine Ruhe mehr findet, andererseits in genau diesem Non-stop-Modus wie betäubt, wie schlafend verharrt und längst den Blick aufs Wesentliche, auf sich selbst verloren hat. Die Verdrehung einer im übertragenen Sinne gemeinten  Bedeutung zeigt sich bei Ottessa Moshfegh somit im wört-lichen Sinne; Einschlafen und Aufwachen werden im Ro-man durch das sinnbildlich Gesprochene verkörpert. Wird der Schlaf bei Moshfegh zwar durchaus als notwendige Erholung proklamiert, in einer Welt, die nonstop wach scheint, wird er dennoch ebenso stark devalviert, als im Buch eine Welt ge-zeichnet wird, die sich in jenem wachen selbstzerstörerischen Akt so berauscht, dass diese schon wieder ins absolute ironisch verdrehte Gegenteil, nämlich in einen lethargischen, schläfri-gen Bewusstseinszustand kippt, aus dem es wiederum schier kein Aufwachen mehr geben kann. Der Roman spiegelt literarisch jene gesellschaftliche Le- thargie, die sich am Ende extrem zuspitzt und in seiner Uto-pie aggressiv gebrochen wird. So geschieht nicht nur das ein-schneidende, aus dem Nichts geschehende, schreckliche Ereignis um die Jahrtausendwende mitten in einer scheinbar heilen und friedlichen westlichen Gesellschaft, welches da-bei die gesamte Welt erschüttern lässt, sondern wird in Mein Jahr der Ruhe und Entspannung wiederum ad absurdum geführt, als die Protagonistin ihre Freundin Reva auf einer Übertra-gung der Geschehnisse am 11. September 2001 auf dem Bild-schirm eines Fernsehgeräts zu erkennen glaubt. Obwohl wir spätestens hier davon ausgehen, dass die Protagonistin nun final erkennen sollte, dass Weiterschlafen ab diesem Punkt schlichtweg unmöglich ist, wird dieses fürchterliche und re-ale Geschehnis hier einfach umgepolt – es wird zu einem di-gital erlebbaren „Event“, dessen Wirklichkeitsgehalt durch das Fernsehen nur mehr als aufscheinendes Moment einer Rea-lität funktioniert, die vom Fernsehen längst abgelöst wurde. Die unterschätzte Macht des Fernsehens zeigt sich bei Ottes-sa Moshfegh hier in seiner stärksten Dimension: steht zu Be-ginn noch die Betäubung durch das Fernsehen als einer der „Möglichmacher“ ihres Schlafprojektes im Zentrum, wird am Ende durch jenes Fernsehen die Vorstellbarkeit einer „wahren Welt“, und damit auch die Notwendigkeit des Aufwachens beseitigt und als überflüssig proklamiert. Was übrig bleibt, ist die Übertragung einer Realität in eine mediale Wirklichkeit, die in seinem Wahrheitsgehalt verschwindet und zur Fiktion wird. So beobachtet die Protagonistin den Einsturz des World 


 ZUKUNFT | 17  Trade Centers wie einen Film. Das Verweigern der „wahren“ Realität lässt somit jene blinde Lebensweise einer Gesellschaft in einer Sinnlosigkeit erstrahlen, die durch den Sprung von Reva aus dem World Trade Center aufgeschüttelt wird. Das nicht rechtzeitige beziehungsweise zu späte Erwachen zeich-net dabei nicht unbedingt Schrecken, sondern vielmehr einen Verlust, der sich, da real und eben kein Film, jeglichem Rück-wärtsgang verwehrt: „Aber Reva kam bei dem Anschlag ums Leben. Reva gab es nicht mehr.“ So zeigt auch das Ende des deutschen Spielfilms Unter dir  die Stadt (2010) das gerade erwachte Affärenpaar im Bett ei-nes Hotelzimmers, während auf der Straße die Massenpanik losgeht. Auch im Spielfilm Die Träumer (2003) findet sich ein apokalyptischer Versuch, der mit dem Erwachen in Gewalt, Angst und Panik endet und vor den Unruhen von 1968 in Paris steht. Das bildliche Aufwachen verkörpert damit einer-seits die Problematik einer zugrunde gehenden Welt und lässt zugleich die Idee einer Reformation entstehen, die in ihren Keimen jedoch oft erstickt. Insbesondere in den USA ist end-zeitliches Denken stark präsent. Diesen Charakter greift auch Ottessa Moshfegh auf und formiert ihn als Paradigma einer politischen Bewegung. „Ich konnte die Düsenflieger schon über mich hinweg- donnern hören, hörte das Grummeln in der Atmosphäre mei-nes Gehirns, mit dem alles aufreißen und die Zerstörung in Rauch und Tränen verschwinden würde. Ich wusste nicht, wie das neue Ich aussehen würde. Das machte nichts.“ So siedelt sich ihr Roman (oder vielmehr das Schlafpro- jekt) an zwischen einer endlichen Zeit der Verwüstung und Selbstzerstörung, die in ihrer Bedeutung als kapitalistische Konzeption vom Ende der Welt zu einer modellierten Trans-formation findet, am Ende beziehungsweise am Anfang eines Jahrtausends, das in seinem politischen Akt nicht stärker auf-geladen sein könnte; und zugleich einem erhofften Neuan-fang, womit, durch das finale Erwachen der Protagonistin im Frühherbst 2001, auch ganz Amerika zwangsläufig erwachen muss. Aber ist ein tatsächliches Erwachen überhaupt möglich?  III.  „THOSE WHO DON’T WANT TO CHANGE,   LET THEM SLEEP“ (RUMI) Am Ende des Romans wird, mit beinah purer Ironie,  deutlich, dass statt der Protagonistin, deren Freundin Reva – vom bisherigen Drang nach Perfektion „schlafend“ gehalten  – erwacht. Der Untergang, der jener Freundin, „die aus dem achtundsiebzigsten Stockwerk des Nordturms springt“, wort-wörtlich vor Augen steht, weist dabei ein Erwachen in grotes-ker, beinah makabrer Form auf, das nur durch den Sprung in den Tod möglich wird. Und auch erst jetzt, an dieser Stelle im Roman zum ersten Mal, im Anblick ihrer in den Tod sprin-genden Freundin, vermag die Protagonistin Revas Schönheit und deren wahres Ich zu erkennen. Zugleich deutet sie auch durch jenen Sprung eine Klarheit, die sie – von Revas bisher von oberflächlicher Schönheitsbesessenheit und grenzenlosem Optimierungswahn getrübten, und nun, durch den Sprung ins Aus, klaren Blick für die Realität, – Ehrfurcht ergreifen lässt: „nicht weil sie wie Reva aussieht und ich glaube, dass sie es ist, oder fast, und nicht weil Reva und ich befreundet wa-ren oder weil ich sie nie wiedersehen werde. Sondern weil sie schön ist. Da ist sie, eine Frau, die ins Unbekannte taucht, und sie ist hellwach.“ Die Freundin, die alles andere als schlafende Tage ver- brachte im „Jahr der Ruhe und Entspannung“, stirbt. Die Hauptfigur überlebt. Als Dauerschlafende entkommt sie dem harten Schicksal des Terroranschlags. Nun stellt sich hier je-nes Paradoxon, welches das ambivalente Bild des Schlafs als Glücksbringer und zugleich Unglücksbringer widerspiegelt, und das – einerseits durch den Zustand des Schlafens – ihr das Leben rettet, andererseits der Freundin, die nicht recht-zeitig erwachte, das Leben nimmt, und die Protagonistin zu-gleich weiterhin im betäubten Zustand gefangen hält. Denn vollständig erwachen tut sie nicht. Stattdessen finden sich Reste und Spuren eines gescheiterten Schlafs, der in seiner Transformation zum Wachzustand verharrt. Dieses Erwachen gleicht also weiterhin mehr dem Zustand einer Trance, eines Halbschlafs, der zwischen Realität und Traum wechselt. Das permanente Changieren dieser beiden Zustände – des Wach-zustands und des Schlafzustands – mündet irgendwann in ei-ner Verschmelzung. Und so bemerkt die Protagonistin, dass „wenn ich wach war, dann nicht richtig, sondern in einem trüben, wirren Zwischenstadium, nicht ganz Realität, nicht ganz Traum.“  So fällt sie ständig „erschöpft in einen unruhigen Halb- schlaf, nie mehr als einen Zentimeter vom Bewusstsein ent-fernt“. An anderer Stelle heißt es: „Ewigkeiten verstrichen in Halbstundensegmenten. Es kam mir vor, als würde ich diese Serien mehrere Tage am Stück gucken, ohne je einzuschla-fen. Gelegentlich verwechselte ich Schwindel und Übelkeit mit Schläfrigkeit.“


 18 | ZUKUNFT  THE GREAT AWAKENING – ODER: AUFWACHEN, SPÄTER.  VON LENA WIESENFARTH Im großen Schlafprojekt der Protagonistin zeigt sich da- her ein Vorher und Nachher – gleich der historischen Spal-tung nach 9/11, „and the fact that there was one city befo-re and one city after“, wie es die Moderatorin Lena Dunham im Gespräch mit der Autorin formulierte, – nivelliert jene Unterschiede jedoch gerade dadurch, dass der Zustand des betäubten Verharrens nach wie vor existiert. Gegen jegliche Erwartungshaltungen der Leser*innen, dass auch die Prota-gonistin eines Tages vollständig erwachen wird, stellt sich am Ende eine ernüchternde Stagnation ein; das Moment eines vollständigen Entzugs aus der Realität misslingt ebenso, wie das vollständige Erwachen. Und die erwartete Heilung der Hauptakteurin, das erwartete goldene Zeitalter, bleibt aus. IV.  MORGEN WACHE ICH AUF „Wache endlich auf“ lautet jene alte Redewendung, die  uns sinnbildlich zu verstehen gibt, sich der Realität zu stel-len. Und aktiv zu werden. Im Weltdiskurs 9/11 zeigt sich diese Problematik und Notwendigkeit in seiner aufklärerischen Po-sition. In Mein Jahr der Ruhe und Entspannung stellt sich somit das Schlafprojekt als Verschlafen einer zeitgenössischen sozial-ökonomischen Wirklichkeit dar, dessen metaphorischer To-pos des Erwachens nicht mehr nur im Roman, sondern auch im gegenwärtigen Kontext unserer Zeit funktioniert. Als Aus-druck einer Kritik an einer gesamten Gesellschaftsordnung besticht dieser Schlaf im Roman also in seiner Aktualität ge-rade heute in Zeiten von gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umbrüchen und Herausforderungen, wie der Corona-Krise und ihren Verschwörungsanhänger*innen, Rechtspopulismus, dem globalisierten Kapitalismus mit all seinen Problemen, Klimakatastrophen und Atomabkommen. Auch in der Vergegenwärtigung unseres alltäglichen Handelns offenbart sich das Aufwach-Motiv – etwa in Bezug auf unsere immerwährende mediale Präsenz und selbstverständlich gebil-ligte Datenkontrolle, unser Konsumverhalten – von der exzes-siven Smartphone-Nutzung über Lebensmittelverschwendung und Lebensmittelqualität bis hin zu Netflix & Co., die uns mit den besten Filmen, den atemberaubendsten Ausflugszielen, den meistgefragtesten Trends versorgen. Ob der Verwirrung und Überflutung an Möglichkeiten geschuldet, oder einfach der Tatsache, dass wir uns in einem ständigen Produktivitäts- und Konsumrausch befinden: Das entscheidende Kriterium unserer durchkommerzialisierten Alltags- und auch Schlaf-praktik des permanenten „Müssens“, gefolgt von einer im-mer größer werdenden Liste von sozialen Anforderungen, ist  dringend reformbedürftig. Die eigene Verantwortung, die wir doch eigentlich haben könnten, haben wir längst abgegeben. Was wir nicht hören wollen: die Glocken, die schon Bruder Jakob überschlief. Doch wie können wir das ändern?  „Bruder Jakob, Bruder Jakob,Schläfst du noch? Schläfst du noch?Hörst du nicht die Glocken?Hörst du nicht die Glocken?Ding dang dong, ding dang dong.“ Aufwachen, und damit gemeint ist eine Veränderung, ein  Umdenken, ein bewussterer Umgang mit uns selbst, so zeigt sich, die unabdingbar wurde. Die Realität, die in ihrer Bedeu-tung und zukünftigen Auswirkung nicht einfach (weiter) ig-noriert werden kann, fordert ein Bewusstsein und eine Aus-einandersetzung mit dergleichen ein. Doch die Kraft dazu, überhaupt aufwachen zu können, finden wir nicht im Wach-zustand. Aufwachen kann nur, wer nicht permanent wach ist, kann nur, wer schläft. Das Bewusstsein, das uns durch das Aufwachen ermöglicht wird, wird nicht im wachen, son-dern vielmehr im unbewussten Zustand generiert. Und da sind wir wieder: bei unserem ambivalenten Verhältnis zum Schlaf. Denn während die einen nicht nur ihr halbes Leben im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinne verschla-fen, schaffen es die anderen nicht, sich jene Ruhe, jene Erho-lung und jenen Stillstand zu gönnen, der, um überhaupt auf-wachen zu können, so notwendig geworden ist. Dabei ist es der Schlaf, der uns in seinem Zustand des Stillstands zu mehr Stabilität verhilft, und gerade im bewussten Umgang mit dem Unbewussten neue Zugänge, neue Denkweisen und eine Ak-tivität erst ermöglicht. Nur wer ausreichend schläft, kann auf-wachen, erwachen, wieder wach(sam) sein. Mein Vorschlag also wäre: Schlafen wir mehr. Und lernen wir, rechtzeitig auf-zuwachen und dieses Wechselspiel beizubehalten.  LENA WIESENFARTH  ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und forscht zum Verhältnis  Schlaf und Arbeit an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. 


 ZUKUNFT | 19  ELISABETH ÖGGL Reishi Detailaufnahme 2© Elisabeth Öggl 2019, www.elisabethoeggl.org


 20 | ZUKUNFT  „ES IST NATÜRLICH ZIEMLICH GRAUSAM.“ ZU ELFRIEDE JELINEKS HÖRSPIEL  DIE BIENENKÖNIGE (1976)  VON JOHANNA LENHART I. „SINISTER-SUJETS“ Motive und Versatzstücke des Horrors – „Sinister-Su- jets“ (Vansant 1985: 3) wie Elfriede Jelinek sie in einem In-terview bezeichnet – ziehen sich bekanntermaßen durch das Werk der Nobelpreisträgerin: Vampirinnen im Theaterstück Krankheit oder Moderne Frauen (1987), Zombies in ihrem opus magnum, dem Roman Die Kinder der Toten (1995), um nur die zwei Bekanntesten zu nennen. Und auch quer durch die Li-teraturgeschichte sind sie immer wieder zu finden: Geister, Vampir*innen, psychopathische Mörder*innen und sadisti-sche Folterknechte erfreuen sich in der österreichischen (Ge-genwarts-)Literatur großer Popularität und formieren sich zu Gegenbildern des herrschenden Selbstverständnisses der (Mehrheits-)Gesellschaft: als Antagonisten von Rationalität und gutem Geschmack. Monster aller Art fungieren in die-sen Erzählungen als Normverletzungen. Sie laufen gegen das bestehende System, seine Hierarchien und Tabus, Sturm und verbreiten so Schrecken, Angst und Ekel, während sich das etablierte System mit aller Kraft gegen dieses Aufbegehren wehrt. Das Monster – in all seinen Erscheinungsformen – for-dert durch seine bloße Existenz den Status quo heraus und macht so die Grenzen von Moral und Ästhetik in der Gesell-schaft sichtbar. Gerade durch diese Qualität wird es als Mit-tel der Irritation für die zeitgenössische Literatur – auch jen-seits des Trivialen – attraktiv: Denn das wahre Unheil droht nicht vom Monster, sondern von der Gesellschaft, die es her- vorbringt. Als eine Figur des Randes antwortet es auf das, was in der Gesellschaft als „normal“ wahrgenommen wird. Un-heimliches und Übernatürliches werden zu Chiffren für den Schrecken, der sowohl von den undurchschaubaren als auch von den allzu bekannten Systemen der Gesellschaft ausgeht, und sind nicht selten Zeichen für sich im Ungleichgewicht befindende Herrschaftsbeziehungen. Die Gesellschaft ist, wie schon H. C. Artmann in seinem kurzen Text Schatten wachsen nebenan, den er für Peter Handkes Horror-Anthologie Der ge-wöhnliche Schrecken (1969) schrieb, „einer irgendwie sinistren materie unterworfen […] Monstren bewegen sich schwerelos in jedem dufthauch, in jedem lenzwind, in jeder brise, die uns ein schöner april entgegenwirft“ (Artmann 1997: 306). II.  VATER – MUTTER – KIND  „Es ist natürlich ziemlich grausam“ (Vansant 1985: 7), ist  der lakonische Kommentar Elfriede Jelineks zu ihrem Hör-spiel  Die Bienenkönige (1976), und das ist es in der Tat: Be-richtet wird „von den seltsamen Ereignissen in der unfrohen Frauenwelt von Terrana 2“, einer unterirdischen Wissen-schaftskolonie, deren Bewohner*innen die einzigen Überle-benden einer globalen Energiekatastrophe sind. Um das Fort-bestehen der Menschheit zu gewährleisten „vergesellschaften“ die (durchwegs männlichen) Wissenschaftler die überleben-den Frauen. Die noch fruchtbaren werden zu „Gebärma- „Es ist natürlich ziemlich  grausam.“  Zu Elfriede Jelineks Hörspiel  Die Bienenkönige  (1976) Vampir*innen, Zombies, Gespenster – Monster aller Art sind nicht nur unterhaltsame Protagonist*innen von trivialen me-dialen Produkten, sondern weisen stets auch auf ein Unbehagen in der Gesellschaft hin: Hier stimmt etwas nicht. Wie   JOHANNA LENHART  zeigt, bedient sich Nobelpreisträgerin  ELFRIEDE JELINEK  immer wieder Bilder des Horrorgen- res, wie in ihrem frühen und wenig beachteten Hörspiel  Die Bienenkönige (1976), wo das Ineinandergreifen von Horror und  Politik offensichtlich wird.


 ZUKUNFT | 21  schinen“, sogenannten „Mutas“. Die, durch die Katastrophe unfruchtbar gewordenen, zu „Geschlechtswesen […] He-tis, nach dem Vorbild der antiken Hetären“. Mittels künst-licher Befruchtung gebären die Mutas im Zweimonatstakt ausschließlich männliche Nachkommen. Diese Söhne unter-ziehen die Wissenschaftler, die einzig nach der Vermehrung von Wissen zu ihrem eigenen Vorteil streben, einem eugeni-sche Auswahlverfahren. Nur die durchschnittlich Intelligen-ten kommen durch. So soll die absolute Mittelmäßigkeit ihrer Sprösslinge und somit der Machterhalt der „Väter“ im „Bie-nenstaat“, wie sie die Kolonie in Anlehnung an die Arbeits-teilung im Bienenstock nennen, gewährleistet werden: „Zu dieser Zeit schien die Macht der Könige auf ewige Zeiten ge-festigt. Ebenso die Grundlagen ihrer Herrschaft. Ihre geisti-ge Überlegenheit war gleichzeitig ihre Autorität. […] Sie be-saßen die absolute intellektuelle und technologische Macht.“ Dieses ins Satirische übersteigerte Science Fiction-Szenario  bündelt diverse Debatten, die in den 1970er–Jahren im Kon-text der Frauenbewegung geführt wurden, wie die Position der Frau in der Gesellschaft, die Gewaltausübung der herr-schenden patriarchalen Macht oder die repressive Kraft der bürgerlichen Kleinfamilie. Besonders aber die Rolle der Mut-terschaft als scheinbar natürlich weibliche Domäne rückte ins Zentrum der Kritik: die „Frauenfrage muttiert‘, sie wird zur Mutterfrage“ (Kreisky: 37). Dabei wird Mutterschaft in der Frauenbewegung durchaus zweischneidig diskutiert: sowohl als Herrschaftsinstrument der patriarchalen Gesellschaft durch die Reduzierung der Frau auf die Mutterschaft, wie auch als Möglichkeit der weiblichen Machtausübung – ohne Frauen keine Kinder und damit das Ende der (patriarchalen) Gesell-schaft. Verbunden mit Diskussionen rund um Fortschritte im Bereich der künstlichen Befruchtung, Genmanipulation und Abtreibungsgesetze, wurde die menschliche Reproduktion auch in Film und Literatur immer häufiger als Ursprung des Grauens ins Auge gefasst. Texte wie Margaret Atwoods The Handmaid’s Tale (1985) und seine Verfilmungen, sowie Filme wie Roman Polanskis Rosemary’s Baby (1968) oder Alien (1979) von Ridley Scott, schaffen eine Ikonografie des mütterlichen Zwiespalts und problematisieren die menschliche Reproduk-tion und die ihr eingeschriebenen Machtverhältnisse. III.  FLOSKELN DES SCHRECKENS Ursprung des Übels ist in Die Bienenkönige, wie so oft bei  Jelinek, die bürgerliche Familie, die hier zur Horrorvision ei-nes vom „Vernunftwesen“ Wissenschaftler beherrschten, tota- litären Staats ausgebaut wird. Ihre Herrschaft begründen die Bienenkönige pseudomoralisch durch ihre geistige Überle-genheit: „Wir, die wir übergeblieben sind, tragen […] die ge-samte Technologie in unsren Hirnen mit uns herum, es ist deshalb besser, daß, wenn überhaupt jemand überlebt, wir es sind, die überleben.“ (15) Über diesen privilegierten Zugang zu Wissen argumentieren die Väter ihr Recht auf die totale Kontrolle von Frauen und Kindern: die Herrschaft der Väter im wörtlichen Sinn – das absolute Patriarchat. Das – in der Logik des Textes – unterdrückerische Ideal  der Kleinfamilie wird von den Vätern regelrecht beschworen. Ständig wiederholen sie leere Floskeln und Klischees über die „glückliche Familie“, erklären das „Mutterglück“ und „Va-tergefühl“ zum höchsten Gut. Dadurch reiht sich diese Fa-miliengeschichte in eine Reihe von frühen Texten ein, in de-nen Jelinek sich in der Folge ihrer Auseinandersetzung mit Roland Barthes’ Mythen des Alltags (dt. 1964) mit der Funk-tion des Mythos als Herrschaftsinstrument beschäftigt. In ih-rem Essay Die endlose Unschuldigkeit (1970) bezieht sich Jeli-nek unter anderem auf den Mythos von der großen Familie der Menschen, laut dem alle Menschen, ungeachtet der so-zialen und/oder historischen Umstände, auf einen gemein-samen Kern zurückgeführt werden können. Dieser Mythos, laut dem jeder Mensch seinen Platz und seine Aufgabe zum Wohle der Allgemeinheit hat, wird ergänzt durch jenen der Kleinfamilie: „des ,friedlichen zusammenlebens‘ der fami-lie in einem friedlichen ungestörten bürgerlichen universum mit einem beschützenden, strengen aber gerechten‘ vater im vordergrund (nicht einmal im hintergrund!)“ (Jelinek 1980: 63). Im Zusammenwirken dieser Muster sieht Jelinek den Ur-sprung der in der Gesellschaft herrschenden Gewaltverhält-nisse, dem sie in der Figur der Bienenkönige ein Bild gibt. Deren Rede von Verantwortung und Allgemeinheit ist nur noch leeres Zitat und fungiert als Verschleierung der von ih-nen etablierten Unterdrückungsmechanismen. Die Beschwö-rung der Familie und des „größeren Wohls“ wird im Bie-nenstaat, im Sinne Barthes’, zur wiedergängerischen Floskel zum Zweck des Aufrechterhaltens ihrer Herrschaft: „Der My-thos […] ist eine Sprache, die nicht sterben will, er entreißt dem Sinn, von dem er sich nährt, hinterlistig Dauer, er ruft in ihm einen künstlichen Aufschub hervor, in dem er sich be-haglich einrichtet, er macht aus ihm einen sprechenden Kada-ver“ (Barthes 1964: 117). Es sind tote Worthülsen, die die Bie-nenkönige zur Legitimierung ihrer Herrschaft missbrauchen. Die Wissenschaftler schwanken zwischen technokratischem Jargon, pseudo-emotionalen Plattitüden und sentimentalen 


 22 | ZUKUNFT  Klischees, die ihre Brutalität in das grelle Licht ihres unter-irdischen Labors rückt. Die Leere dieser Phrasen wird durch ihre beharrliche Wiederholung überdeutlich und erzeugt ei-nen Satireeffekt, der die Scheinheiligkeit der Überhöhung der Kleinfamilie und der Mutter vorführt und ihre historische Di-mension sichtbar macht. In der steten Wiederholung werden leere Phrasen fragwürdig und ihre Absurdität offensichtlich – ein typisch jelineksches Verfahren. Nicht nur die patriarchalen Machtstrukturen im Bienen- staat werden aber von der Beschwörung der Mythen ver-schleiert, sondern auch der Umstand, dass die Gesellschaft der Bienenkönige von den ökonomischen Regeln einer mög-lichst umfassenden Verwertung von Frauen und Söhnen zum Vorteil der herrschenden Väter bestimmt wird – „[…] der Grundton schon dieser frühen Arbeiten [Jelineks] ist die radi-kale Kritik an den ökonomischen Verhältnissen, die das Zu-sammenleben der Menschen wie der Geschlechter mit ih-rer (Tausch-)Logik imprägnieren; es sind letztlich literarische Umsetzungen der These, dass das Private politisch ist, das Po-litische aber von den Wirtschaftsverhältnissen bestimmt wird“ (Polt-Heinzl 2013: 262). Nicht umsonst ist die emsige Bie-ne und ihr Bienenstaat häufiges Sinnbild für optimierte Ar-beitsprozesse. Besonders der Mythos von der Mutterschaft als scheinbarer ultimativer Erfüllung der Frau, wird von der fa-briksartigen Nutzenoptimierung des weiblichen Körpers im Text ständig konterkariert. Während die Wissenschaftler in verzückter Verklärung von den „schlagende[n] Mutterherzen […], direkt unter lauter glücklichen Mutteraugen“ schwär-men, sind die Mutas sediert, in „Bienenwaben“ eingegossen und bestehen praktisch nur noch aus „Unterleiber[n]“ – mehr Maschine als Mensch. IV.  DAS ENDE DER MENSCHHEIT Das „Geheimnis der Mutterschaft“ ist ein Mythos, der  nicht nur von der Frauenbewegung als Möglichkeit der Machtergreifung begriffen wurde. Die Philosophin Adria-na Cavarero etwa sieht in ihrer Analyse des Demetermythos in der bewussten Entscheidung für oder gegen die Mutter-schaft die Macht eines Wissens, das nicht nur für das Indi-viduum entscheidend ist, sondern auch den Alptraum einer menschenleeren Welt und damit den Untergang der patriar-chalen Ordnung in sich trägt: „Auf diese Weise birgt die für die mütterliche Macht konstitutive Entscheidungsgewalt über das Gebären etwas wahrhaftig Schreckliches in sich […] näm-lich die Möglichkeit des Nichts als ein Nicht-mehr der mensch- lichen Fortpflanzung, die verlassene Erde“ (Cavarero 1992: 103). Durch die Negierung dieser mütterlichen Macht in der patriarchalen Gesellschaft wird die Frau zum reinen Brutkas-ten und die Mutter zur Spielfigur einer Gesellschaftsordnung, die einzig ihr eigenes Fortbestehen im Sinn hat. Mit Cavare-ro ist die Mutter nur noch „[…] Gefäß des Ungeborenen; und daher ist sie auch tendenziell kontrollier- und steuerbar durch jene soziale Ordnung, die sie zu diesem Gefäß gemacht hat, so daß mütterliche Macht am Ende in ihr Gegenteil (den Geb-ärzwang) verkehrt worden ist“ (ebd.: 106). In Die Bienenkönige ist dieser Zusammenhang überspitzt zu  Ende gedacht. Die Väter bemächtigen sich der Frauen, sie mi-nimalisieren, regulieren und biologisieren den Part der Mutter an der menschlichen Reproduktion, um ihre Herrschaft noch tiefer zu verankern. Gleichzeitig jedoch beschwören sie den umso inhaltsleerer gewordenen Mythos der Mutterschaft als Erfüllung des weiblichen Daseins. Die Frau wird so zum rei-nen – und damit monströsen – Körper, „Oben ist Stille, un-ten Betrieb.“, während die Wissenschaftler durch die Techni-sierung von Zeugung und Geburt quasi zu geistigen Gebärern werden. „M[ann] 3: Und hinein in die Brutkästen, welche eine  gelungene Verbindung zwischen Natur und Technik darstel-len. […] M 1: Es ist mutterschonend, aber leistungsintensiv.M 2: Es ist unsre Leistung, vor allem, wenn man bedenkt,  wie wenig unsre medizinische Abteilung für derlei eingerich-tet war.“ Diese feindliche Übernahme des weiblichen Wissens  durch die künstlichen Reproduktionstechnologien der Bie-nenkönige zeigt auch die auf die Spitze getriebene Konse-quenz der Ausgrenzung von Frauen aus dem öffentlichen Dis-kurs zum patriarchalen Machterhalt. Während die Mutas sich ohnehin in einem ständigen künstlichen „Dämmerschlaf“ be-finden, wird den Hetis, den Zwangsprostituierten des Bienen-staats, bewusst jede Information vorenthalten, denn Wissen ist Macht und Macht ist nicht weiblich: „M 3: Was noch gehoben werden muß: Ihre Weiblichkeit!M 2: Daher müssen wir Informationen, die diese Weib- lichkeit nicht betreffen, von ihnen absolut fernhalten. M 3: Ja. Denn die Weiblichkeit, sie geht verloren, wenn  man nicht genügend auf sie achtet.“ „ES IST NATÜRLICH ZIEMLICH GRAUSAM.“ ZU ELFRIEDE JELINEKS HÖRSPIEL  DIE BIENENKÖNIGE (1976)  VON JOHANNA LENHART


 ZUKUNFT | 23  Nicht nur den Frauen wird das Wissen, das die Bienenkö- nige akkumulieren, verweigert, sondern auch die Söhne wer-den – als potenzielle Gefahr für die Herrschaft ihrer Väter – im Dunkeln gelassen, wodurch der Zugang zu Wissen den wesentlichen Unterschied in der sozialen Position markiert: „Sie sollen nur wissen, was sie wissen sollen, sonst nichts.“  V.  MAD SCIENTISTS: WISSENSCHAFT UND PATRIACHAT Um das Monopol auf das machterhaltende Wissen zu be- wahren und es zu vermehren ist Jelineks Bienenkönigen jedes Mittel recht. Sie sind Paradebeispiele für die Figur des Mad Scientists, der im Horror häufig anzutreffen ist. Die Monstro-sität dieser gewissenlosen, sich über moralisch-ethische Gren-zen hinwegsetzenden, verrückten Wissenschaftler, ist, im Gegensatz zu Monstern, Werwölfen und Ähnlichem, nicht in einer körperlich manifestierten Andersartigkeit, sondern in der Skrupellosigkeit ihres Verstandes begründet. In den 1970er–Jahren vor der Kulisse von Kaltem Krieg sowie neu-en Atom- und Gentechnologien erlebt der Mad Scientist eine Konjunktur. Und es ist wohl keine Überraschung, dass sich besonders Frauen als beliebte Versuchsobjekte erweisen, wie etwa im Stummfilmklassiker Metropolis (1927). Aber auch die menschliche Reproduktion wird mithilfe dieses Motivs im-mer wieder problematisiert, wie etwa in den diversen Um-setzungen von Frankenstein: ein Wissenschaftler, der im Labor (monströses) Leben erzeugt. Wie gesagt: Im Bienenstaat ist Wissen die wichtigste Wäh- rung und einzig und allein den Vätern vorbehalten: skrupel-lose Wissenschaftler, „deren Wissen wuchs und wuchs“. In der abgeschlossenen Situation, in der sich die Überlebenden in der unterirdischen Kolonie nach der Katastrophe plötzlich wiederfinden, entsteht eine technokratische Gesellschaft, der eben das von der Debatte der 1970er–Jahre zur gesellschaft-lichen Verantwortung der Wissenschaft geforderte, fehlt: ein „moralischer Kompass“. Und da die Bienenkönige nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Staatsmänner sind, fehlen auch die Kontrollmechanismen, die ihrem Rationalitätsregime Ein-halt gebieten können. Ohne gesellschaftliche Kontrolle der moralischen Standards, fallen ethische Bedenken dem wissen-schaftlichen Forscher*innendrang zum Opfer. Die Herrschaft der Bienenkönige über Frauen und Söhne unterliegt, ohne Rücksicht auf Verluste, den Regeln der Wissensmaximierung. Alleine auf das „größere Wohl“, die große menschliche  Familie, bedacht, beschwören sie zur Rechtfertigung ihrer menschenverachtenden Versuche den Dienst an der „Allge-meinheit“: „Eine Aufgabe als Vater ist es nicht nur, Söhne zu zeugen, eine Aufgabe als Vater ist es auch, diese Söh-ne nutzbringend zu verwerten, ihre Gedanken nutzbrin-gend zu beeinflussen und sie im Tod noch für die Allge-meinheit nutzbar zu machen. Die Allgemeinheit sind wir, die Könige.“ Der Mensch als Kapital für die herrschende Klasse, als billige Arbeiter*innen, Organersatzteillager und Reproduktionsmaschine. Die Motivation hinter dieser Jagd nach der „wissenschaft- lichen Wahrheit“ ist vor allem die Suche nach den Mitteln, um das ewige Bestehen dieser Gesellschaftsordnung zu ge-währleisten. Besonders der „Enzymat“, eine Maschine, die den Vätern „Beinahe-Unsterblichkeit“ verleiht, verstehen die Bienenkönige als Ausdruck ihrer immerwährenden Herr-schaft und überlegenen Fähigkeiten. Diese Apparatur „bedeu-tet die Verewigung von etwas, das mehr als verewigenswert wäre. […] Es bedeutet die Verewigung des einzigen, das zu verewigen sich lohnt: unsrer Körper sowie unsrer Gehirne.“ Die Macht der Bienenkönige endet nicht, solange ihre geisti-ge Überlegenheit gewährleistet ist und da sie die Herrschen-den sind, so der absurde Umkehrschluss, haben sie auch die geistigen Voraussetzungen für die Herrschaft.  „ALLE: Wir sind die Bienenkönige. Wir werden weiterle- ben. […] M 3: Dank unsren Gehirnen. Wer ein König ist, hat auch  die Fähigkeit dazu, einer zu sein. M 2: Wir sind Könige auf Grund unsrer absoluten geisti- gen Überlegenheit.“ VI.  NEUE HORIZONTE Überraschenderweise nimmt die Geschichte – als „Utopie  der Möglichkeit des Sichverbünden der unterdrückten Klas-se“ (Vansant 1985: 4) – ein gutes Ende: Die Hetis, mit dem Wissen um die Geburt einer Tochter konfrontiert, erkennen die Gefahr von „frische[n], junge[n] Geschlechtswesen“ er-setzt zu werden, und zetteln gemeinsam mit den Söhnen eine Rebellion an, töten die Väter und Mütter, und kehren an die Erdoberfläche zurück. Der Aufstand der Hetis richtet sich so nicht nur gegen ihre  Unterdrücker, die Bienenkönige, sondern gegen den ganzen patriarchalen Staatsapparat. Denn die Mutas, aus ihrer Betäu-


 24 | ZUKUNFT  „ES IST NATÜRLICH ZIEMLICH GRAUSAM.“ ZU ELFRIEDE JELINEKS HÖRSPIEL  DIE BIENENKÖNIGE (1976)  VON JOHANNA LENHART bung erwacht, solidarisieren sich angesichts der Geburt der Tochter mit den Bienenkönigen: „Es ist ein großes Glück, das wir in uns spüren, das Mutterglück. […] Bisher hat das Glück in uns geschlummert, wir konnten es nicht ausspre-chen, nun sprechen wir es aus: vielen Dank, Bienenkönige!“ Anstatt sich gegen das Patriarchat aufzulehnen, werden sie – durchaus typisch für Jelinek – zu seinen Komplizinnen und reproduzieren absurderweise selbst das Klischee vom Mutter-glück. So kommt den Mutas die vielbeschworene Frauenso-lidarität nicht zu Hilfe. Die Ausrottung des Patriarchats kann nur gelingen, wenn seine Denkstrukturen – auch in den Köp-fen der Frauen – ausgelöscht werden: „Sie sind Frauen wie wir. / Aber sie denken mit den Köpfen der Könige. Der Kopf muss sterben, wenn man etwas töten will.“ Die Ermordung der Bienenkönige stellt so nicht nur die  Befreiung von einem totalitären Staatsapparat dar, sondern in der Folge auch vom Patriarchat als dessen Strukturprinzip, die Lösung von seinen Argumentationsmustern und seiner Wir-kungsdomäne, der Kleinfamilie. Befreit von ihrem Schicksal sind die Hetis und Söhne ganz auf sich selbst zurückgeworfen. „F[rau] 4: Sie sind tot.S[ohn] 3: Wir haben keine Herren, keine Mütter und kei- ne Väter mehr. F 5: Wir haben immer noch uns selber. [...]F 4: Was sich hier erfüllt, sind keine typischen  Frauenschicksale F5 + F 6: Das Frauenschicksal haben wir hinter uns ge- lassen. Wir haben uns über mehrere Frauenschicksale hinweggesetzt.“ Die Väter sind tot, die Frauen sind frei: Das mögliche  Ende der menschlichen Reproduktion, die menschenlee-re Erde bedeutet den Hetis – wie bei Cavarero – nicht Alp-traum, sondern Machtergreifung. Es ist die Lösung von einer scheinbar fixierten Ordnung der Welt, die, so Jelinek, ent-steht, wenn Macht durch eine Rhetorik der Natürlichkeit der Verhältnisse legitimiert wird. Jelinek formuliert hier nicht nur eine radikale Kritik der bürgerlichen Kleinfamilie und ih-rer Herrschaftsverhältnisse, sondern stellt auch die Frage nach der Möglichkeit, Zusammenleben anders zu denken: An die postapokalyptische Erdoberfläche zurückgekehrt, schlägt den Hetis und den Söhnen nämlich die von der Zivilisation un-beschriebene Leere der Landschaft entgegen – die Spuren der Väter sind getilgt und mit ihnen die Orientierungspunkte ei-ner, wenn auch unterdrückerischen, Gesellschaftsordnung.  Selbst der Horizont scheint instabil und fragwürdig zu sein. Die „bodenlose Landschaft“ vermag, gelöst von der alten Ordnung, keine Orientierung mehr zu geben, sondern muss erst wieder beschrieben werden – „Bleibt nur noch die Frage, ob wir uns dieser Erdoberfläche überhaupt zumuten können. […] Ob diese Oberfläche uns wird ertragen können. […] Ob nicht schon unser Atem zu schwer sein wird.“ Literatur Jelinek, Elfriede (1982): Die Bienenkönige, in: Geyer-Ryan, Helga (Hg.):  Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte? Acht Hör-spiele von Elfriede Jelinek, Ursula Krechel, Friederike Mayröcker, Inge Müller, Erica Pedretti, Ruth Rehmann und Gabriele Wohmann, München: dtv, 7–48.  Realisiert als: Die Bienenkönige. Science-Fic-tion Hörspiel. Sprecher: Rolf Becker, Hans-Peter Bögel, Kirsten Dene [u. a.]; Komposition: Gottfried Hüngsberg; Regie: Hartmut Kirste. Produktion: SDR/RIAS 1976. Artmann, H. C. (1997): Schatten wachsen nebenan, in: H. C. Artmann.  Gesammelte Prosa, Bd. II. Hg. von Klaus Reichert, Salzburg: Resi-denz, 306–311. Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags. Deutsch von Helmut Scheffel,  Frankfurt am Main: Suhrkamp. Cavarero, Adriana (1992): Platon zum Trotz. Weibliche Gestalten der anti- ken Philosophie. Aus dem Italienischen von Gertraude Grassi, Berlin: Rotbuch.  Jelinek, Elfriede (1980): Die endlose Unschuldigkeit. Prosa – Hörspiel –  Essay, Schwifting: Schwiftinger Galerie. Kreisky, Eva (o.A.): „Paradise Lost“: Das patriarchale Familienmodell in der  Krise? Wie mit Familie (Geschlechter-)Politik gemacht wurde/wird. Wie frauenorientierte Familienpolitik zu konzeptualisieren wäre, on-line unter: https://www.yumpu.com/de/document/read/5900212/paradise-lost-das-patriarchale-familienmodell-in-kreisky-eva (letzter Zugriff: 16.08.2021) Polt-Heinzl, Evelyne (2013): Ökonomie, in: Janke, Pia/Schenkermayr,  Christian/Zenker, Agnes (Hg.): Jelinek-Handbuch, Stuttgart [u. a.]: Metzler, 262–266. Vansant, Jacqueline (1985): Gespräch mit Elfriede Jelinek, in: Deutsche Bü- cher XV/1, 1–9. JOHANNA LENHART  ist Literaturwissenschaftlerin und Redakteurin der Fachzeitschrift   MEDIENIMPULSE. Sie hat zahlreiche Publikationen zur österreichischen   Gegenwartsliteratur vorgelegt.


 ZUKUNFT | 25  ELISABETH ÖGGL Yeastogramm Detailaufnahme 3© Elisabeth Öggl 2019, www.elisabethoeggl.org


 26 | ZUKUNFT  I. Am 12.03.2021 um 08.43 Uhr schrieb Claudia Lehmann Lieber K., deine Worte haben mich ziemlich beschäftigt,  so dass ich gestern Nacht mehrere Stunden darüber wachte und versuchte, das Problem in seiner Gänze zu erfassen. Ich schrieb also – wie wir es in Anlehnung an Marc Lombardi gerne machen – die verschiedenen Begriffe auf ein Blatt Pa-pier und stellte Verbindungen zwischen ihnen her. Ich muss-te schließlich an allen Ecken und Enden Papierschnipsel an-kleben, weil mein System so komplex wurde, dass ich schnell wieder den Überblick verlor. Ich ging dann dazu über, alle Begriffe auszuschneiden und sie zueinander in Beziehung zu setzen. Dafür musste ich mehrere Schnipsel duplizieren. Ich setzte Farben ein. Grün, blau, gelb, schwarz, weiß, lee-res Blatt. Schnipsel über Schnipsel, die ich dann versuchte zu sortieren, zu stapeln, zuzuordnen, wieder zu stapeln, umzule-gen. Irgendwann wusste ich gar nicht mehr, was das Ziel die-ser Bastelangelegenheit war. Ich starrte gefühlt Stunden auf das Chaos um mich herum, bis ein Blaulicht auf der Straße meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Was war da los? Ich sah aus dem Fenster. Auf der Straße ein Feuerwehrauto, ein paar Schaulustige. Mein Blick wanderte an der gegenüberliegen-den Hauswand nach oben. Auf Augenhöhe entdeckte ich ei-nen Schatten in einem hell erleuchteten Fenster. Die Silhou-ette einer Frau. Sie hatte langes Haar, wie ich. Sie stand auf dem Sims. Sie zitterte. Ich kniff die Augen zusammen, um die Situation genauer zu erfassen. Die Leute auf der Straße blick-ten nach oben und riefen ihr etwas zu. Sie sollte springen? Ich wollte wissen, ob da unten ein Sprungtuch für sie bereit war.  Ich öffnete das Fenster und suchte die Straße ab. Mir wur-de schwindelig. Es überkam mich eine Art Höhenangst. Auf einmal blickten alle zu mir. Auch du warst unter den Leuten und riefst etwas zu mir herauf. Ich sollte springen?!? Ja. Es wä-ren schon alle in Sicherheit, nur ich nicht. Ich erkannte in der Menge alle Menschen, die mir lieb waren. Sie riefen mir jetzt zu, ich solle endlich springen. Ja, ich wollte doch springen, aber ich sah dieses verdammte Sprungtuch nicht. Wohin sollte ich springen? Die Rufe wurden lauter! Ich müsse jetzt etwas tun. Ich hätte Verantwortung! Ob ich nicht bemerkt hätte, dass es brennt. Ich wagte nicht, mich umzudrehen. Ich spürte bereits die Hitze aus der Tiefe meiner Wohnung. Ich schiel-te nach links unten und erspähte ein paar Papierschnipsel, die bereits lichterloh brannten. Es machte sich in mir ein Ge-fühl der Erleichterung breit, was ich mir nur dadurch erklären konnte, dass sich offenbar alles in diesem Moment auf Null zu setzen schien. Trotzdem, es blieb keine Zeit. Keine Zeit, zu überlegen, keine Zeit, darüber nachzudenken, was ich zu-rücklassen müsse, keine Zeit für Sentimentalitäten. Tatsäch-lich stand alles, was mir wirklich etwas bedeutete, bereits auf der Straße. Fast alles. Ich hatte nichts zu verlieren, ich muss-te springen. Irgendwer würde mich schon auffangen. Auch ohne Sprungtuch. Ich schloss die Augen und sprang! Dann passierte etwas Seltsames. Die Schwerkraft setz- te aus. Ich fiel nicht nach unten. Stattdessen wurde ich in den Himmel gezogen. Ich entfernte mich immer rascher vom Erdboden. Alles wurde kleiner und kleiner – die Men-schen, die Straße. Plötzlich sah ich auch die Leute am Ende der Straße, dann die in der Nachbarstraße, die Häuser zwi- MAL EINFACH WEINEN BEI EINER BUNDESTAGSDEBATTE  VON CLAUDIA LEHMANN & KONRAD HEMPEL Mal einfach weinen bei  einer Bundestagsdebatte Für ihre Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Limits künstlerischen Arbeitens in einer an Zumutungen nicht ar-men Gegenwart haben sich  CLAUDIA LEHMANN  und  KONRAD HEMPEL  für die Form des literarischen Briefwechsels  entschieden. Alle Freiheiten und Konzessionen dieses dynamischen Lektüre- und Schreibangebots nutzend, thematisieren sie in lockerer, doch keineswegs unernster Weise u. a. die Herausforderungen der Pandemie, die Fallstricke und Auswirkun-gen gewinnorientierter Systeme oder die Rückkehr der kritisch einzuschätzenden Kategorie des Erfolgs in Zeiten ästhetik-feindlicher Identitätspolitik.


 ZUKUNFT | 27  schen den Straßen. Je höher ich stieg, umso klarer sah ich all diese Leben, die nebeneinander existierten. Ich sah Bäume, Wälder, Tiere, Drähte, Schornsteine, Fabriken, Häuser, Tie-re, Flüsse und Meere. Ich sah dieses große komplexe System, welches sich wiederum aus verschiedenen komplexen Syste-men zusammensetzte. Ich konnte alles erfassen, ich konnte vom Mikro- zum Makrokosmos und zurück, von den Ato-men zu den Molekülen, von den biologischen bis hin zu den gesellschaftlichen Systemen wandern. Ich fühlte die Emer-genz und verstand auf einmal die Phänomene unserer Zeit, und alles was mir klar wurde, schrie ich begeistert aus mir heraus. Es war eine Kundgebung. Aber mit jedem Wort, das aus mir herauskam, schien die Verunsicherung unter mir zu wachsen. Es gab Getuschel. Meine Zuhörer*innen – eben auch du – schienen mich nicht zu verstehen. Ich musste zu-rück. Aber ich konnte nicht. Ich versuchte, mich gegen die-sen Sog zu wehren. Jetzt, wo ich endlich verstand, wie alles mit allem zusammenhing, sollte ich es nicht mitteilen kön-nen? Jetzt, wo ich wusste, wie eine bessere Welt aussehen könnte, flog ich unaufhaltsam von ihr fort. Ein Albtraum. Mit besten Grüßen von meinem immer noch mit Zetteln  übersäten Schreibtisch Koko II. Am 13.03.2021 um 17.13 Uhr schrieb Konrad Hempel Und dann wieder diese Welt von oben. Kleine Dörfer, größere  Städte. Wie Bauteile auf einer Leiterplatte sitzen die Häuser auf der Erde. Widerstände und Transistoren gegen die Naturgewalt. Merk-würdig wie Fremdkörper wirken sie. Oder sind unsere Behausungen und Straßen das Pilzgeflecht und wir die Mikroben, die das Ge-flecht am Laufen halten? Alles, wovor man sich fürchtet, das Frem-de eben, wie in einem Science-Fiction-Film, Aliens, die ihre Netze mit fremden Technologien über uns spannen und alles assimilieren, sieht man abends aus der Luft aus dem Flugzeug, wenn man auf die Erde schaut. Nur diese Netze, die bei Dunkelheit leuchten, die gan-zen Lichter, die die Natur umschlingen und assimilieren, sind von uns gemacht. Liebe Koko, das notierte ich im November 2017 im Flug- zeug nach Oslo. Die Welt schien noch eine andere und doch spürte ich die Angst vor uns selbst? War es das Fremde in uns, was ich dort sah, weil wir die weltumspannenden Systeme ja alle selbst erschaffen? Von außen besehen, wirkt unser kom- plexes System ganz intakt. Es wird viel debattiert und immer neue Themen tauchen auf, die verhandelt werden müssen. Diversität, Gleichberechtigung, Rassismus, Klimawandel. Die großen Aufreger der öffentlichen Debatten ändern sich ständig, aber eigentlich ist es doch so: Wir können uns sehr lange mit der Gleichberechtigung der Frau aufhalten und an einer Veränderung des Bewusstseins arbeiten, aber wenn alle – zumindest öffentlich – der Meinung sind, dass wir das brau-chen, dann ist viel Zeit ins Land gegangen und immer noch so wenig wirklich passiert. Ganz davon abgesehen, dass hier nur die Gleichberechtigung in den Ländern der sogenannten ‚Ersten Welt‘ gemeint ist. Wie soll man denn Änderungen in großem Maßstab vorantreiben? Wie soll man diesem Cluster an Problemen, die unsere ganze Existenz bedrohen, begeg-nen? Move your ass and your mind will follow – hat der real existierende Sozialismus versucht, aber das Bewusstsein woll-te nicht so recht folgen. Kleinbürgerlich blieb es. Ein Auto wollte man doch besitzen. Passend zur Individualgesellschaft versuchen wir jetzt erst einmal unser Bewusstsein zu ändern. Jeder muss bei sich anfangen. Aber nun will das Fleisch nicht so recht folgen. Es ist schon schwer, schlechte Gewohnhei-ten abzulegen. Leider müssen wir nicht einfach nur mit dem Rauchen aufhören. Das wäre schon hart, aber wir müssen unsere ganze Art des Zusammenlebens und nicht nur des Zu-sammenlebens unter uns Menschen, sondern das mit allen anderen Spezies unseres Planeten verändern, unsere Produk-tionsweise, unseren Konsum, unsere Idee von Wohnen, un-sere Fortbewegung und unsere Idee des Miteinander-Teilens. Wie soll das gehen, wenn jeder nur bei sich anfängt? Wir ha-ben das Problem an uns selbst outgesourct! Das hat sich ja schon bewährt. Im Bankwesen und der Verwaltung sind wir bereits wahnsinnig engagiert. Das haben wir freiwillig online übernommen und schaffen das jetzt ganz alleine. Wir sind so beschäftigt und befreit, dass wir keine Zeit haben wer-den, die Welt zu retten, da wir den Profit vergrößern müssen.  RUINIERT EUCH! LITERATUR,  THEATER, ENGAGEMENT Wien: starfruit 384 Seiten | € 29,00 ISBN: 978-3922895466 Erscheinungstermin: August 2021


 28 | ZUKUNFT  MAL EINFACH WEINEN BEI EINER BUNDESTAGSDEBATTE  VON CLAUDIA LEHMANN & KONRAD HEMPEL Wahrscheinlich nicht unseren, aber wir bekommen ja auch etwas dafür! Einen Gutschein über zehn Euro, den wir einlö-sen können, wenn wir für 100 Euro einkaufen. Ist es nicht die Gesellschaft, welche die Gemeinschaft,  also sich selbst, abgeschafft hat und in der Krise nun auch noch Ihre Künstler*innen (oder wie schreibt man das jetzt richtig)? Oder müssen wir eben auch noch alles andere in seiner jetzigen Form abschaffen, die Politik und die Wirt-schaft, um einen Neuanfang im Miteinander und dann ei-nen neuen Film, ein neues Theater begründen zu können? Wir haben uns voneinander entfernt, es geht doch nicht um den anderen neben dir, sondern darum, wie du ihn loswer-den kannst, hinter dir lassen, damit du vorne stehst. Entwe-der hast du mehr Geld oder mehr Ruhm, hast mehr Likes, Clicks oder Coins. Salut Dir, aus meinem Chaos! K. III. Am 14.03.2021 um 23.06 Uhr schrieb Claudia Lehmann Lieber K., du hast ja leider mit vielem Recht, wenn auch  nicht mit allem! Klar sind wir sehr gut darin, uns Systeme zu schaffen, die selbstreferenziell auf ihre Probleme schauen. Da wissen viele dann auch, was man gerade so braucht, um Geld oder Quote zu generieren. Und wenn man das nicht weiß, dann kommt man in die Jahre, wo es einem wirklich schwer gemacht wird, sich künstlerisch mitzuteilen. Eine Krise macht das auch nicht leichter. Da setzt man in den alt-bewährten Strukturen auf das, was sich bewährt hat. Dann hat es selbst die Nachwuchskünstlerin schwer, ein Projekt zu realisieren. Für die gibt es ja sonst immer eine Förderung. Die Gelder muss man nun für die Rettung anderer ausgeben, im Zweifel für die Automobilindustrie. Die wahren Gewin-ner sind ganz woanders zu finden. Und hinterher fragt man sich, warum einem nicht selbst eingefallen ist, rechtzeitig in den Impfstoff zu investieren und die Aktien zum richtigen Zeitpunkt wieder zu verkaufen …Dann hätten wir unsere Projekte selbst finanzieren können. Ich finde es richtig, dass gerade alles in der Waagscha- le liegt und diese Debatten geführt werden – auch wenn sie nicht immer schnell zum Ziel kommen. Aber wir sind auf ei-nem guten Weg. Ja, es geht um alles und wir müssen endlich miteinander sprechen. Du sagst doch immer, dass man mal  anfangen muss, die Straße zu kehren, und dann beschäftigt man sich eben nur mit dem Teilstück, das man gerade kehrt, anstatt den ganzen unüberschaubaren Berg Dreck, der kein Ende nimmt, zu betrachten und zu kapitulieren. Im Zwei-felsfall müssen wir dafür die Sprache neu erfinden oder eine Sprache finden. Eine, die möglichst viele verstehen, am bes-ten alle, eine universelle Sprache! So wie die Mathematik die Sprache der Physik ist. Das kann auch das Theater, der Film, die Kunst, weil man nicht an Phonetik gebunden ist! Wir brauchen dringend Experimente, Versuche, Labore  und Denkräume! Und natürlich den Austausch darüber, egal ob der im Netz, auf der Straße, in einem Theatersaal, auf ei-nem Festival oder von mir aus in einem stillgelegten Kino stattfindet. In jedem Fall muss er für alle zugänglich sein! BisousKoko IV. Am 15.03.2021 um 11.15 Uhr schrieb Konrad Hempel Liebe Koko, gestern blätterte ich in meinem Notizbuch  und fand so allerlei Ideen, Skizzen, Exposés, von uns ge-meinsam erdachte Fetzen, aber auf einmal schien mir alles obsolet. Wir stecken mitten in der Coronakrise, einer Pande-mie, die alles überdeckt, die aber auch ganz neue Diskussio-nen und ein soziales Zusammenrücken bewirken könnte. Es schien ja am Anfang so zu sein, aber nun sieht man die Wich-tigkeiten, die Kunst wird stillgelegt. Die Theater und Kinos schließen als erste und öffnen wieder als letzte, wenn sie dann nicht gestorben sind. Diese Institutionen als soziale Verhand-lungsorte und Debattenkatalysatoren sind sowieso überholt. Es geht doch auch alles online. Die Streamingdienste und das Fernsehen, ob live oder als Mediathek, haben das Kino über-nommen, und YouTube mit den vielen Influencer*innen, Selbstdarsteller*innen und Multiplikator*innen das Thea-ter. Hier können wir ja das wirkliche Theater des Lebens anschauen. Auf dieser Bühne wird kunstfertig unsere Welt befragt und hier ist alles so wirklich, selbstentlarvend und gleichzeitig überhöht, wie es kein Theater sein könnte. Was folgt aber daraus? Wo ist die Berechtigung der Kunst im ge-sellschaftlichen Diskurs? Schon vor der Pandemie rannten die Künstler*innen den  ständig neuen Themen auf der Bühne und im Kino hinter-


 ZUKUNFT | 29  her, um up to date zu sein, und mussten immer mehr Geld selbst erwirtschaften, was zu Wohlfühltheater und zur Förde-rung von Unterhaltungskino mit pseudokritischem Anspruch führte und führt. Die Filmförderung ist immer noch eine Wirtschaftsförderung. Der künstlerische Film kann ja statt-finden, aber bitte nicht mit öffentlichem Geld. Die Theate-rensembles, welche ebenso unter Hierarchien und dem Ef-fizienzgedanken leiden, werden ausgequetscht, hampeln auf einer Guckkastenbühne herum und sind stolz, dass sie mal etwas Relevantes gesagt haben und wie radikal man doch die Verhältnisse angeprangert habe. Mit Idealismus kann man ganz gut fehlende Mitbestimmung, schlechte Bezah-lung, Diskriminierung und Rassismus aushalten. Aber was ist das überhaupt für ein Irrsinn wenn 300 oder 600 oder 900 Menschen auf so einen Rahmen schauen, in dem sich reale Schauspieler*innen abmühen? Was soll dieser Rahmen? Das mag in früheren Zeiten einen Sinn gehabt haben, weil man etwas exemplarisch rahmen konnte. Seht her, wir führen et-was vor, aber nicht, dass ihr denkt, das ist das reale Leben, dafür haben wir diesen Rahmen geschaffen und eine Büh-ne gebaut, damit ihr wisst, das ist Kunst! Wir sehen heute die ganze Welt nur noch durch Rahmen an. Selbst in der U-Bahn blicken alle auf ihre kleinen Handyrahmen. Sind The-ater und Kino nicht zum Symbol der konstituierten digitalen Rahmengesellschaft geworden? Oder meintest du, dass wir die alten Theaterhäuser und  Kinos zu Knotenpunkten eines künstlerischen Netzes um-denken und umbauen sollten? Sie könnten dann ein rea-ler Treffpunkt sein, die materialisierte Begegnung, aber das eigentliche Theater fände draußen statt, an den Fäden des künstlerischen Netzes, welches die Gesellschaft durchziehen müsste. Das könnte immer feiner gesponnen werden und je-des Zupfen am Netz ließe uns wie eine Spinne spüren, wo wir uns in der Welt befinden, was zu tun sei. Spinnen ha-ben ja keine Ohren und Augen, das Netz ist ihr Kontakt zur Welt, ihr Sinnesorgan. Wir könnten uns das für die Kunst zunutze machen. Wo wir doch auch taub und blind gewor-den sind in diesem unaufhörlichen Getöse der Debatten, der Medien, und dem Zwang zur Selbstoptimierung. Müssen wir Künstler*innen nicht die Wirklichkeit vor uns hertrei-ben? Aber soll man sich für etwas ruinieren, was institutio-nell so schlau verhindert wird? Hat unsere unsolidarische Ge-sellschaft nicht das, was sie verdient? Vielleicht ist Realismus das einzig Richtige. Zieht man die Decke weg, sind darunter Blut, Tod, Gewalt, Armut, Zerstörung und bald der Kollaps unserer Welt und all ihrer Bewohner*innen – der Tiere, der  Pflanzen, der Pilze und des Menschen. Und das will keiner sehen, geschweige denn dafür Geld ausgeben.  Herzlich, K. V. Am 15.03.2021 um 20.57 Uhr schrieb Claudia Lehmann Lieber K., zurück zu meinem Traum: Diese Knoten- punkte konnte ich aus meiner Vogelperspektive sehr gut se-hen. Es waren Schaltzentralen, die Erkenntnisse, Informatio-nen und auch Stimmungen einfach miteinander verbanden. Das mag jetzt nach esoterischer Zukunftsvision klingen, aber durch die Quantenmechanik steht uns die nächste Revolu-tion bevor, während wir noch mit schlechter Internetver-bindung versuchen, Homeoffice und Onlineunterricht zu bewältigen. Quantenkryptografie, Quantenteleportation, Quantencomputer. Es ist doch unsere Pflicht, die Zusam-menhänge in der Welt – eben mit unseren Mitteln – sichtbar zu machen?! Das könnte schon etwas verändern. Ja, es geht auch um das ganze Unrecht, das so groß ist, dass ein Leben nicht ausreicht, um es überhaupt zu benennen, geschweige denn daraus einen Film zu machen oder ein Theaterstück. Aber vielleicht etwas anderes. Etwas, das auch in 100 Jahren noch gesehen werden kann. Wir sollten etwas über uns, un-sere Welt und unsere Erkenntnisse weitergeben, überleben lassen, an ein Mauerwerk oder eine Höhlenwand kritzeln. Nur durch die Weitergabe von Wissen und auch den Bestand von Kunstwerken hat doch unsere Entwicklung stattgefun-den, konnten sich die nächsten Generationen ein Bild ma-chen und von den Vorgänger*innen lernen. Gut, das lohnt sich allerdings nur, wenn es ein Überle- ben überhaupt gibt. Da bin ich mir nicht ganz sicher, weil die Flammen schon ganz schön heiß geworden sind. Wichti-ger ist aber, dass wir mit der Kunst einen Anstoß geben, der überhaupt einen Diskurs ermöglicht. Wir müssen ein Modell, ein Kunstwerk aus dem System  in meinem Traum machen, eine Installation, als Schaubild, als Prototyp-Work-in-Progress, von dem man als Gesellschaft lernen kann. Du siehst es an und verstehst es emotional so-fort, wie das eben bei guter Kunst so ist. Und dann tauscht man sich darüber aus. Es ist ein großer Versuch! Ganz aufgeregt, Koko


 30 | ZUKUNFT  MAL EINFACH WEINEN BEI EINER BUNDESTAGSDEBATTE  VON CLAUDIA LEHMANN & KONRAD HEMPEL VI. Am 16.03.2021 um 7.55 Uhr schrieb Konrad Hempel Liebe Koko, die Idee alles miteinzubeziehen, die ganze  Welt künstlerisch im Raum als automatisierte selbstlernen-de Installation darzustellen, mit vielen losen Enden, die sich immer neu verbinden können, eine Installation, welche die Dinge und letztlich unsere Existenz in immer neuem Licht erscheinen lässt, ein Raum, der zu einem Objekt wird, be-stehend aus vielen Objekten und Projektionen, ein Raum, der über sich selbst hinausgeht und immer neue Räume er-schafft, bis er schließlich sein eigener Kontext wird und im-mer andere Varianten und Möglichkeiten eines Weiterlebens erschafft, eine Installation, die interaktiv das Verhalten der Besucher*innen miteinbezieht, ein filmisches Theater, wel-ches die Grenzen von Kunst, Wissenschaft, Politik, ja von uns selbst sprengt und eine unendliche Reflexion über das Sein – unabhängig von Zeit – bildet, benötigt ebenfalls unend-lich viel Zeit und geht auch nicht ohne Komplexitätsreduk-tion. Vielleicht muss es so was wie Diderots Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des mé-tiers aus dem Jahr 1751 sein – ein Mammutwerk, welches das Wissen der Welt zwischen zwei Buchdeckeln sammeln sollte. Damals war es eine Revolution, eine aufklärerische, aber was wir brauchen ist ja keine Sammlung, dafür sind die Biblio-theken und Wissensspeicher im Internet, die Server, welche mit Informationen vollgestopft sind, zuständig. Ich denke die ganze Zeit, dass so eine Installation ganz einfach sein müss-te, so wie E = mc². Einfach, schön, auf den Punkt. Das, wo-von du schreibst, klingt kompliziert. Wie soll man diese Ar-beit leisten, ohne sich zu ruinieren, wer möchte einem Geld für eine Idee geben, von der man nicht einmal weiß, was sie ist, geschweige denn, was am Ende dabei herauskommt? Ein Schwarzes Loch? Und dann die ganze prekäre Situati-on in der Kunst, alles dafür zu tun, um etwas beizutragen, nicht sinnlos seine Zeit verbracht zu haben. Wie soll man nicht profitable Projekte wie so eine Installation verwirkli-chen, wenn am Ende niemand erkennt, was man da versucht hat? Wir haben das ja schon oft getan – aus Notwendigkeit, wie wir glaubten. Ich bleibe unserer Gesellschaft gegenüber skeptisch. Ahoi von meinem sonnenbeschienenen Schreibtisch, K. VII. Am 17.03.2021 um 12.32 Uhr schrieb Claudia Lehmann Lieber K., wenn wir uns schon ruinieren, dann müssen  wir in Zukunft eben besser dafür sorgen, dass man auch sehen kann, wofür wir uns ruiniert haben. Im besten Fall für einen Ausdruck von Wahrheit! Für dieses Vorhaben müssen wir Al-gorithmen erfinden. Ich kann leider nicht so gut program-mieren. Wir müssen gemeinsam Leonardo da Vinci werden, und wenn wir das in persona nicht sein können, müssen wir gleichberechtigt in Teams zusammenarbeiten. Wir beide wis-sen schon zu gut, dass das nicht immer ganz einfach ist. Trotz-dem will ich an dem Gedanken festhalten! Wir expandieren über die Kunst hinaus! Wir brauchen Programmierer*innen, Hirnforscher*innen, Techniker*innen, Handwerker*innen, Landwirt*innen, Ingenieur*innen und viele mehr, so dass auch alles Nachdenken und Verknüpfen, das Abarbeiten an der Wirklichkeit, um die Wirklichkeit eben vor uns her-zutreiben, überall zugänglich gemacht und gesehen werden kann! Wir ruinieren uns dann gemeinsam. Oder wir schaf-fen es endlich, dass wir es uns leisten können, umsonst zu ar-beiten. Oder ist es besser, wenn man als Künstler*in etwas leidet? Ich könnte ja einen anderen Job machen, zum Beispiel ei- nen Tatort drehen. So erreiche ich in jedem Fall eine Menge Leute und ich könnte mir sogar eine(n) Babysitter*in leisten. Eine Leiche in einem Sonntagsabendkrimi perfekt in Szene zu setzen, will aber gerade nicht so richtig zu meiner Visi-on und diesem allumfassenden Projekt oder Experiment oder ‚unfinished process‘ passen, das alle bisherigen Formate über-winden muss. Wir suchen doch nach einem künstlerischen Ausdruck. Die Produktionsweisen und die Finanzierungs-modelle müssen dafür reformiert werden. Wir brauchen ein Oberhausener Manifest, eine Nouvelle Vague, ein Free Ci-nema, ein Free Theatre, ein Dogma 95, ein Dogma 20_13, Dogma 2022. Vielleicht schreiben wir das erst mal auf. Mit nachdenklichem Gruß, Koko VIII. Am 17.03.2021 um 22.01 Uhr schrieb Konrad Hempel Koko, du hast natürlich recht, wenn du sagst, dass man  sich engagieren muss, weil es sonst wahnsinnig leise um uns herum wird und auch langweilig. Es liegt wohl auch in der Natur der Menschen, schöpferisch zu sein, und das in Bezie-hung mit anderen. Gestern habe ich mir ein Interview mit Heiner Müller angesehen. Er hat Pascal zitiert, der sagt, dass 


 ZUKUNFT | 31  MAL EINFACH WEINEN BEI EINER BUNDESTAGSDEBATTE  VON CLAUDIA LEHMANN & KONRAD HEMPEL unser ganzes Unglück daher rührt, dass wir nicht allein sein können. Eigentlich heißt es – nicht ruhig in einem Zimmer verbleiben zu mögen. Aber warum Unglück? Er meint, weil wir sonst dem Unvermeidlichen, dem Tod ins Auge blicken müssten. Das versuchen wir ständig auszublenden und wür-den deshalb auch die Verknüpfung mit dem Computer su-chen, weil wir dann unsterblich würden. Aber das schöp-ferische Miteinander-Verbunden-Sein, Engagiert-Sein, ist, woher es auch immer rührt, trotzdem ein Teil unserer Exis-tenz. Jeder macht das auf seine Weise. Was wäre, wenn wir je-dem die Möglichkeit einräumten, Teil daran zu haben, schöp-ferisch zu sein? Wir würden andere Fortschritte machen! Die Kunst und die Wissenschaft waren ja schon immer  eng miteinander verbunden. Die Renaissancekünstler*innen haben selbst geforscht, Leichen seziert, versucht, zu verste-hen, wie das Wasser fließt, um korrekte Abbildungen ma-chen zu können. Bei den Griechen zählten auch Rhetorik, Geometrie und Dialektik zu den Sieben Freien Künsten. Was an Interpretationen unserer Welt dabei entstand, wirkte sich auch auf unser Selbstbild aus. So müssen wir heute verste-hen, was Maschinen, Algorithmen oder KI’s auszeichnet, sie in der Kunst befragen, gemeinsam mit Wissenschaftler*innen oder Computerspezialist*innen interagieren, um unser Men-schenbild zu hinterfragen und unsere selbstgeschaffenen Sys-teme. Da Kunst unsere Realität mitbestimmt, kann sie auch Erkenntnisgewinn produzieren! Meine Großmutter sagte im-mer zu mir, dass neue Kunst nur entstünde, wenn man neue Technologien einbinden und anwenden würde. Da hatte sie wohl Recht. Man kann alte Kulturtechniken anwenden und auch hier einen individuellen Ausdruck für die heutige Zeit finden, aber um zu verstehen, wohin wir uns bewegen, wer wir sind und wie unser Menschenbild sich zukünftig ver-ändern wird, sollten wir viel intensiver miteinander koope-rieren. Längst sind die Systeme und Ideen der Wissenschaft kunstartig geworden und die Kunst eine Art Wissenschaft. Wir müssen raus aus unseren Denkmustern und den alt- hergebrachten Institutionen. Wir müssen sie zu Begegnungs-stätten der Gegensätze in unserer Gesellschaft machen. Nach-barschaftszentren oder Maschinen, die andere Wirklichkeiten produzieren. Aber vielleicht sollte man damit beginnen, nicht alles steuern und regeln zu wollen, wobei ich damit jetzt nicht das neoliberale Konzept meine, sondern unser ständiges Bemühen, alles sortieren zu wollen, um das Leben und die Komplexität aushalten zu können. Wie wäre es, wenn wir ein filmisches Theater immersiv oder Probleme empathisch spü- ren und erleben könnten, wenn es Zeit gäbe, darüber nach-zudenken, und es nicht auf Quote, Profit und den nächsten großen Hype ankäme, wenn nicht unsere Coolness, sondern unser Nachdenken, unsere Einsamkeit, unsere Toten und un-ser einstiges Verschwinden ganz normaler Teil unserer mo-dernen Kommunikationsmedien wie Instagram oder Face-book würden. Emotionen in der Politik, mal einfach weinen bei einer Bundestagsdebatte, schlecht drauf sein. Wirkliche Poesie ohne Kitsch zwischen den Knotenpunkten – im Park-haus oder auf der Straße, ohne Ankündigung Tanzperfor-mances zu neuen Walgesängen. Statt Werbebanner im Netz Auszüge aus der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO. Statt Fahrstuhlmusik im Supermarkt Algorithmen vorlesen und aus den Lautsprechern dröhnen lassen, oder Gedichte von Bertolt Brecht szenisch lesen. Philosophie-vorlesungen am Fließband bei Mercedes Benz und VW. Das Fließband stoppen für die Fragerunde. Einfach auf die Ren-dite verzichten. Löhne aus freien Stücken erhöhen. Weniger Arbeitszeit, wenn man für den Nachbarn noch den Balkon streicht oder ihm ein Bild malt. Überall wo Bildschirme in der Öffentlichkeit hängen die Büroräume aller Geheimdiens-te samt den Mitarbeiter*innen vor ihren Bildschirmen zei-gen. Widersprüche zulassen und auf Bahnhöfen täglich zwi-schen den Abfahrtszeiten anzeigen, wie viele Kinder wieder verhungert sind. Es gibt sicher noch viel mehr, was möglich wäre. http://www.experimentalaffairs.com© Institut für experimentelle Angelegenheiten


 32 | ZUKUNFT  MAL EINFACH WEINEN BEI EINER BUNDESTAGSDEBATTE  VON CLAUDIA LEHMANN & KONRAD HEMPEL Jetzt muss ich erst mal das Chaos in meiner Wohnung  sortieren, weil mir sonst das nächstgrößere System aufs Dach steigt und mich alle Konzerne, für die ich freiwillig arbeite, kündigen. IX. Am 19.03.2021 um 10.12 Uhr schrieb Claudia Lehmann Liebster K., müssen wir unsere Systeme erst völlig zerstö- ren, abbrennen, um wirklich etwas zu verändern? Reformen – wissen wir alle – sind kompliziert und waren schon immer schwer durchsetzbar. Oder worum geht es in diesem Leben, bevor wir – der Schwerkraft enthoben – gen Himmel fahren? Ich werde nachher erst mal für meine 80-jährige Nachbarin einkaufen gehen. Sie lebt alleine. Ich nehme meine Kamera mit zu ihr, die Dame hat viel zu erzählen. Sie hat in Groß-britannien als Programmiererin gearbeitet … Du kannst mir ja ein paar Fotos, Zeichnungen oder Filmschnipsel schicken von deinem Versuch, unseren Institutionen gerecht zu wer-den. Vielleicht wird da ja was draus. Ich warte … CLAUDIA LEHMANN  ist promovierte Physikerin, Filmemacherin und Professorin an der  Universität Mozarteum Salzburg.   KONRAD HEMPEL  ist Bildender Künstler, Komponist und Musiker. Er lehrt u. a. an der  UDK Berlin und der Kunsthochschule Weißensee. Gemeinsam sind sie  das Institut für Experimentelle Angelegenheiten IXA in Berlin:   www.experimentalaffairs.com Der vorliegende Beitrag wurde in dem eben erschiene- nen, überaus empfehlenswerten Sammelband Ruiniert euch! Literatur, Theater, Engagement (Hg. von Christiane Lembert-Dobler, Manfred Rothenberger u.a.; starfruit publications, 2021) erstveröffentlicht. Der Abdruck erfolgt mit freundli-cher Genehmigung des Verlags.


 ZUKUNFT | 33  ELISABETH ÖGGL Reishi Detailaufnahme 3© Elisabeth Öggl 2019, www.elisabethoeggl.org


 34 | ZUKUNFT  SPOT ON A LONG ROAD  VON ZARAH WEISS Niemand ist auf der breiten, erdigen Straße, die Wiesen  neben uns verdorrt und gelb, nur einzelne Vorgärten gepflegt; ein Surren liegt in der Luft. Ich habe Gänsehaut an den nackten Beinen, die Klima- anlage des Campervans läuft auf Hochtouren; ich ziehe die Beine an und schlinge meine Arme um sie, blicke aus dem Fenster, „So verrückt, dass Du hier schon mal warst, vor acht Jahren“, sage ich noch einmal zu Alex, weiß nicht, wie oft ich es schon zu ihm gesagt habe, seitdem wir in den kleinen australischen Ort eingefahren sind; dieser Ort inmitten der Steppe. Einmal ganz herumgefahren sind wir in Schrittgeschwin- digkeit, am Ortsausgang markiert ein Schild die nächste Stadt: noch 70 km. Wenn wir später weiterfahren, wird da erst einmal 70 km  nur Steppe sein, immer tiefer ins Land hinein, so kommt es mir vor, dabei ist es nur ein winziges Stück. Alice Springs ist immer noch eine Tagesreise vom Ayers Rock entfernt, hat Alex erzählt, und diese unendliche Weite, die sich da auftut, lässt mich ganz erhaben fühlen; wir fahren und fahren und se-hen niemanden, nur Weite. Dafür bin ich doch hergekom-men, für diese Erfahrung, nicht für die Städte, sondern, um die Größe und Weite zu spüren. Im Radio laufen irgendwelche Dance-Charts, Alex hat  sein Handy angeschlossen und ich habe nicht protestiert; ich kurbele das Fenster etwas herunter, es ist mir doch zu kalt. Langsam strecke ich einzelne Finger aus dem Fenster, dann schließlich die ganze Hand, den ganzen Arm. Alex schaltet die Klimaanlage aus und starrt geradeaus, sieht nicht auf die Häuser, die langsam an uns vorbeiziehen, die leere Straße. „Wovor hast Du am meisten Angst?“, fragt er mich. Ich drehe ruckartig den Kopf herum, starre ihn an, er wirft  mir nur einen flüchtigen Blick zu, fährt weiter, ganz langsam. Noch nicht einmal aus dem Fenster schauen die Leute, um zu sehen, wer hier so elendig langsam durch ihren Ort fährt. Wovor habe ich am meisten Angst? Davor, allein zu sein  im Leben vielleicht? Davor, eine wichtige Person zu verlieren? Vor Kriegen, Hass, dem Wandel der Welt? Davor, eigentlich nicht gut in dem zu sein, was ich liebe, wodurch ich mich de-finiere, eigentlich gar nicht zu meinem eigenen Lebensplan zu passen? Davor, unglücklich zu sein, für immer, passiv, im Still-stand? Ich ringe nach Worten, um das ihm zu erklären und ei-gentlich denke ich, ist es wieder nur eins von seinen Spielen, seine Art, die eigene beste Freundin näher kennenzulernen. „Ja, ich weiß nicht“, sage ich leise. Wir fahren an einem  Springbrunnen vorbei. Eine grüne Rasenfläche, die einzige, die nicht vertrocknet scheint. Vielleicht eine Minute, ist es mehr, ist es weniger, sagen  wir nichts, biegen wir in eine neue Straße ein; schon längst geht es nicht mehr um den Weg zur Touristeninformati-on, der Handybildschirm mit dem Navi in meiner Hand ist schwarz geworden. Ohne Ziel fahren wir durch die Straßen, als könnten wir den Ort vom Auto aus ganz erkunden, ganz in uns aufnehmen, als müsste Alex sich vom Auto aus über-zeugen, dass er genau hier vor acht Jahren schon einmal war, an der Grenze zwischen den Blue Mountains und dem Out-back, eine gute Tagesreise von Sydney entfernt. Eine Fliege kommt laut surrend hereingeflogen, schwirrt  ums Lenkrad, knallt immer wieder gegen die Frontscheibe. Ich versuche sie mit der Hand hinauszuscheuchen. „Ich hab am meisten Angst davor, nichts zu hinterlassen“,  sagt Alex plötzlich in die Stille. Die Fliege setzt sich auf das Armaturenbrett, ich fixiere sie  Spot On A Long Road In ihrer prägnanten Erzählung überblendet die Autorin  ZARAH WEISS  die Lesbarkeit von Landschaften, (Charakter-) Eigenschaften und Körpern.  Spot On a Long Road reflektiert mit den Mitteln der Literatur und ihrer Geschichte, was es be- deuten kann, eine Gegend oder auch einen Menschen kennenzulernen – oder gar zu kennen. 


 ZUKUNFT | 35  mit meinen Augen, atme schwer. Ich sollte jetzt das Fenster schließen wieder, sollte einen geschützten Raum schaffen für dieses kommende ernste Gespräch – hier geht es überhaupt nicht darum, spielerisch mehr von mir zu erfahren, sondern um etwas Grundsätzliches, das ihm auf dem Herzen liegt – aber ich lasse es offen, lege die Hand auf das heiße Blech der Türe. „Weißt Du“, fängt er jetzt plötzlich ganz schnell an zu re- den und irgendwie nervt mich plötzlich die Art, wie er das sagt, ich weiß auch nicht, warum, mir wird warm, „weißt Du, ich will nicht vergessen werden. Ich hab Angst, dass ich nur mein Leben lebe und dann ist alles vorbei und ein paar erinnern sich vielleicht noch, aber die werden auch irgend-wann sterben und dann bleibt nichts mehr von mir übrig. Ich möchte etwas beitragen zu dieser Welt, ich möchte etwas schaffen. Ich möchte sie vorwärts bringen, so richtig weit! Ei-gentlich –“, er blickt mich an – „eigentlich möchte ich be-rühmt sein!“  Ha, will ich machen, will lachen, kann es gerade noch  herunterschlucken. „Ja!“, er schaut wieder nach vorne, „Ich will berühmt  sein, weil ich etwas geleistet habe; naja, halt auf jeden Fall nicht vergessen werde! Hast Du Dir mal überlegt, wie viele mehr tote als lebendige Menschen es gibt?“ Ich überlege ernsthaft. Wie lange gibt es die Menschheit  schon, wie viele sind seitdem gestorben, wie viele mehr Men-schen liegen unter der Erde als auf ihr zu laufen? Meine Fin-ger krallen sich um das Handy.  „Aber“, sage ich, „ist es nicht schön, wenn Deine Familie  und Freunde sich an Dich erinnern, wenn Du ihr Leben be-reicherst, wenn sie sich ihr Leben ohne Dich nicht vorstellen können – Hey, Du bist doch wichtig für mich!“ Ich streichle einmal fest, beinahe scherzhaft über seinen Arm. „Reicht es Dir nicht, für diese Leute was zu bedeuten?“ „Ja ja. Aber ich will für alle was bedeuten“, knurrt er und  drückt aufs Gas, fährt mit Vollkaracho auf einen ungeteer-ten Parkplatz an einem Teich. „Hier dran erinner ich mich noch!“, ruft er. „Lass uns hier mal aussteigen und rumlaufen!“ – und er hat sich schon abgeschnallt, die Türe schon aufge-rissen. Er dreht sich noch einmal um: „Im Grunde habe ich Angst vor Bedeutungslosigkeit. Jaja.“ Er nickt, zufrieden mit  der eigenen Antwort, die er für sich gefunden hat. „Angst vor einem bedeutungslosen Leben.“ Und raus springt er, weg ist er, läuft auf den Teich zu. Ich  schnalle mich langsam ab. Später, wir haben in einer kleinen Seitenstraße heimlich  geparkt, sparen uns die Kosten für einen Campingplatz. Über-all zirpen Grillen und es ist stockdunkel. Wir liegen sporadisch zugedeckt unter den Schlafsäcken, es ist zum Glück etwas ab-gekühlt. Ich sehe nicht einmal die eigene Hand vor Augen, hoffe, dass ich in der Nacht nicht aufs Klo muss.  Aufgeregt und entspannt zugleich, was für ein Erlebnis,  hier zu liegen, am anderen Ende der Welt. Ich lüfte ein biss-chen den Vorhang neben mir. Durch das Moskitonetz: der australische Himmel noch voll von den Sternen, die wir vor-hin bestaunt haben. Alex raschelt in seinem Schlafsack. „Ich glaube, Noa, ich  hab echt einfach richtig Angst vor dem Tod“, sagt er plötzlich. Ich öffne den Mund, weiß nicht, was sagen. „Aber … das  brauchst Du doch nicht“, sage ich ganz platt und dumm. „Ist aber so. Ich wünschte, es wär nicht so.“ Unser Atmen, ganz leise; Stille, Dunkelheit. „Darf ich  Dich küssen?“, fragt er plötzlich. Und er weiß schon, ich sage nein, „Nein“, sage ich. Gegenseitiges Grenzenaustesten. Es ist nicht einmal aufregend. Es ist ganz selbstverständlich. Aber wir geben einander so viel preis. Ich ringe immer noch nach Worten, die ihm deutlich machen, dass ich das ernst nehme, was er sagt. Vielleicht müssten es mehr Fragen sein. Aber da streichelt er mir schon einmal kurz übers Haar, gähnt tief und dreht sich dann um, mit dem Rücken zu mir: „Morgen musst Du mal sagen, wovor Du Angst hast.“ „Ja“, nicke ich eifrig. Und ganz leise: „Danke.“ Eine Minute später ist er eingeschlafen. ZARAH WEISS  lebt als Autorin und Literaturwissenschaftlerin in Wien.   Wiener Literatur Stipendiatin 2021. Exil-Literaturpreis 2021.   Zuletzt erschien ihre Erzählung  Die Kemenate (Czernin Verlag 2020).


 36 | ZUKUNFT  Yeastogramm Detailaufnahme 4© Elisabeth Öggl 2019, www.elisabethoeggl.org


 ZUKUNFT | 37  ELISABETH ÖGGL Reishi Detailaufnahme 4© Elisabeth Öggl 2019, www.elisabethoeggl.org


 38 | ZUKUNFT  DIE DUNKLEN JAHRE (AUSZUG)  VON FRIEDERIKE MANNER Daß die ‚Vaterländischen‘ sich vier Jahre lang halten wür- den, hätte 1934 keiner von uns für möglich gehalten. Die Lei-che Österreich stank schon, eh sie starb. Die Phantasielosigkeit der Menschen verschuldet das Leid,  das sie einander antun. Sie können sich nicht vorstellen, »wie es sein wird«, und dann gehen sie hin und tun es. Kann man ihnen daraus einen Vorwurf machen? Wir leben ja nur zum geringen Teil von Erkenntnissen, in der Hauptsache aus ei-nem blinden Lebenstrieb, der weder fragt noch voraussieht. Die meisten Menschen sind Optimisten, weil sie Angst vor dem Leiden haben, und daher sind sie feig und blind, und eben darum geschieht, was geschieht. Ob der gewalttätige Einbruch in Österreich zu verhindern  gewesen wäre, ist fraglich; wahrscheinlich nicht, da die mäch-tigen Nationen im Osten und Westen – ebenso blind wie wir – nicht zur Hilfe geneigt waren. Zwei Dinge aber müssen festgestellt werden: Selbst wenn jede Gegenwehr nutzlos schien, hätte sie ver- sucht werden müssen; man kann auch für Verlorenes kämpfen. Politiker werden dafür bezahlt, zu wissen, das heißt sich  vorzustellen, was unter gewissen Voraussetzungen geschehen wird. Als Schuschnigg am 8. März zur Wahl aufrief, horchten  selbst die Stumpfen auf. Es war ein Alarmruf, und die meisten wußten, worum es ging. Viele dachten – auch ich vermute-te es –, es würde zum Bürgerkrieg kommen. Daß Österreich kampflos fallen würde, Beginn einer langen Reihe unbluti-ger Eroberungen – dieser Gedanke war selbst den Pessimis-ten zu schwarz. Die Wirrnis dieser Tage wirkte zwiefach auf die Men- schen: die einen, zum Äußersten entschlossen, bereiteten sich zum Kampf vor, die andern, die große Mehrheit, fühl-te sich eingeschüchtert. Hätten sie gewußt, wie es ausgehen würde … der Vorwurf kann ihnen nicht erspart werden, daß sie es hätten wissen müssen. Fünf Jahre Nationalsozialismus in Deutschland hatten längst erwiesen, welch giftige Früch-te dort reiften. Reichstagsbrand und Dimitroff-Prozeß, Ver-folgung der Sozialisten, Juden und des besten Teils der Chris-ten, Konzentrationslager, Aufrüstung und Kriegsbereitschaft: dies alles war in Österreich bekannt geworden. Langhoffs „Moorsoldaten“, die „Weltbühne“, Rauschnings und Hei-dens Bücher konnten auch in Österreich gelesen werden. – Unrecht bleibt Unrecht, auch wenn Hunderttausende es tun,  Die dunklen Jahre  (Auszug) Die Wiederentdeckung von  Die dunklen Jahre ist ein Glücksfall für die österreichische Literatur, aber auch für die Exil- und  Erinnerungsliteratur ganz generell.  FRIEDERIKE MANNERS  autobiografisch gefärbter Roman berichtet auf ungeschönte  und überaus direkte Weise über den Zeitraum Februar 1934 bis Silvester 1945. Wir schätzen uns glücklich, den Leser*innen der ZUKUNFT einen Auszug aus dem historischen Text einer Zeitzeugin präsentieren zu dürfen. In diesem Fall wurden Dik-tion und Rechtschreibung der Quelle, die mittlerweile auch als Paperback-Edition vorliegt, beibehalten. FRIEDERIKE MANNER:  DIE DUNKLEN JAHRE HG. VON EVELYNE POLT-HEINZL Wien: Edition Atelier, 2021 424 Seiten / € 20 ISBN 978-3-99065-044-8 Erscheinungstermin: Februar 2021


 ZUKUNFT | 39  und keiner ist zu entschuldigen, weil es „die andern auch ge-tan haben“. 10. März: Wien ist in Aufruhr. Die Arbeiter reden von  Wiederbewaffnung des Schutzbundes, von Verhandlungen ih-rer Führer mit Schuschnigg und Schmitz, dem Wiener Bür-germeister; es ist unmöglich, das Unrecht und die Gewalt-tätigkeit dieser letzten vier Jahre zu vergessen; jetzt aber, im Augenblick höchster Gefahr, möge auch dies zurückgestellt werden. Später wollen wir darüber richten – aber unter uns! Die Abstimmung ist zu einem Teil bereits vollzogen. Den  Beamten des Staates, wohl auch jenen der Gemeinde Wien, wurden Sammellisten vorgelegt. Von einer »freien und gehei-men Wahl« kann nicht gut die Rede sein; auch darüber wol-len wir nachher sprechen – im Augenblick ist keine Zeit dazu. Fiebernd hängen wir am Radio und am Telephon. Der  Tag geht quälend langsam hin. Drei weitere Tage noch bis zur Abstimmung sind eine harte Nervenprobe; spätestens Montag wird der Aufstand der Nazi losbrechen. Zwei junge Männer – ich gehe hinter ihnen – tauschen  ihre Ansichten aus: »Aber geh mit der Abstimmung – was geht das uns an!« – „Wer weiß“, sagt der andere verächtlich, „ob es überhaupt zur Abstimmung kommt.“ Hitlergruß und Hakenkreuz, die unter Druck gestattet  worden waren, sind nun wieder verboten. Die Verbote wer-den nicht eingehalten, die ersten Abzeichen tauchen auf, Schimpfworte fliegen hin und her, Meinungen prallen hart aufeinander – aber noch ist nichts Irreparables geschehen. „Heute abend bekommen wir Waffen“, sagt ein früherer  Schutzbündler. „Dann werden sie sehen, die Hunde –.“ Mor-gen wird er mit „Heil Hitler“ grüßen … Nachmittags zwinge ich mich zur Arbeit. Ich habe einen  Pack Korrekturen zu lesen, mühselig fresse ich mich durch. Endlich bin ich so weit, daß ich Österreich, Deutschland, die ganze Welt und mich selber vergessen habe. In größter Samm-lung lese ich Wort für Wort, nach dem Grundsatz: Mißtraue allem! Der Fehler kann überall stecken. Es ist eine interessante Arbeit, ein Essay von Berdjajew über  die Persönlichkeit und ihre Bedeutung. Ich werde mit Christian darüber sprechen, denke ich, er wird mir manches erklären … In diesem Augenblick läutet das Telephon. Ich erwache  in eine von allen Seiten bedrohte Welt – Ruth ist am Appa-rat, ihre Stimme ist völlig unbetont: „Du weißt es also noch nicht –. Schuschnigg ist zurückgetreten. Seyß-Inquart hat die Regierung übernommen. Es wurde soeben im Radio durchgegeben.“ Sie wiederholt mir die Worte, die Schusch-nigg sprach, tapfere Worte eines bis dahin schwächlichen Mannes – tapfer freilich nur im Sinne unvergleichlicher Zi-vilcourage, fürchterlicher staatsmännischer Irrtum jedoch, der Österreich den Hals bricht. „Damit nicht deutsches Blut vergossen werde – “, wiederhole ich … und sehe plötz-lich Ströme von Blut fließen, unbenanntes Blut, das Euro-pa überschwemmt. In diesem Augenblick ist mir völlig klar, was in den kommenden Jahren geschehen wird, und ich sage bebend: „Ruth – das bedeutet ein Gemetzel unter uns, und dann Krieg –.“ Sie zögert ein wenig und sagt dann mit ver-haltener Stimme: „Es sind noch nicht alle Märzen vorbei –.“ Und hängt ab. Von nun an geschieht alles wie im Traum. Die Kinder hef- ten sich an mich, blaß und still – heute spüren auch sie, daß sie nicht Mittelpunkt der Erde sind und es niemals mehr wer-den können. Ernst kommt heim, geht nochmals fort, um eine Schwerkranke zu besuchen, kommt wieder – nein, nichts Neues, sie spielen immer nur Märsche, idiotische Musik, die die Nerven zerhämmert. „Geht ins Bett, Kinder – geht heute ohne mich, ich kom- me dann gute Nacht sagen –.“ Acht Uhr abends: Seyß-Inquart ruft deutsche Truppen ins  Land, „zu Hilfe und zur Aufrechterhaltung der Ordnung“. Aufweinend werfe ich mich auf Stellas Bett. „Mama,  kleine Mama, ist es denn so schlimm –.“ – „Ja, Stella mein, schlimmer, als wir uns vorstellen können –.“ Der Schlüssel an der Tür. „Weißt du es schon, Ernst –.“ –  „– – –. Bitte, bring mir etwas zu essen. Ich werde essen, trotz-dem –. Es wäre gut, wenn auch du –. Zwinge dich. Wir wer-den Kraft brauchen.“ Nichts, was sich sagen ließe. Die Kinder schlafen endlich.  Friedel stöhnt im Traum. Ich will die kleine Lampe doch wie-der anzünden – heute ist es besser, Licht in der Wohnung zu haben … oder nicht? Sollen wir alle Lichter auslöschen, damit sie denken, das Haus sei leer?


 40 | ZUKUNFT  DIE DUNKLEN JAHRE (AUSZUG)  VON FRIEDERIKE MANNER „Die Nacht der langen Messer“: ist es nicht diese, so ist es  eine andere. Von jetzt an kann eine jede es sein. Ich habe Angst; aber tausendmal größer sind mein Haß  und meine Mordlust. Ich möchte die Menschen erwürgen, die mir das bedrohen: das Nest, an dem ich jahrelang bau-te; jedes Stück ist mühsam zusammengetragen, abgespart, mit hundertfältigem Verzicht erkauft: das weiße Schränk-chen dort, in dem Stellas kleine Wäschestücke liegen, Frie-dels hübsche Couch, deren Decke ich selbst nähte – sie ist von abschattiertem Gelb und Braun mit ein wenig Blau, eine Farbenzusammenstellung, die ich in ganz Wien suchte; die Bettbezüge der Kinder habe ich selbst gestickt; ihre Kleid-chen, Höschen, Schürzen – alles, alles ging durch meine Hand, war einfach, hübsch, sauber, mit Liebe und Geschick gearbeitet. Ich bleibe vor dem Bücherschrank stehen: Silones „Brot und Wein“ ist Ruths letztes Weihnachtsgeschenk, den Goethe schenkte ich Ernst zum zehnten Hochzeitstag; die Bi-bel, das Alte Testament, kauften wir gemeinsam. Dostojews-kijs „Jüngling“ war Ernsts erstes Geschenk für mich. Nicht ein einziges unersetzbares Buch ist dabei – und dennoch hän-ge ich an jedem einzelnen Band, habe jeden viele Male gele-sen … Dies alles ist wie flatterndes Papier auf staubiger Straße, vom Winde hochgetrieben, in schmutzige Stücke zerflattert –! Dies ganze Heim, Puppe, Bild und Pferdchen, die Kopie von Rembrandts Selbstbildnis, die wir bei einem Besuch der Liechtenstein-Galerie erstanden (wie schwer fiel uns damals die Zehn-Schilling-Ausgabe), das gelbe Teeservice, die Kera-mikvase aus Kärnten – – es ist nichts mehr, nichts, wir werden gehen und den Kopf nicht danach umwenden! „Ernst – sollen wir fort – willst du nicht fort – – ich kann  mich schon wehren, und den Kindern werden sie doch nichts tun –.“ – „Euch allein lassen – – aber wenn du dich sicherer fühlst ohne mich, ich bin euch nur Last –.“ „Ernst – du bist wahnsinnig – nicht so, nicht so –.“ Doktor K. hat einen Wagen. Ich rufe ihn an, frage, ob er  nicht über die Grenze gehe, Ernst mitnehmen könne ... „Wie kommen Sie denn auf den Gedanken?! Ich habe doch nichts getan! Ich bin doch kein Verbrecher! Ich kann doch nicht al-les im Stich lassen!“ „Herr Doktor! Ich glaube, Sie sehen falsch. Wenn nicht  heute, dann werden wir morgen unsere Habe verlieren. Viel-leicht auch – – noch anderes. Preßburg wäre vielleicht vorzu-ziehen –!“ „Ich verstehe Sie gar nicht! Ich bin doch kein Verbrecher!“ „Das weiß ich bereits, Herr Doktor –.“ (Ernst wirft mir  einen mißbilligenden Blick zu.) „Ich werde doch nicht fortgehen! Wie ein Verbrecher –!“ „Gut, gut, Herr Doktor. Gehen Sie wieder schlafen, ver- zeihen Sie die Störung.“ Drei Monate später war der Mann, der „kein Verbrecher“  war, tot: in Dachau ermordet. „Ernst – – laß uns überlegen. Willst du allein fort?“ Mir  graut bei dem Gedanken, ihn allein in eine unsäglich feind-liche Welt zu schicken. Mitgehen, jetzt sogleich, das hieße: die Kinder aus dem Schlaf reißen, ein, zwei Koffer packen, zu Fuß an die Bahn (denn heut gibt es bestimmt kein Taxi) – – ja, und kein Geld. Ich habe fast nichts im Hause, und Ernst hat nicht viel mehr. Morgen wird mein erster Weg zur Bank sein … Ach, lächerlich ist dieses Bankkonto, diese jämmerli-chen paar hundert Schilling als Ertrag eines arbeitsreichen Le-bens! Wiederum schüttelt mich der Zorn, diesmal der Ar-mut wegen, in der wir leben. Unser Geld würde nicht für vier Wochen im Ausland reichen. „Überstürze nichts, Klara. In einigen Tagen werden wir  klarer sehen –.“ „Ernst – bei solchen Sachen sind die Grenzen noch ein,  zwei Tage passierbar, dann werden sie hermetisch geschlossen, und später kann zu spät sein –.“ „Sie werden zuerst auf die Reichen losgehen – bei uns ist  nichts zu holen. Politisch kompromittiert – das wissen nicht viele. Ruth wird auf jeden Fall schweigen. Wenn du aber sagst: die Kinder müssen sobald wie möglich fort, dann will ich dir recht geben. Zumindest für eine Zeit, bis wir selber im klaren sind – und damit sie uns nicht vergiftet werden.“ „Die Kinder – Ernst, wie sollen wir leben ohne die Kin- der, gerade jetzt –.“ Eine Vision: Ernst verhaftet, ich im Handgemenge mit den Räubern, die Kinder stehen schreiend dabei ... Das sind keine Wahnsinnshalluzinationen, dies alles ist möglich geworden ... „Wohin, Ernst, mit den Kindern …“


 ZUKUNFT | 41  „Setz dich hin und schreib: an Fritz in Zürich …“ So kam in jener ersten Nacht nach dem Einbruch der  Horde der Brief an „Fritz in Zürich“ zustande, der dann alles andere nach sich zog, einem fallenden Steinchen gleich, das Lawinen ins Rollen bringt. Als der Brief geschrieben war, waren wir beide zwar er- schöpft, aber ruhig und gefaßt. Wir wagten nicht, uns zu ent-kleiden. Das war die erste der Nächte, da wir in Kleidern schliefen, immer auf dem Sprung und in Angst vor der Dro-hung, der Drohung durch Menschen zuerst, später in Angst vor den Bomben … Doch drehten wir das Licht aus, damit die Nachbarn nicht  merken mögen, daß bei uns etwas „los“ sei. Ernst schlief gegen Morgen ein. Ich schrieb ein paar Zei- len, Frühstück für ihn und die Kinder stünde da und da, ich sei zu Mittag zurück; nahm das Scheckbuch und ging. Ein eisiger Wind – vorbei die milden Vorfrühlingstage.  Dieser Ostwind, der von den Steppen hereinweht, Eisnadeln vor sich her treibend, dieser Ostwind weht nur in Wien. Er ist das Gegengewicht zu dem lauen Westwetter, das Regen bringt und alles erweicht. Nach den allzu milden Frühlings-tagen jetzt die starrende Kälte – vielleicht ist nicht einmal das ein Zufall. An Stellas Schule hängt eine riesengroße Hakenkreuzfah- ne. Wo sie die bloß herhaben – so schnell über Nacht? Und ein Mann mit Hakenkreuzarmbinde davor, ein SA.-Mann! Das ist nun aber schnell gegangen, schneller, als sonst etwas in Ös-terreich zu gehen pflegt; alle Achtung! Eine Patientin von Ernst kommt des Weges, sieht mich  und geht rasch auf die andere Straßenseite; das fängt ja gut an. Ich muß an der Papierhandlung vorbei, der Inhaber schiebt gerade den Rollbalken hoch, dreht sich um und grüßt mit Schwung: „Heil Hitler!“ – Und er hat immer so sehr auf die Vaterländischen geschimpft – ich habe geglaubt, er ist ein Ro-ter. Wie kommt es, daß er den Laden schon öffnet – ach ja, er ist in SA.-Verkleidung, und er schmückt das Schaufenster mit Hakenkreuzen! Und ich treffe noch manchen und manche Fahne. Edith ist schon auf, als ich im Vorbeigehen hinauflaufe  und an ihrer Türe läute. Wir fallen einander um den Hals und weinen. Sie zwingt mich zu warten, bis der Kaffee fertig ist – er tut mir wohl, mir fällt ein, daß ich seit gestern mittag nichts mehr gegessen, nur unendlich viel geraucht habe. Bei der zweiten Tasse sehen wir uns an, und wieder fließen die Tränen. Robert, der breit auf seinem viel zu schmalen Sofa sitzt, dem Kaffee, den er liebt, hingegeben – Robert, der sich nichts anmerken läßt, sagt das zynische Wort, das mich weit mehr tröstet, als es alle großen Worte vermocht hätten, das Wort, das die sieben bittern Jahre überdauern und mir in dun-kelsten Stunden noch Kraft geben wird; das Wort des Hasses, tief in Ironie getaucht: „Weints net, Kinder. Österreich wird auch diesmal seine historische Mission erfüllen und den Bun-desbruder zugrunde richten!“ – Es kam dann freilich anders, Österreich versäumte seine „historische Mission“. Edith und ich gehen miteinander fort. Jetzt sind die Stra- ßen schon voll Menschen, und viele tragen Hakenkreuze. In der Straßenbahn das übliche Gedränge und Geschiebe, die Menschen sind erregt und gereizt. Ein dicker Mann steht vor mir, das VF.-Bandel im Knopfloch, ein anderer stößt ihn und sagt rauh: „Herr, habn S’ gschlafen heut in der Nacht?“ – „Nein!“ sagt der VF.-Mann mit Betonung und weist auf sein Bandel. Und so habe ich knapp vor Torschluß noch einen aufrechten „Schwarzen“ zu Gesicht bekommen. (Später wur-den es dann mehr.) Auf der Bank mußte ich lange warten; es waren auch an- dere so schlau wie ich gewesen. Ich hob alles ab, ließ nur ei-nen Rest von zehn Schilling auf dem Konto stehen. Den mochten sie haben. Gleich nachher wurden die Schalter ge-schlossen, die Auszahlungen für heute eingestellt. Da ich nun schon in der Stadt war, wollte ich auch in  den Verlag schauen. Vielleicht wußten sie dort etwas „Neu-es“. (Sieben Jahre wartete ich dann täglich auf das „Neue“, von einer Zeitung zur andern und von einem Wehrmachtsbe-richt zum nächsten.) Ich war fortwährend dem Weinen nah und so gereizt, daß  ich am liebsten jeden, der ein Hakenkreuz im Knopfloch trug, angesprungen und erwürgt hätte. Ich machte jeden einzel-nen dafür verantwortlich, daß es so gekommen war – und daß er sich damit abfand. »Damit nicht deutsches Blut vergossen werde«: als ob ein solches Leben überhaupt noch lebenswert wäre; als ob es nicht besser wäre, im Kampf zu fallen. Heute 


 42 | ZUKUNFT  DIE DUNKLEN JAHRE (AUSZUG)  VON FRIEDERIKE MANNER trifft die Verfolgung mich, morgen wird sie dich treffen. Und du wehrst dich nicht? Läufst in den Abgrund wie ein Schaf –! Im Verlag geht alles durcheinander. Fräulein Dierschütz,  Chefsekretärin, nicht mehr ganz junge Dame aus sehr gutem Haus, sitzt da und weint. „Wir sind selber schuld. Damals, 1934, hätten wir auf die Straße gehen und mitkämpfen müs-sen –!“ Wie man die Menschen doch falsch einschätzt – ich hätte ihr so viel revolutionäre Erkenntnis niemals zugetraut. Der alte Doktor Frank aber ist Optimist. „Wird nicht so  schlimm werden. Wir werden für Österreich ein Sonderstatut bekommen, so wie Danzig eines hat – dort können die Juden arbeiten und verdienen –.“ „Verdienen, Herr Doktor –!“ – „Ja freilich, meinen Sie  denn, von der Freiheit allein können wir leben – ihr jungen Leute, ihr übertreibt alles. Es wird schon nicht so schlimm werden –.“ – „Noch aus dem Grab heraus, Herr Doktor, werden Sie sagen: Es wird nicht so schlimm werden! ...“ – „Mein Gott, mein Gott, so ein junges Kind ... Da müssen schon ganz andere Schicksalsschläge kommen ...“ – „Welche denn noch, Herr Doktor – sehen Sie denn nicht, daß jetzt al-les andere kommen wird und kommen muß, Terror und Ver-nichtung und Krieg und Elend –.“ – „Mein Gott, wer wird denn so pessimistisch sein …“ Später kam er dann ins KZ., der arme Optimist, und hat  sicherlich ein wenig Pessimismus dazugelernt. Aber, gottlob, er kam doch auch wieder heraus: Jahre später bekam ich ein Buch in die Hand, in einem Emigrationsverlag erschienen, und er zeichnete als Herausgeber. Da sah ich ihn wieder vor mir, den Alten, nicht mehr ganz so fidel und darauf bauend, die Juden würden schon „verdienen“ können; müd und ge-beugt sah ich ihn, nicht recht begreifend, was da in die Welt gekommen war, doch zufrieden und dankbar, vielleicht auch ein wenig triumphierend, daß er nun doch das KZ. mit einem bequemen neutralen Land hatte vertauschen können. Den Chef sah ich nicht. Er sei heute noch nicht ins Büro  gekommen. Vielleicht käme er später, vielleicht auch – nicht mehr … Es war fast Mittag, als ich endlich heimfuhr. Rings um  mich wimmelte es von Fahnen, Hakenkreuzen, Armbinden, und das Horst-Wessel-Lied, gestern noch kaum gekannt, war mir schon zum Überdruß geworden. Ich begriff, daß eine  Fahne, ein Lied und ein Armbandel genügten, um ein ganzes Volk, ja eine ganze Welt in Rausch und Wahnsinn zu bringen. Und ich gelobte mir, niemals einer Fahne zu vertrauen und einem Lied zu glauben; und gelobte mir, niemals zu jubeln, wenn andere besiegt am Boden lägen. Hunger und Müdigkeit spürte ich nicht; seit Tagen zum  erstenmal kehrte ich in meine eigene Welt zurück, als ich so in der Straßenbahn fuhr und ein Gedicht mir einfiel: „’s ist lei-der Krieg – und ich begehre, nicht schuld daran zu sein.“ Ein Dröhnen riß mich auf. Flugzeuge kamen angebraust,  mehr und immer mehr, kreisten über Wien und erfüllten die Stadt mit Getöse. Das waren die deutschen Bomber, Bruder-grüße von draußen. Die deutsche Armee hatte ihren Sieges-zug angetreten. Bin ich wahnsinnig geworden oder sind es die Menschen  um mich? Besser, ich wäre es, die einen Fiebertraum träumt, geladen mit Grauen, das in Schwertgeklirr und Wogenprall sich über die Welt ergießt. Dies ist der Beginn: eine tollgewordene Menschenmenge,  die dem Usurpator, den sie vor wenigen Tagen noch bekämp-fen wollte, maßlos zujubelt; der Einzug Hitlers wird ein Tri-umphzug ohnegleichen. Von der Grenze bis Wien stehen die Menschen in dichtem Spalier, schreien, schreien, zerbersten fast vor Überschwang. – Nur von einem kleinen Gebirgsdorf, das weltabgeschieden ohne Radio und Telegraph lebt, kommt die Kunde, daß dort die Wahl, die Schuschnigg-Wahl, stattge-funden habe: 100 Prozent für Schuschnigg. Auf dem Heldenplatz stehen sie, die Helden, viele Stun- den lang, toben, heulen vor Begeisterung bei Hitlers und Seyß-Inquarts Reden. Das Radio bringt Tag und Nacht Be-richte des Freudentaumels, der Lärm schwillt ungeheuerlich, die Lüge braust empor, selbst im Weltall müßte dies alles noch zu hören sein. Der große Bruder ist endlich da, hält den kleinen – in Lie- be vorläufig – eng umschlungen: niemand merkt den Würge-griff. Später einmal – auch das sehe ich voraus – wird dies alles nie geschehen sein, nicht nur vor den mahnenden Blicken der Welt, auch vor sich selber werden die Menschen leugnen, daß sie jubelten. – Und nur ab und zu die bescheidene Äußerung eines reichsdeutschen Soldaten: „Warum jubelt ihr eigentlich? Uns geht ‚er‘ schon bis daher –!“


 ZUKUNFT | 43  Wo sind die Sozialisten Österreichs? Sie leiden nicht –  noch nicht –, noch wird Vergessen, Verzeihung, Verbrüderung gepredigt. – Und sind sie nicht bereit, sich zu verbrüdern? Die Juden aber leiden. Zwiegespräch-Reportage im Radio: „… Ihr Wiener freut  euch also, daß wir gekommen sind … Ach, das ist aber ’n fei-nes Willkommen gewesen!“ – „Ja, wir haben halt gelechzt nach diesem Tag, ich hab immer schon gsagt, der Führer wird uns nicht im Stich lassen –.“ (Folgt Verbrüderungsszene Nord-Süd.) „Sagen Sie mal“, schäkert der große Bruder, „ihr habt da doch auch ’ne Menge Juden, nich wah?“ – „Ja – da im zweiten Bezirk, da wohnen s’ beisammen, viel zuviel san s’ –.“ – „Na, und die ham wa heut ’n bißchen gekitzelt, nich?“ – „Ja …“, kichert das Radio-Mädchen, als ob es selber gekitzelt würde. Der Würstelmann: „In die letzten Jahr hab i gar ka Gschäft  net gmacht, aber heut warn meine Würsteln in aner halben Stund weg ...“ Das alte Mutterl: „Daß i das no erleb … jetzt kann i ruhig  sterben … daß i das no erleb …“ Österreich ist befreit! Viel Gefühlskapital wird in diesen Tagen investiert; wir  werden ja sehen, ob die Währung was wert ist. „Deutsch-arisches Geschäft“ – „Jüdisches Geschäft“ –  Bänke in den Parks: „Nur für Arier“ – Zettel an Cafés und Kinos: „Juden ist der Eintritt verboten“ – und: „Arier, kauft nur bei Arier!“ (Ja, Sprache ist eines Volkes große Beichte, sagt Weinheber.) Später wird das alles niemals passiert sein. Aber auf mein  gutes Gedächtnis können sie sich verlassen – auch die Staats- und Kirchenoberhäupter können sich darauf verlassen, die plötzlich ihr nationales Herz entdecken. Die Welt ist wie von Karl Kraus erfunden. Die Wahlen, 10. April 1938: 99.75 Prozent … Und der  erste politische Witz: Die Abstimmungskarte trägt zwei Krei-se; einen großen – ja – für die Kurzsichtigen, einen kleinen – nein – für die Weitsichtigen. In Perchtoldsdorf gibt es vier Nein-Stimmen. „Drei davon  haben wir schon“, triumphiert die Lokalzeitung … Die Abstimmung fand in den gewohnten Wahllokalen  statt, mit Vertrauensleuten, Beisitzern, allem, was dazugehört. Irgendwo weit hinten in einer Ecke steht eine Wahlzelle. SS., SA., HJ. ist zum Empfang bereit, zückt den Bleistift: „Sie brau-chen sich nicht in die Zelle zu bemühen. Sie können Ihr Zei-chen gleich hier machen!“ … Daheim sitzt Ernst, daheim sit-zen die Kinder … wenn ich mit Nein stimme, treffe ich sie daheim vielleicht nicht mehr an … Hat es auch nur den ge-ringsten Sinn, sich unter einen Panzer zu werfen und sich überfahren zu lassen? … Aber bis an mein Lebensende werde ich die Lüge bereuen, die Feigheit büßen müssen … „Deine Rede sei: ja, ja, nein, nein …“ Aber ich kann nicht! Ich kann nicht! … Erdboden, tu dich auf! … Triumph! Triumph! Die Zeitungen bringen … Sie bringen unter anderem  einen Aufsatz, in dem die Worte stehen: „In Chemie und Theologie ist Deutschland weltführend.“ (Mit Gott und Gift-gas werden wir siegen!) Sie bringen ein nettes Geschichterl von einem zweijäh- rigen Kind, das Schokolade zum Geschenk erhält. „Wie sagt man?“ mahnt die Mutter. – Das Kind streckt das Ärmchen hoch: „Heil Hitler!“ … Sie bringen einen Gerichtssaalbericht: dem Angeklag- ten, er ist Jude, wird Rassenschande zur Last gelegt. Er lebte zehn Jahre mit einer Frau zusammen, die er liebte, aber aus ir-gendeinem Grunde nicht heiraten konnte. Dem Gesetze fol-gend, trennte er sich von ihr; doch bat ihn die Frau, zurück-zukommen. Er kam, erlag der Liebe, wurde angezeigt. Die Frau flehte um seinen Freispruch. Er wurde zu einer mehr-monatigen Freiheitsstrafe verurteilt, unter Zubilligung von Milderungsgründen: ernsthafter Versuch, das Verhältnis zu lösen, keine egoistischen oder materiellen Motive, die lange Dauer der vorangegangenen Beziehungen. Der Staatsanwalt berief wegen zu geringer Strafe: die zehn Jahre dauernden Beziehungen könnten nicht als Milderungsgrund gewertet werden, im Gegenteil: das Verbrechen sei um so größer, weil es so lange dauerte. Juden werden verhaftet, verprügelt, ins KZ. verschleppt.  Jüdische Frauen werden aus den Wohnungen geworfen. Jam-mernd steht eine vor dem Beamten, fleht um Hilfe: „Wohin soll ich gehen –.“ Antwort: „In der Donau ist Platz genug!“


 44 | ZUKUNFT  DIE DUNKLEN JAHRE (AUSZUG)  VON FRIEDERIKE MANNER Eine alte jüdische Frau, die stundenlang in einem Amt ge- wartet hat, setzt sich auf einen Sessel. Eine junge Angestellte herrscht sie an: „Sie sind Jüdin, Sie dürfen hier nicht sitzen!“ Dies ist erst der Beginn: Diffamierung, Diebstahl, noch  unorganisiert, Raub, ab und zu auch Mord. Und was sagt Wien dazu? Wien schweigt! FRIEDERIKE MANNER  1904–1956 in Wien, Studium an der Universität Wien,  verheiratet mit dem Arzt Hans Brauchbar, zwei Kinder.  Erste Gedichtveröffentlichung im Februar 1938, kurz vor der   Emigration nach Jugoslawien. Nach 1945 arbeitete sie als Literatur- kritikerin und Lektorin. 1948 veröffentlichte sie unter dem Pseudonym  Martha Florian ihren autobiografischen Roman  Die dunklen Jahre.   Mit dem Schweigekonsens der Wiederaufbauzeit konnte sie sich nicht  abfinden und setzte am 6. Februar 1956 ihrem Leben ein Ende.   Der Abdruck des Textauszugs erfolgt mit freundlicher Genehmigung   der Edition Atelier, Wien.


 ZUKUNFT | 45  ELISABETH ÖGGL Yeastogramm Detailaufnahme 5© Elisabeth Öggl 2019, www.elisabethoeggl.org


 46 | ZUKUNFT  VERANSTALTUNGSANKÜNDIGUNG DIENSTAG, DER 21. SEPTEMBER 2021, 18:30 UHR: 75 JAHRE ZUKUNFT Anlässlich des Jubiläums der ZUKUNFT, die nun seit 75  Jahren erscheint, werden wir mit kompetenten Gästen die Geschichte unserer Zeitschrift, ihren (politischen) Aktuali-tätsbezug und auch die Zukunft der ZUKUNFT diskutieren. Dabei soll es um die Rolle und Funktion unserer Diskus-sionszeitschrift im Rahmen der Sozialdemokratie genau-so gehen wie um progressive Ideologie und Programma-tik. Welche Themen soll die ZUKUNFT aufnehmen? Welche Impulse sind nötig, um die Sozialdemokratie neu auszurich-ten? Wir laden unsere Leser*innen dazu ein, sich einzubrin-gen, Fragen zu stellen und mitzudiskutieren! DIENSTAG, DER 19. OKTOBER 2021, 18:30 UHR: GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE Seit jeher ist die Frage nach der (Un-)Gerechtigkeit der  Geschlechterverhältnisse eine, welche die Sozialdemokra-tie mit großem Engagement verfolgt. Geschlechtergerech-tigkeit ist auf so vielen Ebenen ein prägendes Thema, dass es aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet werden kann und muss. Diese Ausgabe der ZUKUNFT und die da-mit verbundene Diskussion stellt daher verschiedenste Fa-cetten dieser Thematik in den Mittelpunkt und zeigt auf wie vielschichtig der Diskurs sein muss, um nachhaltige Ände-rungen und Verbesserungen erzielen zu können. Wir freuen uns auf ein hochkarätiges Podium! Auf dem Weg in die   ZUKUNFT! Nähere Informationen und die Links zur jeweiligen Veranstaltung unter:  https://diezukunft.at/veranstaltungen/


 ZUKUNFT | 47  BESTELLUNG Kupon ausschneiden& einsenden an: VA Verlag GmbHKaiser-Ebersdorferstrasse 305/31110 Wien ICH BESTELLE "EIN LIED BEWEGT DIE WELT"7,90 € INKL. MWST ZZGL. VERPACKUNG UND VERSAND 2,00 € NAME: _________________________________________________________________ STRASSE: _______________________________________________________________ ORT/PLZ: _______________________________________________________________ TEL.: ______________________________ E-MAIL: _____________________________UNTERSCHRIFT: _______________________ ODER BESTELLUNG PER E-MAIL AN DEN VERLAG: OFFICE@VAVERLAG.AT SOLANGE DER VORRAT REICHT KAUM EIN ANDERES SyMBOL EINT DIE INTERNATIONALE ARBEITERBEWEGUNG SO STARK, WIE DIE 1871 IM NACH-REVOLUTIONäREN PARIS VERFASSTE „INTERNA-TIONALE“. IM ANGESICHT DER NIEDERLAGE DES FRANZöSISCHEN PROLETARIATS, WäHREND TAUSENDE KäMPFERINNEN UND KäMPFER DER COMMUNE VON DER REAKTION ERMORDET WURDEN, MACHTE SICH, äNGSTLICH IM VERSTECK SITZEND, EUGENE POTTIER DARAN EIN TROTZIGES, HOFFNUNGSFROHES KAMPFLIED ZU SCHREIBEN. SO ENTSTAND NICHT NUR DIE WELTWEITE HyMNE EINER STOLZEN BEWEGUNG, SONDERN EIN KAMPFLIED VON MILLIONEN BEWUSSTER ARBEITNEH-MERINNEN UND ARBEITNEHMER AUF DER GANZEN WELT.


VGA-BÜCHERFLOHMARKT im VORWÄRTS-HAUS:Sozialistica von Adler bis Zetkin Wie jedes Jahr: Das Archiv braucht Platz! Wir trennen uns von doppelten Beständen, Raritäten und Sammlerstücken. Dienstag 5. bis Freitag 8. Oktober 2021 • 10.00 bis 19.00 Uhr • Verein für Geschichte der  ArbeiterInnenbewegung (VGA) • Rechte Wienzeile 97, 1. Stock, 1050 Wien • www.vga.at